Hamburg. Zwölf Jahre lang sollte Klassik Drogenabhängige vertreiben. Die Hochbahn hält an Händel & Co. fest. Initiative gegen Zwangsbeschallung.

Stille in der Großstadt? Unmöglich. Großstadt heißt Lärm, Großstadt ist Radau, und Großstadt ist zunehmend: Musik. Immer und überall, ob man will oder nicht. Supermärkte, Kaufhäuser, Hotels, Flughäfen, Bars – alles wird beschallt. Und auch in Hamburgs öffentlichem Raum fällt es in steigendem Maß schwer, keine Musik zu hören. Der Politologe Rüdiger Liedtke nannte dieses Phänomen schon vor zwölf Jahren „die Vertreibung der Stille“. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit habe es eine vergleichbare akustische Glocke gegeben, schrieb er in seinem gleichnamigen Buch. Für Hamburg gilt das vielleicht mehr denn je.

Muzak nennt sich die Gattung der omnipräsenten Hintergrund- oder Fahrstuhlmusik. Ursprünglich sollte sie Atmosphäre schaffen, wo keine ist. Inzwischen fertigen Firmen wie Mood Media mit der Hamburger Deutschlandzentrale für mehr als 40.000 Geschäfte bundesweit passgenaue Akustikdesigns. Einprägsam, aber leicht zu ignorieren ist dabei nur ein Grundsatz. Abgeleitet davon ist die Regel: Nie schneller als 70 Beats pro Minute! Bloß nicht den menschlichen Puls beunruhigen. Es geht ja um Wohlfühlatmosphäre.

Chill-Out statt Klassik

In Hamburg prägend ist dabei der Klangteppich, den die Deutsche Bahn seit gut zwei Jahren am Hauptbahnhof ausrollt. Dort lautet neuerdings die gleichermaßen zeitgenössische wie entspannungsfördernde Devise: Chill-Out statt Klassik. Nach zwölf Jahren, in denen Streicher, Bläser und Pianisten den Vorplatz mit musikalischer Hochkultur beschallten, heißt es seit 2014: Roll over Beethoven. Reisende werden nun mit elektronischer Loungemusik empfangen. Gefällige Berieselung zur unterbewussten Steigerung des Wohlempfindens.

Kundenbefragungen, sagt Bahnsprecher Egbert Meyer-Lovis, hätten „eine positive Resonanz“ auf den radikalen Stilwechsel im Musikprogramm ergeben. Nach einer Pilotphase sei das Unternehmen deshalb dauerhaft bei fluffigen Beats und harmonischen Melodien geblieben, die Playlist werde ständig aktualisiert, nachts aber ausgeschaltet. Tagsüber beglücken anerkannte Künstler wie „Kruder & Dorfmeister“, „Nightmares on Wax“, „Anitek“ oder „Massive Attack“ die Gehörgänge der Reisenden.

Wobei es im Gewühl aus Obdachlosen, Stadtstreichern und Rucksacktouristen auch schon vorgekommen sein soll, dass Passanten die Hintergrundmusik eben nicht ignorieren konnten. Denn oft passt das Gehörte nicht zum Gesehenen, brennt sich die sonnige Klangkulisse wie eine surreale Verzerrung der Armutsrealität ins Gedächtnis.

Marktführer für emotionale Verbindungen

Aber wer kleistert uns die Ohren eigentlich unmerklich zu, wenn wir es nicht selbst mit epochalen Kopfhörermodellen zum Schwarzmarktpreis einer Elbphilharmoniekarte tun? Entscheidenden Anteil hat Mood Media, laut Eigenauskunft „weltweiter Marktführer für emotionale Verbindungen zwischen Marken und Kunden“ mit Sitz am Hamburger Wandalenweg. Im tiefsten Hammerbrook arbeiten 80 Mitarbeiter mit höchster musikalischer Expertise, weltweit sind es 2500.

Mood - Stefan Gill Creative Director
Mood - Stefan Gill Creative Director © HA / A.Laible

Während einige Firmen unverwechselbare Wiedererkennungsmelodien wünschen oder Kunden mittels Musik solange wie möglich im Laden halten wollen, liefert Mood Media für den Hamburger Hauptbahnhof eine „lebendige Playlist eines realen DJs“, wie Kreativ-Direktor Stefan Gill, selbst Simple Minds-Fan, sagt. Es sei jedenfalls keine monotone und computergenerierte Endlosschleife. Was sich die Deutsche Bahn diesen Service kosten lässt, wollen jedoch weder Mood Media noch der Auftraggeber selbst sagen. Bei 20 Euro im Monat fange ein Standard-Musikprogramm an, nach oben sei „alles offen“. 20.000 Geschäfte beliefere man in Deutschland.

Initiative wendet sich gegen Zwangsbeschallung

Heute kaum noch wegzudenken, begann die Geschichte der Hintergrundmusik der Legende nach vor 80 Jahren ganz klein im Empire State Building in New York City. Dort wurden die Aufzüge beschallt, um die Atmosphäre für Fahrgäste weniger zwanghaft zu gestalten. Der Name Fahrstuhlmusik kommt also nicht von ungefähr, das Prinzip wurde über Jahrzehnte verfeinert. Es galt, eine akustische Mittelwelle zu finden, die der größte Teil der Kunden als angenehm empfindet. Sogar Musikwissenschaftler und Psychologen waren am Werk. C&A beispielsweise unternimmt seit 1999 musikalische Kundenbeeinflussung.

Hören Sie mal, wo und wie in Hamburg Musik gemacht wird

Diesen Aufwand betreibt die Hamburger Hochbahn nicht. Sie setzt seit einigen Jahren auf klassische Musik, die wegen hoher dynamischer Kontraste kaum in Konsumtempeln eingesetzt wird. „Beethoven, Chopin, Händel oder Debussy“ kommen laut Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum zu Gehör. „Wir können nach Bedarf 58 von 91 Haltestellen beschallen“, sagt er. Haltestellenüberwacher sind für das Ein- und Ausschalten zuständig, etwa 20 Haltestellen würden wechselweise regelmäßig mit Musik versorgt.

Man fährt gleich erhabener Bahn

Einerseits zwangsbeschallt die Hochbahn ihre Fahrgäste an den Stationen, um das „subjektive Sicherheitsempfinden“ zu stärken, andererseits seien Menschen „ohne Fahrtabsicht“ mit dieser Musik leicht von einem längeren Aufenthalt an den Haltestellen abzuhalten. Die Aussage, klassische Musik vertreibe Drogenabhängige, will zwar niemand mehr so drastisch treffen. Dennoch ist festgestellt worden, dass die Szene verschwunden ist. Die Rückmeldungen der regulären Kundschaft auf das Musikprogramm jedenfalls seien überwiegend positiv, heißt es. Klassik suggeriert Größe, man fährt gleich erhabener Bahn.

Ob sich Musik wirklich positiv auf das Empfinden der Fahrgäste auswirkt, ist bislang aber nicht erwiesen. Daran hat die „Lautsprecher aus“-Initiative ohnehin ihre Zweifel. Sie richtet sich grundsätzlich gegen Zwangsbeschallung und propagiert die „akustische Selbstbestimmung“. Alle anderen tragen Kopfhörer oder haben sich daran gewöhnt oder damit abgefunden, dass jeder Supermarkt inzwischen seinen eigenen Radiosender hat. Zwischen den halbstündigen Reklameblöcken wird an Glückstagen auch mal ein Lied gespielt.