Die Reform ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber wir alle müssen uns verändern.

Gegensätzlicher kann die Meinung über ein neues Gesetz kaum sein. Während Pflege-Staatssekretär Karl-Josef Laumann die im Januar greifende Pflegereform einen „Meilenstein“ nennt, spricht Claus Fussek, Deutschlands bekanntester Pflegekritiker, von dem Versuch, „einen Waldbrand mit einer Wasserpistole zu löschen“.

Und wer hat nun recht? Beide. Was zeigt, dass Politik manchmal ganz schön kompliziert sein kann. Ja, die Reform ist ein Meilenstein, sie beseitigt viele Ungerechtigkeiten. Vor allem Menschen mit einer Demenz erhalten künftig bessere Leistungen. Der Vorrang der ambulanten Pflege vor dem Umzug in ein Heim entspricht dem Wunsch fast aller Senioren. Und eine bessere soziale Absicherung für Angehörige, die durch die kräftezehrende Pflege eines Familienmitglieds oft selbst erkranken, ist lange überfällig.

Und dennoch kann diese Reform nur ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung sein. Eine Zahl reicht, um zu verstehen, warum die Pflege kranker und alter Menschen uns mindestens so fordern wird wie die Inte­gration der Flüchtlinge. Bis zum Jahr 2050 wird allein die Zahl der Demenzkranken von derzeit etwa 1,6 Millionen auf mehr als drei Millionen steigen, was in etwa der Einwohnerzahl von Hamburg und München entspricht. Für die frohe Botschaft, dass wir immer älter werden, zahlen wir den Preis des erhöhten Pflegerisikos. Knapp 40 Prozent der über 90-Jährigen sind dement.

Noch schultern vor allem die Familien die Last der Pflege, in keinem anderen westeuropäischen Land kümmern sich so viele Angehörige um kranke Partner oder Eltern. Aber Rollenbilder verschieben sich; die Zeiten, da Töchter erzogen wurden, um später Mama und Papa zu pflegen, sind zum Glück vorbei. Zudem driften immer mehr Familien aus­einander, räumlich wie emotional. Und niemand sollte sich darauf verlassen, dass die im Reichstag oder die in der Bürgerschaft das regeln werden. Auch die beste Reform kann nicht für die notwendigen Zigtausend neuen Altenpfleger sorgen.

Nein, diese Generationenaufgabe müssen wir schon selbst anpacken. Das beginnt im Kleinen. Wer zum x-ten Mal beim Abendbrot oder bei einer Party das Image der Altenpflege kaputtredet („Ganz ehrlich, ich könnte das nicht“), sollte sich bitte später nicht beschweren, wenn er im Heim nachts vergebens nach Personal klingelt, weil die Nachtwache überlastet ist. Wer in seinem Beruf aufgeht und ignoriert, wie der Bruder oder die Schwester bei der elterlichen Pflege ausbrennt, denkt nicht karriereorientiert, sondern asozial. Wer eine Polin zum Dumpinglohn illegal rund um die Uhr schuften lässt, um den Vater zu pflegen, ist nicht clever, sondern kriminell. Und wer seine dementen Eltern in ein Billigheim abschiebt und fortan ignoriert, ist moralisch gesehen keinen Deut besser als der Papa, der sein Kind schlägt.

Pflege muss raus aus dem Tabu, rein in den Alltag. Heime gehören nicht an den Rand, sondern ins Herz der Stadt, am besten neben einen Kindergarten mit gegenseitigen täglichen Besuchen. Nirgendwo leben Pflegebedürftige so riskant wie in Abgeschiedenheit, wo kaum jemand mögliche Missstände registrieren kann. Wir können es uns natürlich weiter in der Komfortzone gemütlich machen, darauf hoffen, bis ans Ende unserer Tage fit zu bleiben. Aber der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker mahnte schon vor 30 Jahren: „Nicht behindert zu sein ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem von uns jederzeit genommen werden kann.“