Hamburg. Volkwin Marg hat auf der ganzen Welt gebaut – zu seinem 80. Geburtstag spricht er über die DDR, Hamburg und den Hafen.

Er ist einer der renommiertesten Architekten des Landes: Heute wirdVolkwin Marg aus dem Büro von Gerkan, Marg und Partner 80 Jahre alt.

Herr Marg, wenn Sie das Wort Hansestadt hören, an welche Stadt, an welches Gebäude denken Sie dann spontan?

Volkwin Marg : Zuerst an Danzig und an die dortige Marienkirche. Ich bin in der Mariengasse 51 aufgewachsen, direkt unter der Marienkirche. Als kleiner Steppke bin ich jeden Tag durch das Frauentor zur Mottlau hinunter gelaufen, dann zum Fischmarkt an der Radaune, den Günter Grass beschreibt, und dann in Richtung Schichau-Werft.

Ihr Vater war Pfarrer an der Marienkirche. Hat Sie dieses Bauwerk geprägt?

Absolut. Bei schlechtem Wetter spielten wir nicht auf der Gasse, sondern in der Kirche Räuber und Gendarm. Zwei Dinge haben mich dort besonders geprägt: Einmal das Altarbild von Hans Memling mit dem „Jüngsten Gericht“. Da habe ich sehr präzise gelernt, wie ein Teufel aussieht und wie es in der Hölle und im Paradies zugeht. Das Paradies fand ich langweilig. Da war die Hölle, wo die Teufel wie schwarze Kobolde mit ihren Dreispießen rumfuhrwerkten, viel interessanter, auch wenn ich manchmal schlecht davon geträumt habe. Außerdem hat mich an dieser riesigen Hallenkirche die gleichfalls riesige Orgel beeindruckt.

Gegen Kriegsende mussten sie fliehen, kamen in die sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR. Waren Sie als Pfarrerskind Außenseiter?

Ja natürlich, schließlich herrschte da Klassenkampf. Vor allem bis zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 wurde alles Kirchliche in der DDR diffamiert. Auf der einen Seite musste ich mich als Pfarrerssohn und Christ behaupten, gleichzeitig aber die ideologischen Konflikte in der Schule möglichst unbeschadet überstehen. Das war schwierig, durch diese Herausforderung habe ich gelernt, dialektisch zu argumentieren. Das hat mir sicher ganz gut getan, andererseits lebten wir damals unter einer permanenten Bedrohung.

Was hieß das konkret?

Zum Beispiel, wenn meine Mutter voller Angst zum Fenster rannte, wenn nachts ein Auto vor unserem Pfarrhaus hielt. Mein Vater hielt Marschgepäck bereit, um notfalls hinten über den Hof fliehen zu können. Wenn die Sowjets einen „Staatsfeind“ abholten, verschwand man auf Nimmerwiedersehen. War es die Stasi, dann konnten die Angehörigen immerhin nach ungefähr zehn Tagen herauskriegen, dass dem Verschwundenen ein schweres Verbrechen zur Last gelegt und er demnächst angeklagt werden würde. Diese „Habt-Acht-Stellung“, die ständige Gefährdung und Angst bekommt man als Kind mit. Wegen der Solidarität mit meinen Eltern gab es später nie einen Generationskonflikt.

Ihre Eltern sind immer im Osten geblieben?

Ja, mein Vater war später Pfarrer in Berlin am Prenzlauer Berg. Aber alle fünf Kinder sind in den Westen gegangen. Die Eltern konnten uns nicht unterstützen, das lief umgekehrt: Wir mussten unsere Eltern im Osten unterstützen.

Ging es für Sie um Freiheit, als sie 1957 nach Westberlin geflohen sind.

Der Grund war schlicht, dass ich in der DDR keinen Studienplatz bekam. Ich hatte eine nicht sehr vorteilhafte Beurteilung der FDJ-Leitung der Goethe-Oberschule in Ludwigslust …

Da haben Sie lieber im Westen studiert …

Ja, anders ging es nicht, aber zuerst musste ich das Abitur zum zweiten Mal machen, weil man das Ost-Abitur im Westen nicht anerkannte. Danach wollte ich so etwas wie Denkmalschutz studieren. In der DDR hieß das „Pflege des nationalen Kulturerbes“, was ich gut fand. In Westberlin haben sie darüber gelacht und gesagt: „So was gibt’s hier nicht du kannst entweder nur Architektur oder nur Kunstgeschichte studieren.“ Ich entschied mich für Architektur, weil ich das für praktischer hielt und bin damit glücklich geworden.

Sie sind später nach Holland gegangen, haben dort den Nachkriegsstädtebau kennengelernt, sind aber nicht nach Westberlin zurückgekehrt, sondern nach Braunschweig gegangen. Warum?

Weil inzwischen die Mauer gebaut worden war. In Braunschweig konnte ich ordentlich studieren, aber die Stadt war gegen Berlin ziemlich provinziell. Nach dem Examen wollte ich dort nicht bleiben und ging deshalb nach Hamburg, wo mein Studienfreund und Architekten-Partner Meinhard von Gerkan hinging. Ich fand den Hafen großartig und habe mich hier gleich heimatlich wohlgefühlt.

Wie haben Sie hier beruflich Fuß gefasst?

Wir hatten kein Geld, aber Ideen. Deshalb hatten wir Studenten bereits als „Unterseeboote“ für andere Architekten Wettbewerbsbeiträge gezeichnet und damit immer ein gutes Zubrot gehabt. Das war auch für die Architekten ziemlich erfolgreich. Angefangen haben wir in Hamburg übrigens mit einem Inserat im Abendblatt. Der zweizeilige Anzeigentext war: „Architekturzeichnungen liefern billigst. Chiffre“. Die erste Zuschrift kam von einem Taxifahrer aus Esteburg, der was an seiner Garage machen lassen wollte.

Es gab hoffentlich auch größere Aufträge.

Meinhard und ich haben darum gleichzeitig zwei Wettbewerbe für einen Architekten aus Bremen gezeichnet. Die waren beide erfolgreich. Er erwies sich als Ehrenmann und bot uns eine Arbeitsgemeinschaft an. Durch ihn haben wir das praktische Bauen gelernt. Das war übrigens der Vater unseres Hamburger Kollegen Jan Störmer.

Ihr erster großer Paukenschlag war der Berliner Flughafen Tegel. Wie sind Sie als so junge Architekten an diesen Auftrag gekommen.

Wir hatten zuvor schon das eine oder andere Wettbewerbsprojekt gewonnen und uns nun getraut, auch unter eigenem Namen an Wettbewerben teilzunehmen. Wir haben also beim öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerb für Tegel mitgemacht und bekamen den Ersten Preis. Das war für unser Anfänger-Büro ein Riesenprojekt. Die Auftraggeber riefen uns an, Telefon hatten wir immerhin. Und als sie zu uns nach Hamburg kamen, haben wir etliche Freunde und Kommilitonen zu uns geholt, Böcke aufgestellt, Tischplatten darauf gelegt und so getan, als hätten wir ein größeres Büro. Glücklicherweise wussten die Flughafenleute noch nicht, wie es in einem professionellen Architektenbüro zugeht.

Kommen wir ins Hamburg der Gegenwart. Die Elbphilharmonie wird im Januar eröffnet und die HafenCity, zu deren Vätern sie gehören, nähert sich auch der Vollendung. Haben sich alle Ihre Erwartungen erfüllt?

Für mich war der räumliche Zusammenhang im Städtebau immer wichtiger als die Einzelheit der Architektur. Zum ersten Mal seit 1945 wurde in Hamburg nicht mehr ein monostrukturelles Programm wie für die City-Nord oder die City-Süd vorgegeben, sondern ich konnte mir selbst eine urbane Nutzungsmischung zugrunde legen. Die war außerdem von Anfang an prozessual geplant und für schrittweises Wachstum. Die Speicherstadt im Hafen war der Nukleus in Form eines Großbaudenkmals. Wichtig war mir, dass die Hamburger Hafen- und Logistik AG mithilfe meiner Hochschulassistenten sich selbst eine Gestaltsatzung auferlegt hat, an die sie sich auch knallhart bis heute gehalten hat..

In Ihrem Entwurf hatten Sie eine Blockbebauung vorgesehen, jetzt sieht es anders aus.

Das waren offene Wohnblöcke im Maßstab der Gründerzeit in Eppendorf oder der 20er Jahre Moderne in der Jarre­stadt. Ich wollte, dass sich das Wohnen nach Süden und zum Wasser hin öffnet, nach Norden schließt und von dort auch erschlossen wird. Arbeitsstätten wollte ich nur dort haben, wo die Qualität zum Wohnen nicht optimal gegeben ist. Meine damalige Prinzip-Skizze war ein Schema, das im Detail natürlich noch zu differenzieren war.

Ist die HafenCity im Wachstumsprozess besser geworden?

Kann man sagen. So werden jetzt im Baakenhafen anteilig viel mehr Wohnungen gebaut, die man sich idealtypisch überall am Wasser hätte vorstellen können. Auch die Arbeitsstätten werden jetzt dort konzentriert, wo sie infolge der Geräuschbelästigung etwa an den Elbbrücken und den U- und S-Bahnstationen hingehören. Die HafenCity ist wie ein Kind, das man in die Welt gesetzt hat, das von vielen äußeren Einflüssen geprägt wird, gewissermaßen von vielen verschiedenen Pflegeeltern. Insgesamt finde ich die vitale Entwicklung sehr positiv. Den Hauptverdienst am Zustandekommen der HafenCity hat meiner Meinung nach der damalige HHLA-Vorstandsvorsitzende Peter Dietrich, der als unternehmerischer Pionier eine Schüsselrolle gespielt und dabei ein hohes persönliches Risiko auf sich genommen hat. Für mich ist er der eigentliche Held der HafenCity.

Hadi Teherani spottete einst über den „großen Würfelhusten am Wasser“ ...

Daran hat er selbst mitgewirkt. Die Reduktion der Baukörper und ihrer unprofilierten Fassaden auf eine pure kubische Bauweise, ist nicht nur die Folge einer verarmten architektonischen Formensprache, sondern auch einer Profitmaximierung, die nach US-Muster die Immobilienwirtschaft beherrscht.

Ist es nur ökonomisch bedingt? Oder spielt nicht auch Fantasielosigkeit eine Rolle?

Die ökonomischen Rahmenbedingungen schaffen leider ein Alibi für Fantasielosigkeit. Die Architekten sind zwar nicht fantasieloser als früher, aber nicht mehr mit formsprachlichen Traditionen vertraut. Dadurch ist der Reichtum der Ausdrucksmöglichkeiten verloren gegangen. Wir alle sind von der ‚Kulturrevolution‘, der sogenannten Moderne des 20. Jahrhunderts geprägt worden, die das Ornament als Verbrechen abqualifiziert hat. Ich selber habe als Student meinem verdutzten Vater vorgeschlagen, in seinem Pfarrhaus die hohen Stuckdecken niedrig abzuhängen.

Wieso lassen wir es uns eigentlich gefallen, dass unsere Städte im Interesse von Investoren verschandelt werden?

Auch Investoren sind Ausdruck unserer Gesellschaft. Und Architekten verhalten sich leider häufig wie die Frisöre der Investoren, um es ganz hart zu sagen. Das eigentliche Problem ist nicht das kubische Bauen, das kann man auch hervorragend gestalten. Sehen sich das wunderbar proportionierte Jenischhaus im Jenischpark an, einen edleren Würfel können Sie sich gar nicht vorstellen. Da stimmen alle Proportionen und der zurückhaltende Zierrat miteinander überein, da stimmt einfach alles. Die neue Architektengeneration hat noch nicht einmal die Proportionsregeln des goldenen Schnittes gelernt, aber sie hat Computer, mit denen sie alles machen kann. Das Problem ist aber, dass man auch mit dem besten Werkzeug nur so viel kultivierte Gestaltung zustande bringt, wie sie uns als tradierte Kultivierung in der Ausbildung beigebracht worden ist. Für meine Generation wurde noch die Devise ausgegeben, erst einmal alles zertrümmern, damit man alles neu machen konnte. Stellen Sie sich mal vor, man ginge mit der Sprache so um.

Durch die HafenCity und künftig auch das neue Hafenmuseum entdeckt Hamburg seine maritime Seite neu. Welche Chancen bietet die Hinwendung zum Wasser?

Enorme Chancen! Es gibt in der Welt keinen anderen Seehafen mehr, der inmitten einer Stadt und fernab der Küste am Fluss liegt, 100 Kilometer landeinwärts. Wenn es hier nicht nur um ökonomische, sondern auch um ästhetische Gesichtspunkte ginge, würde ich allein schon deswegen diese Hafensituation unter Denkmalschutz stellen lassen. Hamburg ist welteinmalig, auch wenn das den Hamburgern nicht immer bewusst ist. Nirgendwo sonst gibt es eine solche Konfrontation zwischen maritimer Industrielandschaft und Stadt. Selbst Hongkongs Hafenambiente wirkt im Vergleich zu Hamburg langweilig. Dort können Sie im teuersten Hotel sein und nach Kowloon rüberschauen, so etwas Lebendiges wie hier wird Ihnen dort nicht geboten, weil da nicht mehr viel auf dem Wasser passiert, außer ein paar Fähren und Kreuzfahrtschiffen. Dort ist der vitale Frachthafen weit weg verlegt worden, hier ist er mitten in der Stadt.

Und der Sprung über die Elbe?

Der muss unbedingt sein, und zwar hinten, jenseits des Alten Elbtunnels vor den Elbbrücken, wo der zu flache Hafen sich nicht mehr modernisieren kann. Olympia wäre eine riesige Chance für die Kombination und Finanzierung von Stadt- und Hafenentwicklung gewesen. Es ist ein Desaster, was unser Senat, fast wie David Cameron mit seinem von oben inszenierten Hamburger ‚Olympia-Brexit‘, angerichtet hat. Solch eine komplexe Entscheidung taugt nicht zur Simplifizierung durch einen Volksentscheid. Die große Leistung von Oberbaudirektor Jörn Walter war es, Wilhelmsburg von einem Problemviertel in ein Vorzeigeviertel umgewandelt zu haben. Jetzt muss noch über die Elbe hinweg die fehlende Lücke im Anschluss zu HafenCity und Altstadt geschlossen werden: Auf den riesenhaften, schlecht genutzten Flächen im mittleren Hafen, wo demonstrativ Schrotthaufen liegen, muss in die Modernisierung des Hafens investiert werden. Alle Voraussetzungen dafür sind da. Finanzieren ließe sich das durch die Urbanisierung der Hafenflächen auf dem Kleinen und Großen Grasbrook. Ich halte es für einen Kleinmut sondergleichen, nach dem ‚Hamburger Brexit‘ auch noch mit der Erklärung, die Stadt werde dort auf eine urbanistische Entwicklung verzichten, vor der Zukunft zu fliehen. Das darf es nicht sein.

Wenn Sie für Hamburgs Entwicklung drei Wünsche frei hätten. Welche wären das?

Erstens: Ein Deutsches Hafenmuseum an den 50er-Schuppen mit der „Peking“ als Landmarke und einer attraktiven maritimen Verbindung, die man sich noch ausdenken muss. Zweitens: Die Erschließung des mittleren Hafens als städtebauliches Entwicklungsgebiet. Und vielleicht auch die Überwindung der Ost-West-Straße, die sich leider realistischer Weise nicht mehr verlegen lässt, durch intelligente Lösungen. Das können städtebauliche Aufwertungen an mehreren Stellen sein, einige Brücken, Unterquerungen, Furten und andere Querungen, mit denen man das Trennende zwar nicht ganz aufheben, aber doch erheblich abmildern kann. Außerdem könnte man sogar die Ost-West-Straße selbst städtebaulich deutlich aufwerten. Damit wäre schon viel gewonnen und der Pastor von Katharinen, der die Straße mit einer sympathischen Aktion jetzt kurzzeitig blockiert hat, hätte schon eine ganze Menge Positives angestoßen.