Stefan Heße ist verantwortlich für 400.000 Katholiken im Bistum Hamburg. Alle 83 Pfarreien will er auflösen. Eine kritische Analyse.
Er kam als Hoffnungsträger nach Hamburg: Erzbischof Stefan Heße. Seit 14. März 2015 ist er im Amt, eine Art Wunschkandidat der Katholiken – mit damals 48 Jahren der jüngste deutsche Bischof. Er kam mit viel Erfahrung aus dem großen, reichen Traditionsbistum Köln, wo er Generalvikar war, der Verwaltungschef. Da kommt jemand mit Tatendrang und Begeisterungsfähigkeit, dachten viele.
Inzwischen fragen sich die Katholiken ernüchtert: Ist Stefan Heße in Hamburg angekommen? Das weitläufige Bistum musste er erst kennenlernen, er reist viel zwischen Hamburg und Sylt, im Osten bis hinter Rostock. Umstritten ist, ob er den Bischofssitz im Herzen von Hamburg am Marien-Dom in St. Georg nutzt, um sich in der Stadt zu verwurzeln. Mitarbeiter haben ihm geraten, sich mehr für Geschehnisse in Hamburg zu interessieren.
Unmut in den Gemeinden
Wenn er auftritt, gibt es viel Weihrauch und devote Bekundungen. Aber unter der Oberfläche brodelt es. In den Gemeinden wächst der Unmut. Denn von oben werden Veränderungen vorgeschrieben mit weitgehenden Folgen für den Alltag der mehr als 400.000 Katholiken. Eingeleitet von seinem Vorgänger Erzbischof Werner Thissen, und nach einem Muster, gegen das sich in anderen Bistümern Widerstand formiert: Die bestehenden Pfarreien werden nach und nach aufgelöst.
Für das Erzbistum Hamburg, zu dem Schleswig-Holstein und Mecklenburg – ohne Vorpommern – gehört, bedeutet das: Aus 83 Pfarreien sollen nur noch 28 werden. Nicht nur dort, wo die Kirchen leer sind, sondern überall. Weil es nicht mehr genug Pfarrer gibt. Stattdessen werden Großpfarreien errichtet, Zusammenschlüsse von Gemeinden, oft eine Autostunde voneinander entfernt, sogenannte Pastorale Räume, an deren Spitze nur noch ein Pfarrer steht. Die übrigen Mitarbeiter, soweit vorhanden auch Geistliche, werden in diesen Riesenpfarreien flexibel eingesetzt, am liebsten themenbezogen.
Ständig wechselndes Personal
Da ist dann eine Gemeindereferentin nicht mehr für eine einzelne Kirche, sondern etwa für die Erstkommunionvorbereitung im großen Ganzen verantwortlich. In der Konsequenz heißt das: Keine Kirchengemeinde hat mehr einen eigenen, von der Kirche bezahlten Beschäftigten für sich, einen, der den Standort repräsentiert, der sich auskennt, hier vernetzt ist, als Ansprechpartner für alle Belange gilt. Keiner kennt sich mehr richtig aus, wechselndes Personal wird zum Dauerzustand.
Was bei Flugzeugen zur Sicherheit beiträgt – eine ständig wechselnde Crew – ist für Gemeinden, die auf Seelsorge, Kontinuität, Vertrauen und unbürokratische und schnelle Hilfe in Notsituationen angewiesen sind, eine Katastrophe.
Ehrenamtliche könnten enttäuscht werden
Kann Gemeinde funktionieren ohne einen Hauptamtlichen vor Ort? „Nein“, sagt Thomas Kaufhold, Referent der „KirchenVolksBewegung Wir sind Kirche“ im Erzbistum Hamburg. Der Norderstedter hat die Entstehung des ersten Pastoralen Raums in seiner Heimatgemeinde miterlebt. Die Kirchen in Norderstedt, Ochsenzoll und Langenhorn sind eine Pfarrei: der Pastorale Raum Katharina von Siena.
Seine Erfahrungen sind typisch für die Fusion von Gemeinden: „Ehrenamtliche ziehen sich enttäuscht zurück.“ Wer zuvor im Dienste seiner Kirche vor Ort stand oder sich in Gremien engagierte, „fühlt sich inzwischen ausgebeutet“, sagt Kaufhold. Statt sich für die eigene Gemeinde einzusetzen, wird im Pastoralen Raum ein „Engagement plus“ erwartet, „mit zusätzlichen Sitzungen auf übergeordneter Ebene“. Erst kommt der Frust, dann der Rückzug.
Fehler im System?
Ein Hauptamtlicher pro Gemeinde ist vom Bischof nicht vorgesehen. Darin sehen viele einen Fehler im System, selbst im Umfeld des Erzbischofs, wenn auch hinter vorgehaltener Hand. Kaufhold ist zwar der Meinung „Gemeinde funktioniert auch ohne Priester“, aber einen Hauptamtlichen, auch eine Laienkraft, müsste es in jeder Gemeinde geben. Ohne einen festen Ansprechpartner, ohne ein Gesicht, das die Gemeinde repräsentiert, gehe es nicht.
Sonst kommt es schnell zu fatalen Situationen wie etwa im geplanten Pastoralen Raum Südholstein mit den Gemeinden in Pinneberg, Halstenbek, Wedel, Uetersen, Quickborn und Elmshorn. Dort ist ein älteres Gemeindemitglied gestorben, seine Frau ruft bei den im Gemeindebrief aufgeführten vier Telefonnummern von Priestern und Mitarbeitern an, darunter Geistliche im Ruhestand. Niemand ist erreichbar. Die Frau geht in ihrer Not verzweifelt in die Praxis ihres Hausarztes. Der ist evangelisch, hat aber einen katholischen Freund, den er im Büro anruft. Der versucht, den Diakon zu erreichen, der mit der Zusatzbezeichnung „mit Zivilberuf“ nur ehrenamtlich für die Kirche arbeitet, aber in jeder freien Minute Amtshandlungen vornimmt: Taufen, Eheschließungen, Beerdigungen. Das alles natürlich, ohne bezahlt zu werden. Schöne neue Gemeindewelt.
„Aber es gibt nun mal kein ausreichendes Personal mehr in unserer Kirche“, sagt ein Pfarrer im Ruhestand. Nur die Fehler der Vergangenheit, die genau dazu geführt haben, werden in der Kirche nicht gerne thematisiert. Dabei ist das Thema Priestermangel seit mehr als 40 Jahren schon als Problem erkannt.
Nicht genug Pastoralreferenten
Natürlich leidet die Kirche unter einem allgemeinen Glaubensverlust und darunter, dass sich weniger Menschen für die Allgemeinheit aufreiben wollen. Vereine, Parteien, Gewerkschaften haben ähnliche Probleme, heißt es gern zur Rechtfertigung. Aber die katholische Kirche ist ein Sonderfall. Denn sie hat alle in Jahrzehnten zaghaft gestarteten Versuche, dem Trend mit neuen Impulsen entgegenzuwirken, einkassiert.
Beispiel Pastoralreferenten: Das sind Theologen, die dasselbe Studium wie ein Priester absolvieren, nur ohne Weihe zum Priester. Auch für viele Frauen war dies über Jahre ein begehrtes Ausbildungs- und Berufsfeld. Doch als die ersten Pastoralreferenten in den Gemeinden auftraten, zuckten viele Pfarrer zusammen. Nur ausnahmsweise ließen einige die „Konkurrenz“ etwa predigen. Geistliche, die angesichts der sich abzeichnenden Personalnot dies dennoch erlaubten und die Kolleginnen und Kollegen stärker in die Gemeindearbeit integrierten oder sie sogar als gleichberechtigt im Alltag ansahen, bekamen schnell dezente oder deutlichere Hinweise von bischöflicher Seite, nur im Ausnahmefall so zu verfahren.
Das Ende der Ära der Pastoralreferenten im Norden kam mit der Entscheidung des Erzbischofs Werner Thissen, diese kirchlichen Mitarbeiter schwerpunktmäßig statt in Gemeinden für übergemeindliche Aufgaben einzusetzen. Damit war das Berufsbild für jene erledigt, die sich als Seelsorger in Gemeinden gesehen hatten. Die Chance, diesen Fachkräften mehr Verantwortung im Zuge des Priestermangels aufzutragen, wurde vertan. Heute beklagt Erzbischof Heße, dass es nicht genug Pastoralreferenten gäbe. Dabei ist die Amtskirche selbst Totengräber dieser Institution gewesen.
45 Diakone im Zivilberuf in Hamburg
Beispiel Diakon: Das sind ausgebildete Theologen, die sogar geweiht sind, nämlich zum Diakon, der Vorstufe zur Priesterweihe. Da Priester nur wird, wer sich verpflichtet, zölibatär zu leben, ist die Diakonweihe Schlusspunkt für alle, die verheiratet sind und sich in der Gemeinde als Seelsorger einbringen möchten. Im Erzbistum Hamburg gibt es 45 Diakone im Zivilberuf – also ehrenamtlich – und acht hauptamtliche Diakone. Auch diese Personengruppe könnte stärker in der Gemeindearbeit wirken. Doch die Kirche schreckt davor zurück.
Als vor einigen Jahren zwei in der Ausbildung befindliche Diakone arbeitslos wurden, nahm das Erzbistum Hamburg dies nicht als Chance, um sie an Stelle fehlender Priester hauptamtlich zu beschäftigen – und ihnen ein Gehalt für ihre Tätigkeit zu zahlen. Nein, sie wurden nicht zur Weihe zugelassen. Der Grund: Ist jemand erst einmal Diakon und steht ohne weltlichen Job da, sieht sich die Kirche verpflichtet, den Diakon zu finanzieren. Um das zu vermeiden, wurde den Betroffenen gleich ihr persönliches Lebensziel genommen. So sieht gelebtes Christentum in der katholischen Amtskirche aus.
Beispiel Gemeindereferenten: Das sind Theologen mit einer praxisnahen Ausbildung auf Fachhochschulebene – ideal für die Gemeindearbeit. Derzeit gibt es im Erzbistum Hamburg 67 Frauen und 17 Männer von ihnen. Deren oft von Idealismus geprägte Bemühungen werden im Alltag aufgerieben. Katholische Pfarrer, denen von Bischöfen und vom Papst ständig ihre exklusive und einzigartige Rolle in Kirche und Hierarchie bescheinigt werden, haben bestenfalls keine Übung, schlechterdings keine Motivation, Gemeindereferenten ebenbürtig zu begegnen. Teamarbeit ist vielen ein Fremdwort, alle Aufgaben, die mit der Spendung eines Sakraments verbunden sind, kommen per definitionem für Gemeindereferenten nicht in Frage. Die Folge: Der Frust unter den Beschäftigten ist sogar noch größer als die Enttäuschung engagierter Katholiken über die Amtskirche, wie vor einem Jahr eine große kircheninterne Umfrage in Münster ergeben hat.
Rücktritt beim Papst einreichen
Frust im Dienst der Kirche. Bezeichnend ist die Äußerung einer Mitarbeiterin aus Hamburg, die auf die Frage, welchen Eindruck sie von der unmittelbaren Arbeitsumgebung des Erzbischofs ein Jahr nach dessen Einführung hat: „Ich schaue entweder in leere Büros – oder in leere Gesichter.“
Wo sind die Mutmacher an der Spitze? Wo diejenigen, die Menschen mitreißen und begeistern können? Wo jene, die einen realistischen Weg in die Zukunft zeigen?
Die alte Garde tritt ab. Wer folgt? Auch die Zahl der Bischöfe im Erzbistum Hamburg sinkt. Weihbischof Norbert Werbs mit Amtssitz in Schwerin ist seit Mai 2015 mit Erreichen der Altersgrenze im Ruhestand. Er kümmerte sich noch mit der Erfahrung aus DDR-Zeiten um die Katholiken in Mecklenburg. Seine Position wird nicht mehr besetzt, hat der Erzbischof kürzlich entschieden. Jeder Bischof muss laut Kirchenrecht seinen Rücktritt beim Papst einreichen, wenn er 75 Jahre alt ist. Von Ausnahmen abgesehen, wird das Gesuch angenommen. So schied Erzbischof Thissen im März 2014 aus. Weihbischof Hans-Jochen Jaschke, der schon Hamburger Bischof war, als es das Erzbistum Hamburg noch nicht gab und die Katholiken hier zum Bistum Osnabrück gehörten, erreicht am 29. September 2016 die Altersgrenze. Seine Enttäuschung, dass er bei Schaffung des Erzbistums 1995 nicht Erzbischof geworden ist, hat er nie ganz verhehlen können. Den konservativen Päpsten und den meisten seiner Mitbrüder galt er wohl als unsicherer Kandidat, weil er seine persönliche Meinung nie verschwiegen hat, auch wenn sie mal nicht hundertprozentig auf Roms Linie lag. Genau wegen dieser Offenheit schicken ihn die Bischofskollegen gerne vor, wenn es in TV-Sendungen und Talkshows darum geht, die katholische Kirche mit menschlichem Angesicht optimal zu präsentieren. So hat Jaschke viele Sympathien gewonnen, aber der Sitz des Erzbischofs blieb ihm verwehrt.
Sein Posten wird wieder besetzt. Üblicherweise werden Kandidaten aus dem eigenen Bistum dafür ausgewählt. Doch da steht Erzbischof Stefan Heße wieder vor einem heiklen Problem: jemanden zu finden, der den Hoffnungen der Katholiken im Norden entspricht. Diese warten sehnsüchtig auf einen, der sie auf dem Weg in die Zukunft begeistert mitreißen kann.