Osdorf. Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank kam zum Gratulieren. Die Jubilarin erzählt von einem bewegten Leben – und den Klitschkos.
Abends geht es Lydia Smuda am besten. Sie trinkt dann gern ein Glas Wein. Das weckt die Lebensgeister der Frau, die am Sonntag ihren 110. Geburtstag feierte – die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) kam zum Gratulieren vorbei.
Es steckt noch viel Leben in der kleinen zierlichen Dame. Sie hört vielleicht nicht mehr ganz so gut, und dann ist da noch dieses „dumme Ding“ – der Rollstuhl, auf den sie angewiesen ist. Aber ansonsten ist es fast nicht zu glauben, dass Lydia Smuda bereits elf Jahrzehnte erlebt hat. Sie ist gewitzt, erinnert sich an mehr als viele Menschen, die nur halb so alt sind, und sie kann Geschichten erzählen. Viele Geschichten aus einem langen und bewegten Leben.
In einem grauen Kasten auf dem Sofa befinden sich Fotos. Auf schwarz-weißen Aufnahmen blättert sich Frau Smuda durch das Leben. In 110 Jahren hat sie viel geweint und gelacht, hat Schicksalsschläge, ihre eigenen und die anderer ertragen, hat geliebt und gelitten. Frau Smuda weiß, was Hunger und Leid bedeuten. Sie hat gleich zwei Weltkriege miterlebt.
„Furchtbar war das mit den Nazis“
„Furchtbar war das mit den Nazis“, sagt sie. Als sie noch Fräulein Berger hieß und als ausgebildete Erzieherin ein Kinderheim in Thüringen leitete, klopfte eines Tages einer von ihnen an die Tür. Ein General, der aufdringlich wurde, sie küsste und umarmte. Sie schmiss ihn kurzerhand raus. Noch am Abend bekam sie den Tipp, dass sie sofort fliehen sollte. Es drohte der Transport ins Konzentrationslager Dachau.
Ein Kinderarzt half ihr, brachte sie noch spätabends zum Bahnhof und wartete, bis der Zug kam. Auch er wollte mit seiner Frau in die USA fliehen. Zu gern hätte sich Frau Smuda bei ihrem Lebensretter bedankt. Doch sie konnte ihn nicht mehr ausfindig machen. „Ich wollte ihm doch auch das Fahrgeld schicken“, sagt die 110-Jährige, die es nicht loslässt, dass ihr Retter auch noch für ihr Ticket aufgekommen war und sie diese Schuld nie begleichen konnte.
Plötzlich stutzt sie. „Kind, essen Sie etwas!“, befiehlt Frau Smuda. Dass sie lange als Erzieherin tätig war, merkt man ihrem Ton noch heute an. Widerspruch ist zwecklos. Es gibt Schnittchen mit Lachs und Heringssalat. „Sie liebt Fisch“, erklärt Fitnat Soyka. Sie hat eingekauft, eine neue Flasche Wein mitgebracht und das Abendessen vorbereitet. Dreimal die Woche kommt Soyka ihre Freundin und Adoptivoma in der Seniorenwohnanlage in Osdorf besuchen. Die zwei Frauen sind ein einmaliges Team.
Lydia Smuda ist „Adoptivoma“
Vor 20 Jahren lernten sie sich kennen. Der Mann von Fitnat Soyka ist Arzt, Frau Smuda bei ihm in Behandlung. Im Flur der Praxis trafen sie aufeinander. „Mädchen, wer hat dich denn heute Morgen in diese Hose gesteckt?“, habe Frau Smuda damals die völlig verblüffte Soyka gefragt. „Sie fand meine Hose zu eng“, erinnert sich Soyka und lacht. Aus Sympathie wurde Freundschaft, aus Freundschaft Familie. Frau Smuda, die keine Kinder hat und deren Mann und Geschwister alle tot sind, wurde zur „Adoptivoma“ der Familie Soyka. Sie war bei der Taufe der Kinder dabei. Seitdem sind schon wieder zehn Jahre verflogen. Fitnat Soyka zeigt Fotos auf ihrem Handy. Zusammen mit den Kindern ging es kürzlich in den Zirkus. Frau Smuda war natürlich dabei.
„Haben Sie noch eine Frage?“, will Frau Smuda wissen. Oh, ja! Was einen brennend interessiert, wenn man schon einmal der ältesten Hamburgerin gegenübersitzt, ist doch: Wie hat sie das bloß angestellt? Was ist das Geheimnis ihres hohen Alters? Smuda lächelt. „Das will ich Ihnen mal sagen“, sagt sie mit erhobener Stimme und Zeigefinger. „Ich habe gar nichts dafür gemacht. Das ist einfach so gekommen. Kaum zu glauben, nicht? Aber es steht in meinem Pass, also müssen wir´s wohl glauben.“
“Vitali hat eine starke Linie“
Klar ist, dass ihr ein Glas Wein am Abend zumindest nicht schadet. Eine weitere Grundregel von Frau Smuda – sie schließt keine Bekanntschaften mit anderen in der Wohnanlage. Zumindest nicht mit denen, die nur über ihre Krankheiten reden und darüber jammern, was sie verloren haben. Frau Smuda befasst sich lieber mit ihren schönen Erinnerungen, sie liest täglich die Zeitung und schaut leidenschaftlich gern Boxen. Vielleicht, weil sie sich in ihrem Leben auch oft allein durchkämpfen musste.
Ein großer Fan ist sie von den Klitschko-Brüdern. Wenn die kämpfen, ist sie nicht mehr zu halten. „Vitali hat eine starke Linke, und Vladimir hat die böse rechte“, erklärt sie mit Leidenschaft und fügt hinzu: „Dass sich überhaupt einer erlaubt, gegen die anzutreten.“ Frau Smuda würde zu gern einmal einen von ihnen treffen. Ein Wunsch, den ihr auch ihre Freundin gern erfüllt hätte. Doch alle ihre Versuche scheiterten bereits am Telefon. Vielleicht wollte man ihr nicht glauben, dass eine 110-Jährige Box-Fan ist.
Und dann verrät die Jubilarin doch noch etwas. „Sie werden so alt, wenn Sie anständig durchs Leben gehen, anderen helfen und solche Freunde haben“, sagt sie und drückt den Arm von Soyka.
Ob wir uns zu ihrem 111. Geburtstag wiedersehen? Frau Smuda zuckt die Schultern. „Er entscheidet, wann ich nach Hause muss. Bisher hat er mich aber ganz schön lange dagelassen.“