Hamburg. Erwartungen an den Klang sind hoch. Christian Thielemann, Lang Lang oder Kent Nagano sagen, mit welchen Häusern sie konkurrieren wird.
Man muss ja immer Ziele haben im Leben. Und deswegen durften bei kulturpolitischen Ansagen zur Elbphilharmonie in ihren kritischen Phasen zwei Formulierungen nie fehlen: Eine Dauer-Devise war die These vom „Haus für alle“, als Gegenmittel zum Protz- und Eliten-Vorwurf (das wird sich nach der Eröffnung zeigen). Dazu kam, jahrelang gern wiederholt, die steile Ansage, die Klangqualität des Großen Saals solle ihn „zu einem der zehn besten Säle der Welt“ machen.
Ob und wie sehr diese Prognose stimmt, wird sich im Herbst bei den ersten Proben des NDR Elbphilharmonie Orchesters abzeichnen. Dann muss das auf die Laeiszhalle geeichte Ensemble lernen und verinnerlichen, wie seine neue Heimat ist und wie sie auf alles reagiert, was ein Orchester tut oder lässt, kann oder neu lernen muss. Das wird Monate dauern, vielleicht Jahre. Und vielleicht wird hier, da oder dort noch nachjustiert, wer weiß das jetzt schon. Bis dahin bleibt das Prinzip Hoffnung und die Aussicht auf das Abenteuer, bei diesem Prozess dabei zu sein.
Das sind die 10 besten Konzertsäle
Dennoch – oder besser: deswegen – wurden diese zwei Aspekte von offizieller Seite mantraartig als Leitmotiv erwähnt, als hehre Ziele nach den Kostenexplosionen, Krächen, Verzögerungen und Blamagen. Insbesondere mit der Top-Ten-Tauglichkeit wurde weit über die Stadtgrenzen hinaus die Werbetrommel bearbeitet. Tunlichst unerklärt jedoch blieben konkrete Maßstäbe, mit denen man die besten zehn Säle von anderen eindeutig abgrenzen kann.
Was unterscheidet eine gute von einer tollen Akustik?
Kann man das überhaupt? Und falls ja, wie? Was bestimmt die Reihenfolge?
Ist Akustik tatsächlich reine Zauberei, wie etwas direkt aus der Märchenwelt in „Alice im Wunderland“? Mit dieser Einschätzung hat sich der Star-Architekt Frank Gehry garantiert nicht viele Freunde unter Akustikern gemacht. Einer der bekanntesten ist der Japaner Yasuhisa Toyota, mit dem Gehry beim Saal der metallverknäuelten Walt Disney Concert Hall in Los Angeles so eng und gut zusammenarbeitete, dass daraus 2003 ein einzigartiger Konzertsaal entstand, für seine präzise Akustik ebenso weltbekannt wie für seine Optik. Später wurde Toyota auch für die Akustik der Elbphilharmonie engagiert. Hier, hoch über der Elbe, soll er – nach etlichen gelungenen Sälen weltweit – in den vergangenen Jahren sein größtes Meisterwerk geschafft haben.
Um zumindest einen leicht objektiven Erkenntnisgewinn zu einem so sehr subjektiven Thema zu erzielen, wanderte die diffizile Aufgabe der Bewertung von Konzertsälen weltweit zu Praktikern: Etwa 40 Konzerthaus-Intendanten, Dirigenten, Interpreten und Orchestervorstände wurden gebeten, ihre zehn „besten“ Säle zu nennen. 16 haben sich darauf eingelassen. Wichtigste Regel: Der eigene Saal durfte nicht genannt werden. Zweitwichtigste, von vielen Teilnehmern selbst formuliert und betont: Eine Reihenfolge sei nicht möglich. Neue Säle hätten es naturgemäß schwerer, auf so eine Lieblingsliste zu geraten, weil sie erst erlebt sein müssten, um sich eine Meinung zu bilden. Am Ende stand dann doch eine Top Ten – die sich dank teilweiser Punktegleichheit auf fünf Plätze verteilt. Das Abendblatt stellt diese besten Säle ab Montag in einer fünfteiligen, täglichen Serie vor.
Die 16 Teilnehmer der Konzertsaal-Umfrage
„Ein Konzertsaal ist das Instrument, auf dem das Orchester spielt“, sagte Sir Simon Rattle, einer, der es wissen muss: In Berlin hat er einen charismatischen Saal als Heimat der Philharmoniker vor seinem Taktstock. In Birmingham war es vor einigen Jahr-zehnten auch der brandneue Saal, in dem der noch junge Rattle und das CBSO sich in sehr kurzer Zeit aus der Regional- in die Spitzenliga spielten.
Sobald man aber über die Frage nachdenkt, was einen guten Konzertsaal akustisch von einem tollen Konzertsaal unterscheidet, ihn zur Stradivari aus Beton und Holz macht, wird es schwierig. Sicher, man kann Nachhallzeiten beim Bau theoretisch berechnen und im vorhandenen Bau praktisch messen. Man kann mit viel technischem Aufwand erkunden, wo sich welche Schallwellen wie verteilen sollen, wie frühe und späte, direkte und seitliche Reflexionen verlaufen, ob und wo es trotz aller Vermeidungsbemühungen Akustiklöcher gibt, in denen teuer erkaufte Klang-Güte auf Nimmerwiederhören versackt wie Materie in schwarzen Löchern.
Keinen besten Platz – aber „viele sehr gute“
Doch Konzertsaal-Akustik ist und bleibt, da kann die Spezialisten-Software noch so toll sein, auch eine kuriose Mischung aus Aberglauben, Geschmack und Mundpropaganda. Auch Toyota selbst rettete sich schon mal ins freundlich Ungefähre. Zahlen mit Qualität zu vergleichen, das sei unmöglich – wie bei einem Whisky, „der vielleicht einen bestimmten Alkoholanteil hat, was aber noch nichts über seine Güte oder seinen Geschmack aussagt“. „Leider muss ich zugeben, dass es in der Elbphilharmonie keinen besten Platz gibt“, sagte er, aber „viele sehr gute“.
Weiter kompliziert wird die Suche nach Kriterien und Antworten durch die Grundsatzfrage der Saal-Form, ob man sich mit einem klassischen, rechteckig geformten „Schuhschachtel“-Saal beschäftigt, wie er auch in der 1908 eröffneten Laeiszhalle gebaut wurde. Oder aber mit einem jener „Weinberg“-Modelle, die von Hans Scharouns visionärem Entwurf für die Berliner Philharmonie abstammen, in der das Publikum seit 1963 auch basisdemokatisch neben und hinter der Bühne sitzt. Dort sind die Hör- und Sichtperspektiven ganz anders angelegt als bei der Frontalbeschallung wie seit dem 17. Jahrhundert.
Schon wegen ihrer Größe und ihrer Proportionen sind nicht alle Säle akustisch gleich gut für jedes Repertoire geeignet. In einem zu engen Saal mit zu kleiner Bühne kann man eine groß besetzte spätromantische Symphonie von Mahler oder Bruckner nicht ohne klangliche Kollateralschäden aufführen. Andererseits: In zu großen Sälen gehen die Details von Kammermusik oder barocke Feinheiten unter, die für kleinere Bühnen geschrieben wurden.
Und „Heimspiel-Säle“ wie die in Berlin, Amsterdam, Los Angeles oder Boston, die für ein Orchester um dessen DNA herumgebaut wurden, haben einen anderen Charakter als Allround-Häuser ohne Spitzenorchester, die sich auch über eine möglichst vielseitige Programmatik bewähren müssen. Ein weiteres Extrembeispiel der jüngeren Vergangenheit ist das Sydney Opera House. Außen: weltbekannt, Wahrzeichen. Der Original-Saal innen: so lala, höchstens. Renommierte Orchester-Tourneen machen einen Bogen darum.
Nächstes Problem: Mag ja sein, dass speziell viele der brandneuen Säle, die in asiatischen Metropolen als spektakuläre Show-Immobilien und Hochkultur-Import-Plattformen aus dem Boden gestampft werden, nicht nur aussehen wie „Star Trek“-Kulissen, sondern auch noch über zum Niederknien gute Akustik verfügen. Doch welches Spitzenorchester wird sich dort regelmäßig hinverirren, um dieses Luxus-Spielzeug entsprechend nutzen und auf hohem Niveau bespielen zu könnnen? Welches Publikum wird so regelmäßig kommen, um diese Leistungen zu erkennen? Manche dieser Säle sind am Ende nur überzüchtete, teuer bei Star-Architekten bestellte Mogelpackungen. In ihnen soll eine Musical-Aufführung oder eine Peking-Oper genauso funktionieren wie ein Abend mit dem eingeflogenen Star-Pianisten. Oder die Gala mit der Diva de luxe, zur Not mit Lautsprechern.
Ein weiteres Dilemma: Einzigartig sollen Konzertsäle ja immer sein, optisch wie akustisch. Der Erwartungsdruck an die Planer ist immer weiter gestiegen. Die Zeit der klassischen Kistenbauer ist vorbei, wo immer man sich anderes leisten will und kann. Konzerthäuser für das 21. Jahrhundert sind längst nicht mehr nur Abspielstätten für Musik, sie sind auch Wahrzeichen, Prestigeobjekte, Fotomotive, Treffpunkte, landmarks. Multifunktional konstruiert, gern auch mit Education-Abteilungen.
Manchmal ist der Ruf von Sälen besser als ihr Klang
Schlimmstenfalls werden solche Hallen als Bespaßungsobjekte für eine bildungsbürgerliche Oberklasse mit zu viel Geld beschimpft. Im Idealfall sind sie gleichzeitig ein Treffpunkt für alle Mitglieder einer Stadtgesellschaft, der Identität schafft und die Neugierde auf Kultur an sich fördert. Und wenn am Ende auch noch massenweise Touristen kommen und ihr Geld in der Stadt um den Saal herum ausgeben, beschwert sich auch niemand. Umwegrentabilität.
Hilft aber alles nur bedingt. Denn ein frischer Saal, der einen unterdurchschnittlichen Ruf weghat, wird ihn so schnell nicht wieder los, er wird zum Klotz am Bein der Politik, die ihn bestellt hat. Architektonische und akustische Ausfälle wie der Münchner Gasteig – legendär geworden durch Bernsteins Fluch „Burn it!“ – erholen sich nicht mehr davon, sondern werden geduldet, bis es Besseres gibt. Falls es Besseres gibt. München wartet seit Jahrzehnten.
Doch auch andere Extreme sind möglich: Dass der Ruf von Sälen besser ist als ihr Klang. Nur sehr ketzerisch veranlagte Künstler würden es wagen, von einer Triple-A-Adresse wie dem Wiener Musikverein öffentlich zu behaupten, dass er so toll nun doch auch nicht klinge. Das käme einerseits einer Selbstausladung dort sehr nah, weil Intendanten ebenso nachtragend sein können wie Stammpublikum. Andererseits können als brillant etablierte Säle auch eine anspornende Wirkung haben: Man ist in der Berliner Philharmonie, da kann man nicht so spielen wie in einer Mehrzweckhalle in Bad Salzufflen.
Bis die Elbphilharmonie ihre ersten Konzerte erlebt haben wird, muss weiter vermutet werden dürfen, dass die Versprechen aus der Vergangenheit keine Versprechen bleiben. Am Ende aber läuft alles auf eine schlichte Erkenntnis hinaus, und das jeden Abend aufs Neue: Entscheidend ist aufm Platz.
Abendblatt-Serie: Weltbeste Konzertsäle. Die zehn meistgenannten Häuser verteilen sich dank teilweiser Punktgleichheit auf fünf Plätze. Wir stellen sie in der kommenden Woche täglich und in aufsteigender Reihenfolge vor. Am Montag: Das Konzerthaus Wien
auf Platz 5