Zwei Jahre ist es her, dass Gerd Klements Ehefrau Mareike Carrière an Krebs starb. Es fällt ihm schwer, über den Verlust zu sprechen.
Darf man auf Gott wütend sein? Gerd Klement zögert. „Ich habe nach dem Tod meine Frau einen befreundeten Priester gefragt: Wie soll ich Gott vergeben, dass er mir diese wunderbare Frau genommen hat und dass sie so hat leiden müssen?“ Die Stimme von Gerd Klement klingt brüchig. Zwei Jahre ist es her, dass seine Ehefrau, die Schauspielerin Mareike Carrière, an Krebs gestorben ist. Noch immer fällt es ihm schwer, über seinen Schmerz zu sprechen.
Wie war die Antwort des Geistlichen? „Er sagte mir: Gott will dein ganzes Leben. Wenn dir nach Wut auf ihn ist, dann sage ihm das mit allem, was du hast.“ Das zu hören sei befreiend gewesen. „Ich habe dann auch Gott kundgetan, dass ich nicht damit einverstanden bin, dass er das zugelassen hat.“ Noch heute frage er sich oft, warum ihm dieses große Geschenk der Liebe wieder genommen wurde. „Ich weiß nicht, ob ich den Verlust jemals überwinden kann, aber ich muss mit ihm leben.“
Gerd Klement hat sich in eine Ecke des breiten Ledersofas in seiner Wohnung gesetzt. Der 64-Jährige ist jemand, der sich mit Antworten Zeit lässt. Er sucht oft nach Worten, bricht hier und da in der Mitte eines Satzes ab. Das, was er sagt, ist nicht besserwisserisch, eher ein Angebot zum Dialog, eine Aufforderung an den Gesprächspartner, den Gedanken weiterzuspinnen.
Klement glaubt inzwischen „an so etwas wie Vorbestimmung“
Die Zahnarztpraxis von Gerd Klement liegt an der Hochallee. Seine Patienten dürften überwiegend aus den wohlhabenden Stadtvierteln Harvestehude und Rotherbaum stammen. Auch wenn ihm das Ende der 80er-Jahre, als er sich dort niederließ, gar nicht so bewusst war. „Ich wollte vor allem selbstständig sein und in eigener Praxis arbeiten.“ Da war Gerd Klement schon 37 Jahre alt und hatte ein bewegtes Leben hinter sich. 1952 wurde er in Cuxhaven als sechstes Kind geboren. Der Vater war Landwirt und Fischer. Die Mutter hatte daheim mit Kindern und Haushalt genug zu tun. Dass Gerd Klement inzwischen „an so etwas wie Vorbestimmung“ glaubt, hat mit der oft erzählten Fluchtgeschichte seiner aus Ostpreußen stammenden Eltern zu tun. „Meine Mutter hat die ,Wilhelm Gustloff‘ um 15 Minuten verpasst.“
Das einstige Kreuzfahrtschiff war während des Zweiten Weltkriegs zunächst als Truppentransporter und Lazarettschiff der Kriegsmarine, dann – nach dem Durchbruch der Roten Armee – zur Evakuierung Ostpreußens eingesetzt und wurde am 30. Januar 1945 vor der Küste Pommerns von einem sowjetischen U-Boot versenkt. Mehr als 9000 Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein.
Gerd Klement war handwerklich geschickt und absolvierte nach Abschluss der Realschule eine Lehre als Elektromaschinenbauer. Große Liebe zum Beruf entwickelte er jedoch nicht. „Eigentlich wollte ich meinen Eltern beweisen, dass ich etwas abschließen kann.“ Schon nach den ersten Tagen in der Ausbildungsfirma war klar: Hier würde er nicht alt werden. „Ich war der erste Langhaarige in dem Unternehmen, und die Gesellen ließen mich ihre Abneigung spüren.“
Straßenkinder werden bei ihm kostenlos behandelt
Nach dem Dienst bei der Bundeswehr zog er nach Berlin. Der Vater einer Freundin war Manager in einem pharmazeutischen Unternehmen und sollte den Lebensweg von Gerd Klement entscheidend beeinflussen. „Wir haben abends lange geredet. So viel Akzeptanz hatte ich zuvor nicht erfahren.“ 1970 besuchte er ein privates Abendgymnasium und holte das Abitur nach. „Tagsüber fuhr ich für die amerikanische Armee Lkw, und abends habe ich gebüffelt.“
Inzwischen war ihm klar, dass er Zahnarzt werden wollte. „Ich wusste ja, dass ich ein guter Handwerker bin“, erinnert er sich. „Zudem war ich immer neugierig auf Menschen, und die akademische Ausbildung reizte mich. Und – ich helfe gern.“ Doch das Abitur war nicht so berauschend, und schon damals gab es an den Unis Wartelisten. Vier Jahre sollte es dauern, bis Gerd Klement mit seinem Studium starten konnte.
Weil Berlin ihm nicht gefiel, zog er nach Rüsselsheim, meldete sich arbeitslos und sollte auf Wunsch des Arbeitsamts am Gepäckband des Frankfurter Flughafens arbeiten. Glückliche Umstände verhalfen Gerd Klement jedoch zu einem Vorstellungsgespräch bei der Fluggesellschaft Bavaria German Air.
Und wieder war er der Einzige mit langen Haaren. Aber er bekam den Job als Flugbegleiter – wegen seiner Wirkung auf die Auswahlkommission, wie er später erfuhr. Er lernte Länder rund ums Mittelmeer genauso kennen wie die Kanaren und Skandinavien.
„Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas mehr Geld hatte“, sagt Klement. „Ich begriff damals, dass Geld ein Mittel ist, um es sich und anderen gut gehen zu lassen, aber dass es nichts ist, was gehortet werden muss.“
Gerd Klement sieht sich „gern schöne Dinge an“. Bilder von Freunden hängen an den Wänden seiner Wohnung. „Kunst berührt meine Seele.“ Bei Musik sind ihm Harmonien wichtig. Da verwundert es nicht, dass die Plattensammlung auch die Klavierkonzerte von Mozart enthält. „Meine Frau meinte sogar einmal, ich sei harmoniesüchtig.“ Auch wenn das wie eine lässliche Sünde klingt, so hat diese Eigenschaft einen ganz praktischen Nutzen. „Ich halte ein Leben ohne Streit für lebenswerter.“
Als Chef eines Kleinunternehmens mit sechs Mitarbeiterinnen, nichts anderes ist eine Zahnarztpraxis, muss er oft genug Entscheidungen treffen. Da bleibt ein „Nein“ nicht aus. Bei der Begegnung mit Menschen hilft ihm Empathie. „Niemand geht ja gern zum Zahnarzt, und Patienten werden entspannter, wenn die Beziehung stimmt.“ Der unter Ärzten durchaus verbreitete Zynismus ist dem 64-Jährigen fremd. „Es mag sein, das Zynismus eine Art Notwehr der Seele ist, um schlimme Dinge wie beispielsweise den Tod eines Patienten zu verarbeiten.“
Vielleicht hat Gerd Klement sich aber auch nur die Erinnerung an seine eigene Jugend bewahrt. Das Wissen darum, dass es auch in unserer reichen Gesellschaft Menschen gibt, die gestrauchelt sind oder die in einem Elternhaus groß wurden, in denen Kälte und Desinteresse vorherrschte. So kam es zu der Zusammenarbeit mit Off Road Kids, einer Hilfsorganisation für Straßenkinder. Gerd Klement behandelt diese jungen Menschen kostenlos.
„Es ist überraschend, zu erleben, was für zarte Seelen sich hinter Muskelpaketen, Piercings oder Tätowierungen verstecken können“, sagt er. Anfangs redeten sie kaum über sich. Doch schon wenig später tauten sie auf, erzählten von ihren Sorgen und Nöten, weil sie erlebten, dass ihnen jemand zuhört. „Die Augen werden anders, sie irrlichtern nicht mehr.“
„Es gibt keinen Zwang, irgendwo anzukommen“
Klement lehnt sich zurück, schaut auf die Uhr. Reisetaschen müssen noch gepackt werden. Ein paar Tage auf seinem Segelboot liegen vor ihm. Die Vorfreude ist ihm anzumerken. In die dänische Südsee mit ihren vielen kleinen Inseln geht der Törn. „Es ist, als würde man ins vergangene Jahrhundert zurückgeworfen“, sagt er. Ein wenig sähen alle Ortschaften wie Bullerbü aus – wie das Dorf aus den Kinderbüchern der schwedischen Autorin Astrid Lindgren.
Zeit zum Ausspannen und Luftholen erwartet Gerd Klement. „Für mich ist es der schönste Moment, wenn die Segel gesetzt sind und wir nur noch vom Wind angetrieben werden.“ Hinzu kommt Freiheit: die Nacht durchsegeln, im Hafen verweilen oder auf die See fahren und den Anker werfen. „Es gibt keinen Zwang, irgendwo anzukommen.“
Gerd Klement meint das auch im lebensphilosophischen Sinne. „Ich kann mir vorstellen, dass es außerhalb von uns etwas gibt, das unsere Geschicke beeinflusst.“ Dieser Gedanke hat etwas Tröstliches. Als er „den wichtigsten Menschen in meinem Leben“ verloren hatte, kamen über ein Vierteljahr fast jeden Abend Freunde, verbrachten Zeit mit ihm, halfen, die „Momente der Perspektivlosigkeit“ durchzustehen. „Es gibt einen Spruch, den ich hasse, weil er so banal ist, und doch ist er richtig: Das Leben geht weiter.“