Johannes Wiedeking pilgert mit 100 obdachlosen Hamburgern zum Vatikan. Papst Franziskus will mit ihnen einen Gottesdienst feiern.

Johannes Wiedeking schleppt die Kisten mit den Lebensmitteln aus dem weißen Lieferwagen und trägt sie in das rote finnische Blockhaus mit dem Grasdach am Nobistor. Hier ist die Alimaus zu Hause, seit 17 Jahren sowohl gemütlicher Aufenthaltsraum als auch eine beinahe Rund-um-die-Uhr-Essensausgabe für mittellose Menschen in Hamburg.

Seit sieben Jahren ist die Alimaus, zentrales Projekt des Hilfsvereins St. Ansgar, auch das Zuhause von Johannes Wiedeking. Als er im Sommer 2009 das erste Mal hierher gekommen ist, hatte er fast nichts mehr. Keine Wohnung, keinen Job. Und kaum noch Lebensmut. Johannes Wiedeking hatte sich in Kiel in den Zug gesetzt und war nach Hamburg gefahren. Er war am Hauptbahnhof ausgestiegen, zum Mariendom gegangen und hatte sich dort zum Gespräch mit Gott in eine Bank gesetzt. Er ist nachts durch die Stadt gelaufen und war tagsüber oft im Raum der Stille, die leise Antwort unter dem Hauptbahnhof auf die laute Welt dort oben. Er hat irgendwo draußen geschlafen und sagt, er sei damals ein halbes Jahr lang immer sehr nahe an den Gleisen gewesen. Bis ihm jemand zu Hilfe geeilt ist.

Nonnen und Schwestern haben ihn sein Leben lang begleitet

Vor 55 Jahren ist Johannes Wiedeking als Säugling im damaligen Bombay – heute Mumbai – in Indien ebenfalls auf der Straße gefunden und dann in einem Waisenhaus abgegeben worden. Er ist von Nonnen aufgezogen und mit dreieinhalb Jahren nach Deutschland adoptiert worden. „Nonnen und Schwestern haben mich im Grunde mein Leben lang begleitet.“ Johannes Wiedeking ist schmächtig, er trägt meist ein Cap, das die schwarzen Haare bündelt. Auf seiner blauen Schürze steht sein Name, hinter der großen Brille ruhen freundliche Augen. Es war ein sehr weiter Weg von Indiens größter Stadt, die damals schon vier und heute rund 13 Millionen Einwohner hat, nach Hamburg-St. Pauli.

Jetzt geht die Reise nach Rom. Zu Papst Franziskus. „Dem Kardinal der Armen aus Argentinien“, sagt Johannes Wiedeking. Er hat erst vor drei Wochen erfahren, dass er an der viertägigen Pilgerreise vom 10. bis zum 13. November teilnehmen kann. Gerechnet hatte er damit nie. Er kann sein Glück kaum in Worte fassen. „Sollte ich dem Papst sogar persönlich begegnen, werde ich wahrscheinlich umfallen“, sagt er.

Franziskus will eine Kirche für die Armen

Der Papst hat die katholische Kirche ziemlich auf den Kopf gestellt, seit er im März 2013 zum Oberhaupt der weltweit rund 1,2 Milliarden Katholiken gewählt wurde. Franziskus besucht Obdachlosenunterkünfte, feiert mit Bedürftigen an einem schlichten Altar Gottesdienst und hat für die Menschen, die auf den Straßen rund um den Vatikan leben, Unterkunft, Toiletten und Duschen sowie in der Nähe des Petersplatzes auch einen Friseur eingerichtet. Er lässt immer wieder Schlafsäcke und Geschenke an Roms Obdachlose verteilen.

Der Papst ließ die Geldwäsche-Affäre der Vatikanbank IOR untersuchen und betont stets: „Ich möchte eine arme Kirche für die Armen.“ Er fordert von der Kirche „einen Weg der Armut“. Gläubige, die nicht zum Verzicht bereit wären, seien „Zuckerbäcker-Christen mit schönen Torten, aber keine wahren Christen“.

Franziskus wird nicht müde, die entfesselte freie Marktwirtschaft zu kritisieren, in der die Menschen nur noch als Konsumgut behandelt, und daher „nicht bloß ausgebeutet und unterdrückt, sondern wie Müll weggeworfen werden“. Er geißelt lautstark das Gesetz des Stärkeren, das große Bevölkerungsteile in der Welt von Arbeit und Lebensperspektiven ausgeschlossen habe.

Franziskus hat seine erste Fernreise als Papst demonstrativ nach Lampedusa angetreten und dort deutliche Kritik an Europas Gleichgültigkeit gegenüber dem Flüchtlingselend geübt, mehr Solidarität eingefordert und mit den Geflüchteten gebetet.

Der erste lateinamerikanische Papst forciert ständig den Austausch und den Dialog mit anderen Religionen. Gerade hat er in Schweden mit einer historischen Geste eine weitere Annäherung zwischen Katholiken und Protestanten verlangt und die Gläubigen aufgefordert, sich nicht mit der Spaltung abzufinden. Zu Ostern hat sich der 79-Jährige nach seiner Gründonnerstag-Predigt vor katholischen Nigerianern, koptischen Eritreerinnen, einem Hindu aus Indien sowie Muslimen aus Syrien, Pakistan und Mali niedergekniet und ihnen die Füße gewaschen. „Der Papst“, sagt Johannes Wiedeking, „ist einer, der anpackt und auch Wasser trinkt.“ Der Papst wisse, „wie es da ist, wo ich herkomme“.

Wiedeking hat am katholischen Gymnasium Abitur gemacht

Mit 19 Jahren ist Johannes Wiedeking das erste Mal nach Bombay, ins heutige Mumbai, gefahren und hat mit dem Kampf um die eigene Identität begonnen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Er hat sich auf schmerzhafte Spurensuche begeben. Warum wurde ich ausgesetzt? Wo bin ich aufgewachsen? Das einzige, was er hinterher greifbar in der Hand hielt, war eine Karteikarte mit seinem Namen aus dem September 1961. „Da bin ich wohl erstmals in dem Waisenhaus registriert worden.“ Johannes Wiedeking feiert seinen Geburtstag jedes Jahr am 24. August. Seine leibliche Mutter könnte ihm genau sagen, wann er geboren wurde. So aber feiert er eben, seit er mit dreieinhalb Jahren nach Deutschland gekommen ist, jedes Jahr an diesem Datum im August den Tag seiner Geburt.

Johannes Wiedeking ist in Niederstadtfeld in der Vulkaneifel aufgewachsen. Er hat am katholischen Gymnasium in Mülhausen sein Abitur gemacht, war zwei Jahre bei der Bundeswehr, hat Chemie und Chemie-Ingenieurwesen studiert und 1991 sein Diplom abgelegt. Er hat in einem mittelständischen Betrieb im hessischen Ballersbach gearbeitet. Erst in der Produktion. „Und dann habe ich auch den Export mit aufgebaut.“ Er war Gefahrgutbeauftragter im Betrieb, er war im örtlichen Schützenverein, im Sportverein und im Gesangsverein. Er hat immer alles gegeben. „Ich konnte nie nein sagen.“ Konflikte hat er nicht ausgehalten und deshalb möglichst gar nicht est zugelassen. Irgendwann ist er vor Erschöpfung zusammengebrochen.

Dann hat sich Wiedeking einfach aus dem Staub gemacht

Aber Johannes Wiedeking hat sich wieder aufgerappelt und eine Stelle in Kiel angenommen. Als er den Chef nach wenigen Wochen vorsichtig nach Weihnachtsgeld gefragt hat, weil alle anderen Kollegen das ja auch bekämen, sei er zusammengebrüllt worden, sagt er. „Und am nächsten Tag hatte ich die Kündigung auf dem Schreibtisch.“ Da hat sich Johannes Wiedeking einfach aus dem Staub gemacht und in den Zug nach Hamburg gesetzt. Wie schlimm war das, wirklich alles hinter sich zu lassen und nicht zu wissen, was kommt? „Das war wie eine Befreiung.“

Am liebsten wäre er damals schnurstracks zu seiner Adoptivmutter gefahren. Doch Carla Wiedeking war schon fünf Jahre zuvor ganz plötzlich gestorben. „Ihr Tod hat mich das erste Mal ziemlich aus der Spur geworfen.“ Carla Wiedeking ist in einer Großunternehmerfamilie aufgewachsen, hat erst Medizin und dann Pädagogik studiert. Auf einer Reise nach Indien traf die Katholikin Mutter Teresa und gründete 1977 in Deutschland pro infante, einen Verein für Kinder in Not. Sie selbst adoptierte 17 Kinder und sprach immer von dem „größten Geschenk ihres Lebens“. Ihr Verein vermittelte mehr als 2000 Adoptionen und stand eine Zeitlang wegen „Adoptionen im Schnellverfahren“ in der Kritik. Carla Wiedeking hat dazu in einem Spiegel-Interview gesagt: „Wir würden niemals Kinder aus der Dritten Welt holen, nur weil hier Eltern danach schreien. Unsere Aktion heißt schließlich: ‘Kind in Not’ und nicht ‘Eltern in Not’.“

Hilfe vom Therapeuten und eine Familie in der Alimaus

Johannes Wiedeking sagt, er habe auch noch als Erwachsener seine Adoptivmutter regelmäßig besucht und konnte mit jedem Problem zu ihr kommen. Heute hat er sich damit abgefunden, dass er die immer wieder aufkommenden Fragen nach seinen Wurzeln wohl nie beantworten kann. Er hat sich Hilfe von Therapeuten geholt und sagt: „Ich kann das jetzt ruhen lassen. Andere können in ihrer Familiengeschichte manchmal zehn Generationen zurückgehen, ich kann das eben nicht.“ Er sagt, er habe jetzt endlich eine Familie gefunden.

Dazu gehören die Menschen und Kollegen in der Alimaus. Seit drei Jahren ist Johannes Wiedeking auch Lektor in der katholischen Gemeinde St. Theresien. Er liest in den Gottesdiensten die Lesungen und die Fürbitten. Die Kirche ist schon ein Leben lang an seiner Seite. „Ich habe auch meine Zweifel an der Institution“, sagt er, „aber in der Summe ist die Kirche ein angenehmer Begleiter.“ Vor allem sind es die Menschen, die er dort trifft. Johannes ist christlich-katholisch erzogen worden. Er war Messdiener, „und die Kirche ist einfach ein Teil meines Lebens“.

Es waren auch Menschen in der Petrikirche, die ihm vor sieben Jahre ihre Hilfe angeboten haben. Die ihn nicht aus den Augen ließen, als er ganz unten war. Und die ihm den Tipp gaben, zur Alimaus zu gehen. Und dort mit den Schwestern zu reden. „Ich musste Schwester Henrike jedes Mal in die Hand versprechen, dass ich am nächsten Morgen auch wiederkomme“, sagt Johannes. Und was man verspricht, sagt er, das müsse man auch halten.

Was erwartet er von der Reise nach Rom? Er freue sich vor allem auf die Begegnung mit anderen Wohnungs- und Mittellosen aus aller Welt. Er hat schon einige Pilgerreisen gemacht. „Und jedes Mal bin ich gestärkt und zufriedener zurückgekommen.“ Bei einer Pilgerreise begebe man sich immer auf die Suche. „Ich weiß, dass bei dieser Begegnung etwas mit mir passieren und dass die Reise Spuren hinterlassen wird“, sagt Johannes Wiedeking. „Positive Spuren“, fügt er hinzu. „Ich werde ganz viel mitnehmen.“

Die Reise nach Rom soll eine weitere spannende Etappe werden auf seinem krummen Weg zu sich selbst.