Hamburg. Das Buch „Hamburger Geheimnisse“ wurde vor zwei Jahren zum Bestseller. Zeit also für eine Fortsetzung: mit 50 neuen Geschichten.

Noch mehr Hamburger Geheimnisse? Viele Leser haben nach dem Erfolg des ersten Bandes eine Fortsetzung verlangt – und so haben sich die beiden Autoren Eva-Maria Bast und Sven Kummereincke erneut auf Spurensuche in der Stadt begeben.

Dabei machten sie erneut durchaus verblüffende Entdeckungen: Sie fanden Cowboys in Blankenese, britische Thronfolger in Dulsberg und französische Revolutionshelden in Poppenbüttel. Und es geht um steinerne Eheringe, vergessene Stadtteile, Hamburger Südseekolonien, Freddie Mercury, Miniaturburgen und vieles mehr.

Die Autoren hoffen, erneut den Geschmack der Leser getroffen zu haben. Und der Auftakt macht zuversichtlich, denn die erste Auflage des neuen Buches war binnen weniger Stunden ausverkauft – so viele Bestellungen aus dem Buchhandel waren eingegangen.

Da oben ist sie, sagt Georg Schulz und deutet auf eins der vielen Häuser, die sich hinter der St. Annen-Brücke erheben. „Das ist die biblische Oma.“ Gleich darauf muss er über diese so lapidare Beschreibung der Heiligen lachen. Aber es stimmt: Dort oben ist die heilige Anna dargestellt. Und die war gewissermaßen die Großmutter Jesu – die Mutter Mariens. An der Nordost-Ecke eines neogotischen Baus ist die Figurengruppe angebracht, sie zeigt die heilige Anna und ihre Tochter Maria, die sich wie ein kleines Mädchen an sie schmiegt. Bei diesem spätmittelalterlichen Kunstwerk wird durch den Größen- jedoch nicht der Altersunterschied dargestellt, sondern es geht um die „Bedeutungsgröße“: Anna ist diejenige, die Maria schützen kann.

Was machen die beiden Heiligenfiguren in der Speicherstadt? Georg Schulz, der sich als „Ur-Hamburger“ sehr für die Geschichte seiner Stadt interessiert, weiß es natürlich: „Sie erinnern an die 1566 gebaute St.-Annen-Kapelle, die früher hier stand. Die Kapelle war der heiligen Anna gewidmet, das Figurenpaar war Teil dieser Kapelle.“ Sie gehörte zur Katharinenkirche, und viel sei über die St.-Annen-Kapelle nicht bekannt, sagt Georg Schulz. Aber so viel doch, dass sie vermutlich als Leichenhaus errichtet wurde. „Denn um die Kirche herum befand sich, wie im Mittelalter üblich, ein Friedhof.“

Ein würdiges Begräbnis wurde Selbstmördern verwehrt

Und mit diesem hatte es eine ganz besondere Bewandtnis – es war ein Friedhof für die Pestopfer, die auf den anderen Friedhöfen keinen Platz mehr fanden. Auch jene, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatten, wurden hier bestattet. Früher zählte der Freitod als schwere Sünde, und ein würdiges Begräbnis auf anderen Friedhöfen wurde Selbstmördern verwehrt. Man habe den Platz auch „Arm’-Lüd’s Karkhof“, also Kirchhof, und „Arm-Sünder-Karkhof“ genannt, hat Georg Schulz in Otto Benekes 1853 verfassten Hamburgischen Geschichten und Sagen nachgelesen. Dieser schreibt, recht poetisch: „Aber auch die Überreste noch viel ärmerer Personen fanden hier ihre letzte Ruhestätte, nämlich solcher, die in der Sturmnoth des Lebens ihr leckes Schiff freiwillig und gewaltsam hatten scheitern lassen.“

Die Figur erinnert an die St.-Annen-Kapelle
von 1566
Die Figur erinnert an die St.-Annen-Kapelle von 1566 © Eva Maria Bast

Weiter führt er aus, dass es sich bei diesen um Unglückliche, um arme Sünder gehandelt habe, „denen man ein christlich Begräbniß in der Stille der Nacht gönnen mochte“. Als Beispiel führt er den „jungen Dr. med. Lucas Lambecius (des berühmten Professors Bruder)“ an. Der habe sich am 7. Mai 1661 „mit einem Federmesser fünf tödliche Wunden beigebracht“ und zwar „aus Desperation von wegen Liebessachen“. Vor seinem Tod habe er dann aber noch „unter aufrichtiger Reue das heilige Abendmahl genossen“.

Solange habe der Friedhof bestanden, bis Selbstmörder auf allen Friedhöfen bestattet werden durften. Die letzte Beerdigung auf diesem Friedhof sei eine denkbar tragische gewesen, schildert Schulz: „Man hat ein kleines Kind hier begraben, woran es gestorben ist, weiß ich nicht.“

1812 wurde der Friedhof schließlich geschlossen

Zu Silvester 1812 wurde der Friedhof geschlossen. Beneke schreibt, dass die Fläche „nach einigen Ruhejahren“ um die Hälfte verkleinert worden sei. Als er noch seine ursprüngliche Größe hatte, schildert Beneke, sei er von einer hohen steinernen Mauer umgeben gewesen. „Kletterte einmal ein neugieriger Junge hinauf (wobei immer einige zerbröckelnde Steine losbrachen), so blickte er jenseits hinunter auf einen stillen heimlichen Rasenfleck voll eingesunkener Gräber, mit einzelnen üppig wuchernden Gesträuchen. Unter einem großen Fliederbusch unfern eines herrlichen Seringenbaumes lag ein mäßiger Feldstein, sonst waren keine Grabmäler, keine Kreuze zu sehen.“

Und die Toten gaben wohl inzwischen auch Ruhe: „Daß um Mitternacht des Allerseelentages die Geister der hier bestatteten armen Sünder hervorkämen, und eine ausgeschlagene Stunde lang, still die Hände ringend, auf ihren Gräbern säßen, das wurde zwar damals noch hie und da erzählt, aber die Bewohner der Nachbarhäuser sagten: es möchte wohl lange vor der großen Belagerung stattgefunden haben, sie hätten dergleichen Spuk niemals erlebt.“

Der St.-Annen-Kirchhof wurde schließlich renoviert, dabei habe man den noch bestehenden Turm abgebrochen und einen neuen errichten lassen, erzählt Schulz. 1869, als die Straßen, die zum Sandtorkai führen, verbreitert wurden, musste die Kapelle schließlich weichen. Dass die Figurengruppe in der Speicherstadt steht, sei irgendwie schlüssig. Denn: „Sie ist nicht nur die Patronin der Bergleute, sondern auch der Schiffer und Kaufleute.“

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