Hamburg. Veronika Winter erfuhr mit 51 Jahren, dass sie Alzheimer hat. Ihr Mann pflegte sie sechs Jahre. Erster Teil der Serie zum Thema Pflege.
Mehr als 100.000 Menschen in Hamburg benötigen wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit Hilfe im Alltag. Die Hälfte von ihnen gilt als pflegebedürftig – ihnen stehen Leistungen zu. Viele dieser Menschen werden von Angehörigen gepflegt, die jedoch oft nichts von diesen Leistungsansprüchen wissen.
Ist die Pflege im eigenen Haus, in der eigenen Wohnung möglich? Worauf muss ich bei der Suche nach einem Pflegeheim achten? Wie finde ich einen guten ambulanten Pflegedienst? Antworten auf all diese Fragen liefert der Große Hamburger Pflegeratgeber des Hamburger Abendblatts (Autor Peter Wenig, 320 Seiten, 19,95 Euro).
Die dazu gehörende Abendblatt-Serie über Pflege in Hamburg gibt die wichtigsten Antworten, informiert über Leistungen, die große Reform der Pflegeversicherung 2017 – und sie erzählt die Geschichten von Menschen, die sich für ihre pflegebedürftigen Angehörigen selbst besonderen Belastungen aussetzen.
Lesen Sie hier die bewegende Reportage zum Thema Alzheimer:
Der Kampf gegen das Tabu Alzheimer
Das Aquarell zeigt eine junge Frau mit nachdenklichem Blick. Ein paar Haare lugen unter dem gelben Hut mit den aufgesteckten Blumen hervor. „Dieses Bild fand ich immer am schönsten“, sagt Wolfgang Winter, deshalb hat es auch einen Ehrenplatz über der Vitrine im Wohnzimmer. Gemalt hat es seine Frau Veronika.
Damals, in ihrem ersten Leben. Als sie noch Pläne schmiedeten. Für ihren gemeinsamen Ruhestand. Hier, in ihrem rot geklinkerten Haus am See im Norden von Hamburg. Mit dem großen Garten, in dem die Katzen tollen. Und dem selbst gezimmerten Stuhl neben dem Buchsbäumchen.
Veronika Winter wird auf diesem Stuhl nie wieder Platz nehmen. Als wir Wolfgang Winter an diesem sonnigen Tag besuchen, dämmert sie 15 Autominuten entfernt in einem Pflegeheim ihrem Tod entgegen. „Ein paar Tage oder Wochen hat sie vielleicht noch“, sagt Winter, ein stämmiger Mann mit kräftigem Händedruck. Einer, der nicht lange schnackt. Sondern zupackt.
Winter, 61, hat lange überlegt, sich beraten mit seinen längst erwachsenen Kindern Corinna und Dennis, ob er über das Schicksal seiner Frau reden soll. Winter war viele Jahre unser Technischer Leiter beim Abendblatt. Der Mann, der dafür sorgte, dass der Laden lief, der die Herstellung überwachte, das hochkomplexe Computersystem steuerte, den Reportern auch mal auf die Füße trat, wenn sie den Andruck gefährdeten. Immer im Hintergrund. Und doch unentbehrlich. Einer wie er mag kein großes Tamtam um seine Person.
Am Ende hat sich Winter aber doch entschieden zu reden, er sieht es als seinen Beitrag im Kampf gegen das Tabu Alzheimer. Winter stellte nur eine Bedingung: kein Besuch bei seiner Frau. Die, sagt er, sollen wir so in Erinnerung behalten, wie wir sie bei seinem Abschied in der Redaktion erlebt haben. Damals, im Februar 2015, als er sich nach 41 Verlagsjahren in den Vorruhestand verabschiedete.
Sie sprach den ganzen Abend kein Wort
Da stand sie neben ihrem Wolfgang, gab in ihrem eleganten Kleid allen Kollegen die Hand. Dass sie damals sehr krank war, spürte man irgendwann, weil sie den ganzen Abend wie erstarrt kein Wort sprach und nach dem Fest von ihrem Sohn zum Fahrstuhl geführt wurde. Veronika Winter hatte zu diesem Zeitpunkt schon längst die Reise ins Land des Vergessens angetreten; eine von 1,3 Millionen in Deutschland. Und doch ein seltenes Schicksal. Demenz trifft in erster Linie alte Menschen, nur zwei Prozent der Erkrankten sind unter 65 Jahren.
Wolfgang Winter blättert auf dem Esstisch in alten Alben, Fotos aus glücklichen Tagen. Die Bilder der Hochzeitsfeier 1979, ein Gasthof im Dorf, die schöne Braut mit langem Schleier, der stolze Bräutigam im schwarzen Anzug. Kennengelernt hatten sie sich fünf Jahre zuvor in der Disco ABC – sie 15, er 18 Jahre alt. Die erste gemeinsame Nacht endete mit einer Notlüge. Wolfgang Winter sagte seinen Eltern, seine Freundin sei schon 16 – sonst, das wusste er, hätte es Stress gegeben.
Die Fotos in den nächsten Alben zeigen weitere Stationen familiären Glücks. Die Geburt der Kinder 1980 und 1982, die Urlaube an der See. Timmendorfer Strand, Niendorf und Travemünde. Mama und Papa dösen braun gebrannt im Strandkorb, die Kinder buddeln im Sand. Das Geld reicht nicht für große Sprünge, aber der gelernte Schriftsetzer und die technische Zeichnerin können das gepachtete Grundstück der Eltern kaufen, mit einem Anbau ans Elternhaus ihren Traum vom Eigenheim verwirklichen. In der Natur, dort, wo sie gemeinsam alt werden wollten.
Winter deutet auf die vielen Bilder an den Wänden. „Meine Frau hat unser Haus zu einer privaten Galerie gemacht“, sagt er. Gesichter, Landschaften, Obst, Gemüse; die Malerei war das große Hobby seiner Frau: „Sie wurde förmlich eins mit den Pinseln und dem Papier.“
Dann holt er noch ein Album aus dem Regal. Schon der digitale Druck verrät den Zeitsprung. Die Protagonisten sind älter geworden, aber sie blinzeln am Fjord in den Göteborger Schären vor dem Ferienhaus genauso verträumt-verliebt in die Sonne wie drei Jahrzehnte zuvor am Timmendorfer Strand „Das war im Sommer 2012. Unser letzter gemeinsamer Urlaub“, sagt Wolfgang Winter.
Zu diesem Zeitpunkt wussten sie schon drei Jahre von der Krankheit. Alzheimer, diagnostiziert an einem Juni-Tag 2010 im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE). „Zusammenfassend zeigt sich das Vorliegen eines leichten demenziellen Syndroms“, heißt es im Arztbrief. Das Ergebnis war keine wirkliche Überraschung für das Ehepaar, die Hausärztin hatte sie bereits auf die Diagnose vorbereitet.
Die Symptome waren offenkundig, die Diagnose ist dennoch ein Schock
Zu offenkundig waren die Symptome bei Veronika Winter. Die ständige Überforderung im Job, die Probleme, sich zu orientieren, das ewige Suchen nach Schlüsseln und Papieren, die Vergesslichkeit. Und doch zieht die Gewissheit den Winters den Boden unter den Füßen weg. Dement mit gerade 51 Jahren. Direkt vom UKE fahren sie nach Blankenese. Zum Café am Leuchtturm, ihrem liebsten Platz. Sie weinen. Und fragen sich: Warum gerade wir?
Die Fahrt nach Blankenese wird ihr Ritual. Alle sechs Monate, immer nach dem Kontrolltermin in der Neurologie. Kuchen, Kaffee, Tränen. Denn beide wissen, dass die Alzheimer-Krankheit das Hirn immer weiter zerstören wird.
Dabei sind die ersten Jahre nach der Diagnose noch halbwegs erträglich. Veronika Winter mag nach ihrer Frühverrentung nicht mehr so gern das Haus verlassen, entspannt sich lieber beim Zeichnen. Und sie besucht regelmäßig ihre Mutter im Pflegeheim. Gegen den Rat der Ärzte, denn auch sie hat Alzheimer. Die Tochter soll nicht in den Spiegel ihrer eigenen Zukunft sehen. „Dass sie den Kontakt zur kranken Mutter dennoch noch intensiver gesucht hat, zeigt ihre enorme Kraft“, sagt Winter. Umgekehrt wirkt die Familie wie ein Kraftspender für sie; bei Grillabenden mit ihren Geschwistern, mit den Kindern, mit Enkel Paul scheint sie so unbeschwert zu sein wie vor ihrer Krankheit.
Doch die Krisen nehmen zu. Bei einer Campingtour kommt Veronika Winter einmal völlig aufgelöst ins Wohnmobil zurück; sie hatte den täglichen Weg zu den Duschen nicht mehr gefunden. „Da wusste ich, dass diese Art des Urlaubs nicht mehr funktionieren wird“, sagt Wolfgang Winter.
Die Krankheit veränderte ihr Wesen
Damals konnte er noch nicht ahnen, was noch auf ihn zukommen würde. Denn die Krankheit verändert auch Veronika Winters Wesen. Lebenslust, Optimismus und Zärtlichkeit weichen Stück für Stück Aggression, Misstrauen und Bitterkeit. Die Pflege wird Tag für Tag härter, allein das Anziehen dauert morgens anderthalb Stunden, mit Duschen bis zu drei Stunden.
Die gewohnte Wäsche taugt plötzlich nichts mehr, die dann gemeinsam neu erworbenen Sachen gefallen nur ein paar Stunden. Am nächsten Morgen meckert Veronika Winter ihren Mann an: „Was hast du für einen Mist gekauft.“ Auch beim Frühstück gibt es immer öfter Streit. Die Brötchen vom Bäcker mag sie auf einmal nicht mehr, das Mittagessen, Winter war immer der Koch in der Familie, findet sie ungenießbar. Nur wenn die großen Kinder mit am Tisch sitzen, schmeckt es immer.
Die Aggressionen münden schließlich sogar, was bei Demenzkranken mitunter leider geschieht, in körperliche Gewalt. Veronika Winter trommelt mit den Fäusten gegen die Brust ihres Mannes, schubst ihn sogar einmal beim Anziehen gegen die Heizung. „Gemeinsame Gespräche waren da schon nicht mehr möglich, Veronika konnte sich kaum noch ausdrücken“, sagt Wolfgang Winter.
UKE-Demenzforscher Dr. Holger Jahn im Interview
Er hält dennoch weiter durch, wird nie laut gegenüber seiner Frau: „Ich wusste ja, dass sie nichts dafür kann.“ Der Garten wird sein Therapieraum, er harkt und schaufelt wie ein Besessener, um die Anspannung irgendwie loszuwerden.
Im Oktober 2015 eskaliert schließlich die Situation: Seine Frau rennt voller Wut aus dem Haus und irrt auf dem Grundstück umher. Und weder er noch seine Kinder können sie wieder beruhigen. Vier Tage in Folge will seine Frau trotz aller Überredungskünste nichts mehr essen oder trinken.
„Wir konnten daheim nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren, sie hätte kollabieren können. Und das Wochenende stand unmittelbar bevor“, sagt Corinna Winter, die Tochter. Nach Rücksprache mit der Hausärztin kommt Veronika Winter in die psychiatrische Abteilung des Heinrich-Sengelmann-Krankenhauses nach Bargfeld-Stegen. Sechs Wochen bleibt sie dort in der geschlossenen Abteilung, doch die Ärzte können trotz intensiver Behandlung und der Umstellung auf ein neues Medikament keine Hoffnung auf Besserung machen, im Gegenteil. „Mit Mama ging es ab diesem Zeitpunkt dramatisch bergab. Sie konnte am Ende nicht mehr alleine zur Toilette, nicht mehr gehen, nicht mehr selbstständig essen und trinken“, sagt Corinna Winter.
Auf der letzten Etappe durch das Land des Vergessens
Sie trifft sich mit ihrem Bruder, die beiden reden stundenlang. Über die Mama. Und über den Papa. „Er hat sich in den Jahren der Pflege schon viel zu viel zugemutet, war am Ende seiner Kräfte. Wir hatten Angst, dass wir beide Elternteile verlieren“, sagt Corinna. Die beiden Geschwister entscheiden, dass es so nicht weitergehen kann. Sie schicken ihren Vater auf eine Reise ans Nordkap, davon hat er schließlich immer geträumt. Und für Mama suchen sie ein Pflegeheim. „Die Entscheidung war unfassbar schwer, aber sie konnte in ihrem Zustand nicht mehr zurück nach Hause“, sagt Corinna.
Ganz in der Nähe werden sie fündig, das Pflegeheim Alte Oberförsterei in Schwarzenbek, spezialisiert auf Menschen mit Demenz, hat einen Platz frei. Auf der langen Reise durch das Land des Vergessens ist Veronika Winter nun auf der letzten Etappe angekommen. Alzheimer-Forscher nennen sie die siebte Phase, sprechen von einem „sehr schwerwiegend geminderten Wahrnehmungsvermögen“. Ein Begriff, der die Realität noch schönt: Veronika Winter erkennt niemanden mehr, kann nicht mehr sprechen, kaum noch schlucken. Das Essen spuckt sie aus.
„Ich hätte es dennoch allein nicht geschafft, meine Frau nach 41 gemeinsamen Jahren in ein Heim zu geben“, sagt Wolfgang Winter. Am 23. Oktober 2015, Veronikas 57. Geburtstag, schaut er am Nordkap in die funkelnden Nordlichter und heult sich die Seele aus dem Leib. Er sieht seine Frau vor sich. Wie sie sich fast jede Nacht im Bett zu ihm dreht und fragt: „Schatz, wie lange darf ich mit meiner Krankheit zu Hause bleiben?“ Und er immer antwortet: „Ich werde dich pflegen, so lange ich es irgendwie schaffe.“ Winter weiß, dass der Umzug ins Pflegeheim richtig war. Und fühlt sich doch gescheitert.
Schuldgefühle quälen viele Angehörige, wenn sie nach vielen Jahre Pflege ihren Partner, die Mutter, den Vater in ein Heim geben, weil es anders nicht mehr geht. Bei Wolfgang Winter sind sie aus einem sehr persönlichen Grund besonders stark. „Meine Frau hat auch in meiner schweren Zeit zu mir gestanden. Da konnte ich sie doch nicht im Stich lassen“, sagt er.
Seine Frau stand ihm bei in der Entzugsklinik
Denn Winter hat über Jahre getrunken, viel zu viel getrunken. „Du kannst ruhig schreiben, dass ich gesoffen habe“, sagt er. Schon morgens schüttete er den Wodka in sich hinein, abends dann literweise Bier. Erst als seine Frau 1993 drohte, ihn mit den Kindern zu verlassen, ging Winter in eine Entzugsklinik, besuchte über Jahre eine Selbsthilfegruppe.
Winter hat nie verborgen, dass er ein Alkoholiker war, sogar ein kleines Buch, „Aus nass wird trocken“, geschrieben. Über den Brechreiz beim Zähneputzen, über die verzweifelten Versuche, den Alkoholpegel irgendwie zu halten, um den Tag zu überstehen. „Ohne meine Frau hätte ich den Ausstieg nie geschafft“, sagt Winter. Sie habe die Familie zusammengehalten.
Beim Abschied drückt Winter uns noch ein Foto in die Hand. Das Bild zeigt das Paar Hand in Hand bei der silbernen Hochzeit an einem sonnigen Maitag 2004. Damals, sagt Winter, habe er eine kurze Rede gehalten und gesagt: „Schatz, ich würde dich sofort wieder heiraten.“
In den Wochen danach telefonieren wir ab und an. „Meiner Veronika geht es immer schlechter“, erzählt Winter traurig. Das Heim habe gerade angerufen, er müsse mit dem Schlimmsten rechnen. Doch dann geht es mit ihr plötzlich wieder bergauf. „Es gibt Momente, da erkennt sie mich wieder, ja, sie lacht sogar, das ist so schön“, sagt Winter drei Wochen später. Richtig stolz sei er auf seine Veronika, wie stark sie sei, wie sie mit ihren gerade noch 39 Kilo kämpfe um den letzten Funken Leben.
„Ich glaube, ich habe das Schlimmste hinter mir“
Es ist ein letztes Aufbäumen. Am Morgen des Ostermontags ruft das Heim an: „Herr Winter, es tut uns sehr leid, Ihre Frau ist soeben friedlich eingeschlafen.“ Zwei Tage später kommt die Einladung zur Trauerfeier. Statt um Kränze bitten die Winters um Spenden für die Alzheimer-Forschung.
Die Sonne lugt vorsichtig durch die Kirchenfenster der Tymmo-Kirche zu Lütjensee, als Wolfgang Winter auf dem Backsteinboden zum Altar schreitet. Lange bleibt er vor dem Sarg seiner Frau stehen, aus den Lautsprechern klingt „Words“ von den Bee Gees.
„It’s only words and words are all I have“ – Es sind nur Worte, und Worte sind alles, was ich habe: Der Songtext wirkt, als hätten ihn die Brüder Gibb für solche Anlässe geschrieben. Der Trauerredner trägt einen langen Abschiedsbrief von Wolfgang Winter an seine Frau vor – eine Liebeserklärung und ein Dank, vor allem für das Zusammenstehen in den Jahren, als der Alkohol alles zu zerstören drohte. Auch Corinna Winter hat einen Brief an die Mutter verfasst, sie hat die Kraft, ihn selbst zu verlesen.
Herbert Grönemeyers Song „Der Weg“, das Lied für dessen 1998 verstorbene Frau Anna, schließt die schlichte Zeremonie. Beim Kaffeetrinken in einem Lokal in Großensee, genau dort, wo im September 1979 ihre Hochzeitsfeier stattfand, wirkt Winter gelöst: „Ich glaube“, sagt er, „ich habe das Schlimmste hinter mir.“
Ein paar Tage später sticht das Motorschiff „Hauke“ bei strahlendem Sonnenschein von Büsum mit der Familie Winter an Bord in die Nordsee. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt stoppt der Kapitän die Maschinen, lässt das Schiffshorn viermal tuten, die Urne gleitet, geschützt in einem Blumengeflecht, ins Wasser. Dann dreht das Boot noch zwei Runden um die Bestattungsstelle.
Die Seebestattung war Veronika Winters ausdrücklicher Wunsch: „Ihr sollt doch nach meinem Tod keine große Arbeit mit mir haben.“ Und das Meer, sagt ihr Mann, habe sie immer geliebt.