Hamburg. Alfred Stelter ist einer von 374 Hamburgern, die 100 oder älter sind. Aber wohl der Einzige, der viermal in der Woche schwimmen geht.

Das Warmwasserbecken im Schwimmbad Ohlsdorf ist 80 Zentimeter tief und für kleine Kinder und Nichtschwimmer. Oder für sehr alte Männer wie Alfred Stelter. Der steigt hier viermal in der Woche ins Becken und schwimmt seine Bahnen – und ist wohl Hamburgs aktivster 100-Jähriger.

Dass er im 32 Grad warmem Wasser schwimmt, statt in dem vier Grad kühleren großen Becken, hat nichts damit zu tun, dass er mit dem Alter empfindlicher geworden ist. Keinesfalls. Das Schwimmen im Kinderbecken hat rein praktische Gründe: „Im großen Becken ist es mir zu voll“, sagt Herr Stelter, als er nach einer halben Stunde Schwimmen geduscht und wieder angezogen ist. Der frühere Bauingenieur, der den Erdkampsweg asphaltiert und Platten am Neuen Wall nach dem Krieg verlegt hat, noch bevor dort die Häuser wieder aufgebaut wurden, ist hier, weil er Sport treiben und nicht herumplanschen möchte. Dieser Herr im beigen Wollpulli und dem modischen weiß-rot-gestreiften Hemd hat gestern seinen 100. gefeiert? Schwer zu glauben.

Alfred Stelter ist der "Liebling im Schwimmbad"

In dem Jahr, als Alfred Stelter in Walsrode in der Lüneburger Heide geboren wurde, starb Kaiser Franz Joseph I., österreichisch-ungarischer Monarch. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. verleiht in dem Jahr Oberstleutnant Paul von Lettow-Vorbeck, dem Kommandeur der Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika, den Orden „Pour le mérite“.

Alfred Stelter könnte diese Daten mit mehr Inhalt füllen. Er ist Hobby-Historiker, einer, der viel von früher zu berichten hat und doch im Hier und Jetzt lebt. „Herr Stelter ist der absolute Liebling im Schwimmbad“, sagt sein Schwimmpartner Siegfried Flesch. Er weicht vom Durchschnittshundertjährigen ab – 374 jenseits der 100 gibt es in Hamburg. Stelter hat ein Handy, recherchiert per iPad im Internet, die Spiele des HSV guckt er über einen Bezahlsender, den er abonniert hat. Seine Meinung zur HSV-Krise? „Das ist eine Katastrophe. Nicht die Spieler sind schuld. Das liegt an der Führung.“ Alfred Stelter weicht so sehr ab von anderen alten Menschen, dass er nach zehn Jahren aus einer Studie zur geistigen Fitness von Senioren rausgeschmissen wurde. „Ich war zu gut“, sagt er und lacht.

Über seine Wehwehchen will er sich nicht beschweren

Klar habe er Wehwehchen und Zipperlein, aber er würde sich darüber nie beschweren. Er geht am Stock und ist draußen mit seinem Gehwagen unterwegs, mit dem er nicht hadert, sondern den er praktisch findet. Seinen Führerschein hat er noch, aber er fährt kein Auto mehr. „Ich komme doch auch überall so hin.“

Herr Stelter wohnt allein in seinem Haus in Fuhlsbüttel. Seine Tochter besucht ihn regelmäßig, sein Sohn lebt mit der Enkelin in Lissabon. Herr Stelter kocht sich mittags Eintöpfe oder Fischgerichte, aber nichts mit Schweinefleisch, weil das ungesund für ihn ist. Er geht viermal morgens um 8 Uhr schwimmen – nicht mehr täglich wie noch vor einem Jahr, weil er auch mal ausschlafen möchte. Er besucht jeden Tag eine Seniorenbegegnungsstätte, um zu klönen und andere Alleinstehende zu treffen. „Ich bin ein positiver Mensch und kontaktfreudig“, sagt er. Ungefragt erzählt er, dass er nie geraucht oder „gesoffen“ hat, immer gesund gelebt und mit seiner Frau Annelore in den Alpen gewandert ist. Dass es in 100 Jahren auch traurige Momente gab, ist klar. Seine erste Tochter starb, als sie ein Jahr alt war – er hat sie nie gesehen, weil er in englischer Kriegsgefangenschaft war. Einer seiner zwei Söhne erlag mit 37 Jahren einer Krebserkrankung, und 2002 verlor er seine Annelore. „Das ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken“, sagt er. Was er auch gern sagt, ist: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“

Sein Glaube hat ihm in schwierigen Zeiten geholfen

Herr Stelter war Wehrmachtssoldat und hat den Krieg miterlebt. Über den Krieg hat er vor Schülern am Gymnasium Alstertal gesprochen. „Das sind Wohlstandskinder, die sich das nicht vorstellen können“, sagt er und meint das nicht böse. Es ist einfach so. Sein Glaube habe ihm in schwierigen Zeiten geholfen: „Wenn da oben nicht jemand auf mich aufpassen würde, wäre ich längst nicht mehr hier.“

Sein Wunsch? „Friede und Freiheit.“ Angst hat er vor einem Zusammenbruch der EU. „Europa muss zusammen bleiben. Ich bin in erster Linie Europäer, und das darf auch nicht anders werden“, sagt er. Ein kluger Mann eben.