Hamburg. Erste Gesellschaften bieten vorzeitige Auszahlung von renditestarken Lebenspolicen an. Hamburger Verbraucherschützer warnen.
Sandra S. war überrascht, als sie Post von ihrer Versicherung bekam. War ihre Lebensversicherung jetzt schon fällig? Beim Überfliegen des Schreibens konnte sie diesen Eindruck gewinnen. Die Hamburger Neue Leben schrieb ihr: „Ab sofort können Sie Ihr angespartes Guthaben sowie die Überschussanteile kurzfristig und einkommensteuerfrei abrufen“, heißt es in dem Schreiben, das dem Abendblatt vorliegt. Rund 10.500 Euro stehen sofort zur Auszahlung bereit. Sandra S. konnte das nur schwer einordnen, denn ihre Lebensversicherung läuft noch viele Jahre. Erst am Ende des Schreibens erfährt sie, dass es sich um ein „Serviceangebot“ handelt. „Wenn Sie sich nicht bei uns melden, wird Ihr Vertrag selbstverständlich weitergeführt und es bleibt bei dem regulären Ablauftermin“, heißt es abschließend in dem Schreiben.
Will die Versicherung versuchen, Kunden aus alten, noch lukrativen Verträgen zu drängen? Der Verdacht liegt nahe, denn rund 30.000 dieser Briefe wurden verschickt. Auch HDI und Targo haben Kunden solche Angebote unterbreitet. Sie gehören wie die Neue Leben zum Versicherungskonzern Talanx. „Renten- und Lebensversicherer scheinen Kunden loswerden zu wollen, die im Besitz von Altverträgen sind“, sagt Sandra Klug, Leiterin des für Versicherungen zuständigen Marktwächter-Teams der Verbraucherzentrale Hamburg.
Altverträge für viele Kunden eine gute Geldanlage
Die Marktwächter beobachten den Markt aus der Perspektive der Verbraucher. Hamburg ist zuständig für Versicherungen. Die Verbraucherschützer haben rund ein Dutzend solcher Fälle bereits registriert. Klug rechnet damit, dass weitere Anbieter diesem Beispiel folgen werden. Für die Versicherer sind die Altverträge eine Belastung, für viele Kunden aber eine gute Geldanlage.
„Verträge von privaten Lebens- oder Rentenversicherungen, die vor 2005 abgeschlossen wurden, sind für Verbraucher lukrativ. Sie werden steuerfrei ausgezahlt und haben zum Teil Renditen, die sich mit ähnlich sicheren Finanzprodukten heute nicht mehr erwirtschaften lassen“, sagt Klug.
Das wird auch am Vertrag von Sandra S. deutlich. Denn bis zum Ende der Auszahlung wird sich ihr Versicherungsguthaben noch auf mehr als 22.200 Euro verdoppeln. „Der Versicherungsvertrag ist bereits 20 Jahre alt“, sagt Klug. „Verträge aus dieser Zeit haben einen sehr hohen Garantiezins von vier Prozent, der auf die Sparanteile der Versicherung gezahlt wird. Da die Vertriebs- und Abschlusskosten für die Police bereits von den Beiträgen der ersten Jahre abgezogen wurden, haben die Verträge eine sehr attraktive Rendite.“
Auch eine sinkende Überschussbeteiligung der Lebensversicherer, wie sie sich seit Jahren abzeichnen, müssen diese Kunden nicht mehr fürchten. Denn der Garantiezins ist ihnen sicher, zumindest so lange die Gesellschaft nicht in eine finanzielle Schieflage kommt. Für Verträge, die in den Jahren 1994 bis 1999 abgeschlossen wurden, liegt der Garantiezins bei vier Prozent. Aktuell beträgt er für neu abgeschlossene Policen 1,25 Prozent und wird im nächsten Jahr auf 0,90 Prozent sinken.
Die Lebensversicherer leiden seit Jahren unter den niedrigen Zinsen am Kapitalmarkt. Selbst eine zehnjährige Bundesanleihe bringt keine Zinsen mehr. Gleichzeitig haben die Gesellschaften in ihrem Bestand viele Verträge mit noch hohem Garantiezins, den sie erfüllen müssen. Für die Versicherer sind solche Verträge eine Belastung. Wenn sich die Kunden vorzeitig davon verabschieden, ist das im Interesse der Gesellschaften. Die Neue Leben verweist darauf, dass sich die Kunden verstärkt mit der Flexibilität von Versicherungsverträgen beschäftigen. „Wir informieren nur jene Kunden, die einkommensteuerfrei über das eingezahlte Kapital verfügen können“, sagt ein Sprecher der Neue Leben. Das betreffe Verträge, die vor 2005 abgeschlossen wurden. Auch in den kommenden Jahren soll die Aktion fortgesetzt werden. „Die Neue Leben kann sämtliche Garantieverpflichtungen gegenüber ihren Kunden ohne Wenn und Aber erfüllen“, sagt der Sprecher.
Ähnliche Probleme haben die Bausparkassen
Noch elf Jahre lang müsste die Neue Leben die hohen Zinsen weiterzahlen, wenn Sandra S. ihren Vertrag nicht vorzeitig beendet. „Wir nehmen an, der Anbieter will mit Schreiben wie diesem teure Kunden loswerden. Das Interesse an der persönlichen Lebenssituation ihrer Versicherten scheint uns vorgeschoben“, erklärt Klug. Außerdem kritisiert sie, dass nicht über die Risiken einer vorzeitigen Vertragsauflösung informiert wird. Bei einer Lebensversicherung geht der Todesfallschutz verloren. Betroffene Kunden können sich an die Hamburger Marktwächter für Versicherungen wenden (fmw@vzhh.de). In keinem Fall kann die Versicherung den Vertrag von sich aus vorzeitig kündigen.
Ähnliche Probleme haben die Bausparkassen. Sie müssen auf Bausparguthaben auch noch hohe Zinsen zahlen und wollen diese Verträge loswerden. In diesem Fall ist die Rechtslage umstritten. Aber wenn die gesamte Bausparsumme angespart ist, stehen die Chancen schlecht, sich gegen eine Kündigung zu wehren.