Hamburg. Weggefährten erinnern an den verstorbenen Altbürgermeister Henning Voscherau. Heute: sein Vorgänger Klaus von Dohnanyi.
Mit Henning Voscherau verlor Hamburg einen wegweisenden Bürgermeister, den Vater der HafenCity und einen unerschrockenen, rechtsstaatlichen Denker. Mir geht mit ihm der naheste Kamerad meines langen politischen Lebens verloren. In den 35 Jahren unseres gemeinsamen Hamburger Arbeitens gab es kaum einen Monat – und in den 80er-Jahren keinen Tag ! –, wo wir uns nicht in irgendeiner Weise begegneten, Sichtweisen erläuterten und Urteile austauschten. Und immer ging es um Politik; deutsche, europäische und natürlich auch um Hamburger Aufgaben: zwei „political animals“.
Henning und ich begegneten einander erst relativ spät in unserem politischen Leben. Ein Wechsel nach Hamburg im Sommer 1981 war bis dahin weder meine Absicht gewesen, noch war dies mein Verdienst. Tief zerstritten hatte die Hamburger SPD ihren Ersten Bürgermeister Hans-Ulrich Klose wegen seines „linken“ Kurses (der heute übrigens unzweifelhaft mainstream wäre!) gestürzt, und die weit gespreizten Flügel der Partei schlugen jetzt mehr aufeinander ein, als dass sie die Politik in Hamburg voranbrachten. Die Bundespartei suchte schnell eine tragbare Lösung.
Als langjähriger Bundespolitiker und SPD-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz hatte ich 1981 von den spezifischen Hamburger Problemen und Querelen kaum eine Ahnung. Auch die Namen der Matadore bedeuteten mir wenig. Und so zögerte ich, dem Vorschlag Willy Brandts zu folgen; schließlich war es dann Herbert Wehner (sonst nicht mein besonderer Förderer!), der mich mit einem ziemlich sentimentalem Satz in die Pflicht nahm.
Schon auf dem Parteitag in der „Kesselschmiede“, auf dem über meine Bürgermeisterkandidatur zu entscheiden war, ging es hoch her: Links gegen rechts und für den unbescholtenen Bewerber, der nun in seine Vaterstadt zurückkehren wollte, scheinbar jeder gegen jeden.
Da war der „linke“ Parteivorsitzende Ortwin Runde – und da war Henning Voscherau, rechter Flügelmann. Ein Konsens kam dennoch zustande, und so begann unser gemeinsamer Weg ausgerechnet in einer Kesselschmiede! Es konnte bei dieser Ausgangslage keine stolperfreie Strecke werden, denn es gab für unsere gemeinsame Partei kaum ein Thema ohne tiefe, innerparteiliche Gräben. Und so konnte es auch nicht ausbleiben, dass Henning und ich immer wieder auch verschiedener Meinung waren. Allerdings, wenn ich richtig erinnere, stritten wir kaum (Ausnahme: Hafenstraße) über das Notwendige, wohl aber hier und da über das politisch Mögliche in dieser so unterschiedlich denkenden Partei.
Vermutlich war ich damals als Bürgermeister für Henning nicht immer deutlich genug. Aber um zu regieren, braucht man eben gelegentlich auch offene Kompromissformeln und interpretierbare Entscheidungen. Und für solche Kompromisse war Henning Voscherau nicht nur unentbehrlich, er fand sie oft selbst, und dann konnte man sich auf ihn blind verlassen: ein Mann, ein Wort – auch wenn es nicht immer leicht war, sein Wort zu gewinnen!
Vielleicht war doch auch zu spüren, dass wir aus verschiedenen politischen Schulen kamen: Er eher von Helmut Schmidt, ich eher von Willy Brandt. Folglich war er, zum Beispiel, wie Helmut Schmidt kein besonderer Freund der FDP und damit auch nicht der sozialliberalen Koalition, die ich mit Ingo von Münch eingegangen war. Doch hatten wir einen Weg einmal beschlossen, blieb er treu auf Kurs. Nur einmal, offenbar genervt von zu ärgerlichen Widersprüchen in Partei, Fraktion und Senat, wollte er uns fast von der Fahne gehen und zog sich unvermittelt in sein privates Büro zurück. Im strömenden Regen musste ich ihn zurückholen – denn ohne ihn wäre das Regieren unmöglich geworden. Treu und politisch verantwortlich, wie er eben war, kam er mit – und blieb!
Auf sein Wort war stets Verlass
Politik hatte unser beider Leben nicht nur geprägt, sie hatte uns beschlagnahmt. Und in den verschiedenen Aufgaben während meiner Amtszeit – der Bürgermeister als verantwortlich handelnde Exekutive, der Fraktionsvorsitzende und Parteistratege Voscherau eher als verantwortliche, aufmerksam korrigierende Kraft – waren wir natürlich auch Rivalen. Das gehört zur Politik.
Aber erst dann zeigt sich der wahre Charakter der Beteiligten: Bei Henning Voscherau wusste ich immer, wo er stand, was möglich war und was nicht; auf sein Wort war stets Verlass, sein Kompass stets erkennbar. Seine Solidarität und seine Solidität standen niemals im Zweifel.
Als Nachfolger war er auch deswegen für mich alternativlos. Und das erwies sich, als er dann als Bürgermeister Kurs hielt gerade auch dort, wo er zuvor an meiner Stelle lieber anders entschieden hätte: Er befriedete die Hafenstraße und ließ die Kunsthalle der Moderne bauen, die sein Lieblingskind nicht gewesen war. Und schließlich zog er die Verfassungsreform durch, auch gegen den Willen von Peter Schulz.
Eines will ich allerdings nicht verschweigen: Seinen Rücktritt, nach einem doch honorigen Wahlergebnis, hielt ich für falsch und versuchte, noch in später Stunde – aber leider vergeblich –, ihn davon abzubringen. In den letzten Jahren vereinte uns immer mehr die Sorge um die zunehmende Instabilität der innen- und außenpolitischen Lage unseres Landes. Im „Konvent für Deutschland“ hatten wir uns mit Roman Herzog und anderen zusammengefunden, um auch als ehemals in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens aktive Bürger Ratschläge zu wichtigen Entwicklungen der Republik zu erarbeiten. Und wir waren einig in dem Bestreben, die Fäden zu unserem sicherheitspolitisch und wirtschaftlich so wichtigen russischen Nachbarn nicht abreißen zu lassen.
Henning Voscherau trug seine schwere Krankheit gelassen und mit mutiger Offenheit; ich habe das bewundert. Wie ich ihn zuletzt sah, schon beeinträchtigt in Bewegung und Sprache, aber aufrecht und klar und klug im Kopf, werde ich nie vergessen. Als diesen stolzen Kameraden will ich ihn erinnern.