Hamburg. Hamburgs Börsenpräsident Friedhelm Steinberg spricht im Interview über Aktienstrategie, Kursturbulenzen und Altersarmut.

Der Brexit hat dem Deutschen Aktienindex (DAX) heftige Turbulenzen beschert. Mit der italienischen Bankenkrise drohen weitere Risiken. Kann man jetzt noch an der Börse einsteigen? Das Abendblatt sprach mit Friedhelm Steinberg, dem Präsidenten der Hanseatischen Wertpapierbörse, über Aktien, Risikoscheu und den fatalen Folgen der niedrigen Zinsen.

Haben Sie wegen des Brexits Ihre Aktien verkauft?

Friedhelm Steinberg: Nein, das käme mir nicht in den Sinn. Panik ist immer ein falscher Ratgeber. Solche Schwankungen muss man aushalten. Ich bin kein Spekulant und halte meine Aktien langfristig. Als die Kurse abstürzten, habe ich sogar Werte wie Deutsche Telekom und Allianz wegen der hohen Dividendenrendite nachgekauft.

Was erwarten Sie für den weiteren Verlauf?

Der Aktienmarkt bleibt unsicher, obwohl die wirtschaftlichen Rahmendaten noch stimmen. Für das Jahresende halte ich einen DAX-Stand von 10.000 Punkten für möglich. Es gibt viele besorgniserregende Entwicklungen wie die italienische Bankenkrise mit faulen Krediten von über 350 Milliarden Euro oder die Folgen des Brexits. Auch die Staatsschuldenkrise in der Euro-Zone ist nicht gelöst. Spanien und Portugal überschreiten die Defizitkriterien des Maastrichter Vertrags. Manche Probleme ignoriert die Börse über lange Zeiträume, andere Ereignisse lösen dagegen dramatische Kursverluste aus. Das ist schwer vorauszusehen. Kurzfristig bin ich nicht sehr optimistisch für die Börsenentwicklung.

Wie entwickelten sich norddeutsche Aktien?

Der HASPAX, der 24 norddeutsche Werte vereint, hat sich im ersten Halbjahr besser als der DAX geschlagen. Während das große Kursbarometer rund zehn Prozent verloren hat, legte der HASPAX um drei Prozent zu. Das liegt vor allem daran, dass im norddeutschen Index keine Bankaktien enthalten sind. Auch langfristig über fünf Jahre schneidet der HASPAX immer etwas besser ab als sein größerer Bruder. Besonders gut sind im ersten Halbjahr Basler, Eurokai und Jungheinrich gelaufen.

Was sind die Gründe für so heftige Kursausschläge beim DAX?

Als Börse registrieren wir mit Besorgnis eine Zersplitterung der Märkte und der Umsätze. Zu viele Geschäfte laufen über neue Handelsplattformen außerhalb der staatlich beaufsichtigten Börsen ab. Geringe Umsätze verschärfen so oft die Kursausschläge. Beim DAX kommt noch hinzu, dass mindestens 55 Prozent der Aktien in den Depots ausländischer Anleger liegen. Die trennen sich schnell von ihren Anteilen, wenn sie nicht mehr in ihre Strategie passen. Mit einer besseren Aktienkultur in Deutschland könnten die Schwankungen verringert werden, denn Privatanleger sind eher länger investiert.

Die Zahl der Aktionäre ist aber 2015 um sieben Prozent auf über neun Millionen gestiegen, der höchste Stand seit 2012.

Es gibt durchaus wieder mehr Sparer, die in Aktienfonds investieren, aber der Zuwachs ergibt sich vor allem durch mehr Belegschaftsaktionäre. Im Grunde ist die Aktienkultur hier zu Lande unverändert unterentwickelt. Jetzt, wo es fast keine Zinsen für Spareinlagen mehr gibt, rächt sich das. Ohne Zinsen lässt sich kaum noch eine vernünftige Altersvorsorge aufbaue,n und von den Erträgen der Aktien profitieren andere. Über die Hälfte der knapp 30 Milliarden Euro an Dividendenzahlungen der DAX-Konzerne sind in das Ausland geflossen. Das in Aktien investierte Vermögen der Deutschen ist immer noch so hoch wie vor 25 Jahren, obwohl sich der DAX in dieser Zeit verfünffacht hat. Besonders die Jüngeren haben Nachholbedarf. Von den unter 40-Jährigen haben weniger als zwei Millionen Aktien.

Wie lässt sich das ändern?

Wir spüren eine steigende Nachfrage, wenn wir Seminare für Börseneinsteiger veranstalten. Aber das Wissen um die Aktienanlage muss bereits früher in weiterführenden Schulen vermittelt werden. Es ist eine gefährliche Mischung aus Nichtwissen und Risikoscheu, die die Deutschen von der Aktie fernhält. Langfristiges Aktiensparen sollte auch durch staatliche Prämien gefördert werden. Von den Zinsaufwendungen, die der Finanzminister durch die stark gesunkenen Zinsen spart, könnte ein Teil dafür investiert werden.

Ist es jetzt richtig, in Aktien zu investieren? Sie selbst sind ja nicht sehr optimistisch.

Das bezieht sich nur auf die kurzfristige Entwicklung. Langfristig zeigt sich, dass man am Aktienmarkt sehr auskömmliche Renditen erzielen kann und dass es nur in wenigen Zeiträumen wirklich Verluste gab. Als Faustregel gilt: Das Geld für Aktieninvestments muss für mehrere Jahre zur Verfügung stehen, sollte in mehreren Tranchen investiert werden und darf nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt benötigt werden.

Welche Möglichkeiten gibt es, mit kleinen Beträgen am Aktienmarkt zu partizipieren?

Wenn monatlich 50 oder 100 Euro eingezahlt werden, ist das schon ein Anfang. Für solche Aktienfondssparpläne bieten sich sogenannte ETF-Fonds an, die einen Aktienindex wie den DAX nachbilden und sehr kostengünstig sind. Wer sich besser auskennt, kann auch regelmäßig in einzelne Aktien investieren, denn einige Direktbanken bieten inzwischen auch Aktienspar­pläne auf viele bekannte Dividenden­titel an. Wegen der verschärften Regulierungen ist die direkte Aktienanlage für Kleinanleger bei vielen Banken aber eher schwieriger geworden.

Wie lange geht die Niedrigzins-Phase noch?

Noch sehr viele Jahre. Frühestens wenn die hoch verschuldeten Staaten der Euro-Zone ihre Staatsschulden in sehr niedrig verzinste Anleihen umgeschuldet haben, wird die Europäische Zen­tralbank ihre Zinspolitik ändern.

Schon jetzt leiden die Banken unter den niedrigen Zinsen. Wird es bald negative Zinsen für Sparer geben?

Ja, das ist für mich auf längere Sicht klar. Es ist nur die Frage, wie die Banken und die Sparer damit umgehen. Negative Zinsen werden die Sparer weniger tolerieren als höhere Kontogebühren oder eine Gebühr für ihre Einlagen. Der steigende Bargeldumlauf und die verstärkte Nachfrage nach Schließfächern deuten jetzt schon darauf hin, dass Geld zunehmend außerhalb der Banken aufbewahrt wird – eine gefährliche Entwicklung.

Welche Risiken liegen in zu tiefen Zinsen?

Das billige Geld verwöhnt die Schuldner und verhindert eine schnelle Konsolidierung der staatlichen Haushalte. Auch die Sozialsysteme nehmen erheblichen Schaden. Denn gesetzliche Renten- und Krankenversicherungen haben in Milliardenhöhe Anlagen, die nicht mehr verzinst werden oder gar sinken. Ein Alarmsignal ist, wenn Pensionskassen den Garantiezins bei Betriebsrenten senken dürfen. Ich fürchte, dass wir eine ausgeprägte Altersarmut bekommen werden.

Wie sieht es bei der Börse Hamburg aus?

Der Gesamtumsatz lag im ersten Halbjahr bei 3,4 Milliarden Euro, was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 15 Prozent entspricht. Aber der Handel mit Bundesanleihen ist wegen der niedrigen Renditen fast vollständig zum Erliegen gekommen. Dafür müssen wir einen Ausgleich schaffen. So haben wir unser Aktienangebot etwa um australische Rohstoffwerte erweitert. Auch beim Handel mit Investmentfonds, die wir ohne Ausgabeaufschlag handeln, haben wir eine starke Stellung. Beim Handel mit geschlossenen Fonds beträgt unser Marktanteil 90 Prozent.

Welche Pläne hat die Börse Hamburg?

Wir müssen uns dort positionieren, wo die großen Player nicht schon sind. So wollen wir den Handel mit geschlossenen Fonds auch auf Neuemissionen ausdehnen und einen Zeichnungs- und Abwicklungsservice anbieten. Darüber hinaus gibt es weitere Pläne. An einer Börse können die vielfältigsten Papiere gehandelt werden.