Hamburg. Vor 50 Jahren ließ Ingrid Bubert auf dem Heiligengeistfeld einen roten Ballon steigen. Was folgte, ist ebenso rührend wie unglaublich.

Diese Geschichte beginnt mit so vielen Zufällen, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte. Es geht ja schon damit los, dass es ausgerechnet dieser stürmische und für einen Ausflug vollkommen ungeeignete Tag im November 1966 sein musste, an dem Ingrid Bubert und ihre zwei Brüder mit dem Vater auf den Dom gehen sollten. Wo die sieben Jahre alte Ingrid nach der Fahrt mit dem Karussell nicht wie ihre Brüder einen blauen oder grünen Heliumluftballon in die Hand gedrückt bekam, sondern einen knallroten, den man weithin sehen kann. Und der sich, nachdem sie ihn mit einer Karte mit ihrem Namen und ihrer Adresse versehen und losgelassen hatte, auf seinem Weg vom Heiligengeistfeld nicht in einem Baum oder an einer Kirchturmspitze verfing, dafür aber von einer Böe über die Elbe getragen wurde und dann immer weiter und weiter und noch ein Stück, unglaubliche 600 Kilometer weit, nämlich bis ins tiefe Bayern. Wo ihn dann am nächsten Morgen ausgerechnet ein ebenfalls sieben Jahre altes Mädchen entlang der Felder in einem Strauch hängen sah. Von dem die kleine Rosi aus Aichkirchen so angezogen wurde, wie es nur Kinder sein können, und ohne groß nachzudenken quer über das matschige Feld lief.

Was an jedem anderen Tag kein Problem gewesen wäre, nur eben an diesem, an dem Rosi mit ihrer Familie auf dem Weg zur Oma war, die im Sterben lag, und deshalb ihr bestes Sonntagskleid und die teuren Lackschuhe anhatte, die nun voller Schlamm waren. Woraufhin Rosi von ihrer Mutter nicht nur eins an die Ohren, sondern auch eine Strafe aufgedrückt bekam: der Absenderin des Luftballons noch an demselben Nachmittag einen Antwortbrief zu schreiben.

50 Jahre später stehen Ingrid Bubert und Rosi Waldhier auf dem Heiligengeistfeld, über ihnen tanzt ein roter Luftballon im Wind, und sie könnten jetzt, da sie das runde Jubiläum ihrer Freundschaft feiern, viel darüber sagen, ob sie an Zufälle glauben oder an Schicksal. Doch sie machen die Geschichte kurz: „Wir hatten einfach Glück.“

„Liebe Ingrid, wie geht es Dir? Mir geht es gut!“ So begann der erste Brief, den die kleine Rosi aus Bayern dem noch fremden Mädchen aus dem hohen Norden, der Absenderin des roten Ballons, schrieb. Und die kleine Ingrid, die furchtbar aufgeregt war, als dieser erste Brief aus dem Süden bei ihr eintraf und total überrascht, dass das Mädchen, das ihr da schrieb, genauso alt war wie sie, antwortete: „Liebe Rosi, wie geht es dir? Mir geht es gut!“

Ingrid Bubert und Rosi Waldhier sprechen diese beiden Sätze im Chor. „So haben wir alle unsere Briefe begonnen“, sagt Ingrid Bubert und lacht, weil ihre Freundin anfängt zu lachen. „Ich weiß nicht mehr, wie viele Briefe es waren, aber es waren viele.“

Sprache war ein Kulturschock

Am Anfang sei das auch noch richtig aufregend gewesen, regelmäßig seien die beiden dem Postboten entgegengelaufen, in der Hoffnung, er möge das sehnsüchtig erwartete Antwortschreiben dabei haben, um sich dann, wenn er es endlich aus seiner großen Posttasche gezogen hatte, an einen stillen Ort zurückzuziehen, es feierlich zu öffnen und die per Hand geschriebenen, oftmals noch mit kleinen Zeichnungen und Aufklebern versehenen Seiten zu verschlingen. Nach eineinhalb Jahren intensiver Brieffreundschaft beschlossen Ingrid und Rosi, dass sie sich gern genug mögen, um sich auch in echt kennenzulernen. Im Frühsommer 1968 stieg Ingrid mit ihrer Mutter in einen Zug gen Süden, um der Spur ihres roten Luftballons zu folgen.

„Unser ganzes Dorf war damals in Aufruhr“, erzählt Rosi Waldhier. Aichkirchen, das war klein – und dieses große Hamburg wahnsinnig weit weg. Doch für Ingrid sah eigentlich alles aus wie zu Hause, denn auch sie kam ja genaugenommen vom Land, aus dem Barsbütteler Ortsteil Willinghusen. „Das war genau so ein Kuhdorf wie unseres“, sagt Rosi Waldhier. Und Ingrid Bubert ergänzt: „Unsere Familien hatten beide einen landwirtschaftlichen Betrieb, mit Kühen, Schweinen und Hühnern.“ Ein Kulturschock war dagegen die Sprache – wo vorher nur Buchstaben auf Papier standen, war nun tiefstes Bayrisch angesagt. „Deine Mutter hat sich ja noch Mühe gegeben, Hochdeutsch zu sprechen“, sagt Ingrid Bubert in Richtung ihrer Freundin. „Aber bei deiner Oma war das ganz schlimm.“ – „Na, glaubst du etwa, ich hätte ein Wort beim Platt deiner Oma verstanden?“, fragt Rosi Waldhier.

Sie verstehen sich damals wie heute

Wieder müssen beide lachen, Dialekt hin oder her, sie verstehen sich damals wie heute blendend. Und deshalb haben sie sich auch immer wieder besucht, mindestens einmal im Jahr, immer im Wechsel. Meistens waren die Eltern mit dabei, vor allem die Mütter hatten sich mittlerweile ebenfalls ange-freundet. Später, als Ingrid und Rosi älter waren, nahmen sie ihre Brüder oder Schwestern mit, und noch später dann, mit 19 Jahren, den ersten festen Freund. „Unsere Männer haben sich sofort verstanden“, sagt Rosi Waldhier. Oft verbringen sie auch ihre Urlaube zusammen, Ingrid Bubert kennt jeden Autobahnkilometer Richtung Bayern, Rosi Waldhier fast die gesamte norddeutsche Küste, und hier vor allem das damalige Sehnsuchtsziel der Bayern: die Hochseeinsel Helgoland.

Ingrid Bubert ist Rosi Waldhiers älteste Freundin – und umgekehrt. „Nachbarn und Freunde fragen mich oft, wie Ingrid denn mit mir verwandt sei“, sagt Rosi Waldhier. So sehr sind ihre Familien mittlerweile miteinander verwoben. Oder, wie die beiden es ausdrücken würden: „Das passte einfach mit uns.“ Wie sehr das stimmt, zeigte sich in ihren Lebensläufen: Rosi heiratete nur ein paar Monate nach Ingrid, und ihre erste Tochter kam nur wenige Monate vor Ingrids erstem Sohn zur Welt. Ingrid Bubert bekam einen zweiten Sohn, Rosi Waldhier eine zweite Tochter. Beide haben einen medizinischen Beruf ergriffen – Ingrid Bubert ist gelernte Krankenschwester und arbeitet heute in einem Behindertenwohnheim, Rosi Waldhier ist als pharmazeutisch-technische Assistentin in einer Krankenhausapotheke beschäftigt.

Beide kehrten aufs Land zurück

Sie zogen vom Dorf in die Stadt, nach Hamburg und Nürnberg, und kehrten beide aufs Land zurück, nicht weit von ihrem jeweiligen Heimatdorf entfernt. Rosi Waldhier stand Ingrid Bubert bei, als deren Eltern starben, und konnte auf ihre Freundin zählen, als ihr Vater seiner Krankheit erlag. Heute kümmert sich Rosi Waldhier um ihre altersschwache Mutter und Ingrid Bubert um ihre Schwiegermutter, die bei ihr und ihrem Mann lebt.

„Unsere Leben sind quasi parallel verlaufen“, sagt Ingrid Bubert. „Aber abgesprochen haben wir das nicht.“ Die eine hätte halt angerufen und erzählt, was bei ihr gerade anstehe – und die andere hätte geantwortet: „Ja, bei mir auch!“ Glücklicher Zufall eben.