München. Mutter von drei Kindern verletzt beim Oktoberfest vor dem Käfer-Zelt einen Lkw-Fahrer, der sie und Fußballstar Owomoyela bedroht hat.
Damals, als ihre Welt noch in Ordnung war und Feiern in großer Runde ein Vergnügen, machte ihr wohl auch der große Auftritt Spaß. Zumal beim Oktoberfest, diesem gigantischen Volksfest, das jedes Maß sprengt mit dem Gedränge, der Fröhlichkeit, dem Alkoholgenuss, den Trachten und dem Styling. Und so rüstete auch Michaela S. (Name geändert) optisch auf. Mit schwarzem Dirndl, mit einem Mieder aus Leder und künstlichen spitzen Fingernägeln der Marke Stiletto war die 34-Jährige sicher ein wunderschöner Hingucker, eine fröhliche und ausgelassene Frau.
Gut neun Monate und eine dramatische Erfahrung später ist von dieser Unbeschwertheit der Hamburgerin nichts mehr übrig. Stattdessen ist da Verzweiflung, Kummer und Reue. Und der Wunsch, eine Tat ungeschehen zu machen, das sieht man ihr an.
Michaela S. hat einen Menschen schwer verletzt. Das ist unstrittig. Deshalb steht die dreifache Mutter zurzeit in München vor dem Landgericht. Aber wie schwer wiegt ihre Schuld? Handelte sie womöglich in Notwehr, als sie ein Klappmesser zückte und zustach? Oder war es versuchter Mord an dem Lkw-Fahrer, wie die Staatsanwaltschaft es laut Anklage sieht?
Zeuge unterstützt Angeklagte und wird abgeführt
Mehrere Wochen dauert der Prozess mittlerweile schon, und es ist viel über den Vorfall gesagt worden. Das Problem: Keiner der bisherigen Zeugen hat eine Tat wirklich gesehen, keiner hat Hilferufe gehört – bis jetzt. An diesem achten Verhandlungstag nun sagt ein Mann aus, flüssig und detailliert, der die Version der Angeklagten stützt. Doch sein Auftritt endet damit, dass er in Handschellen abgeführt wird – ins Gefängnis. Aus Sicht der Verteidigung von Michaela S. ist dieser Vorgang ein Skandal.
Aber von Anfang an: Auf der Wiesn brummt es wie immer beim Oktoberfest. Es ist der erste Festtag, der 19. September 2015. Mit dabei ist eine erlauchte Runde im legendären Käfer-Zelt, zu der der Verlobte von Michaela S. eingeladen hat, ein Hamburger Multimillionär. Auch bekannte Fußballer sind zu Gast, darunter der Ex-Fußballnationalspieler Patrick Owomoyela. „Es war ein schöner, guter Abend. Wir waren alle fröhlich“, sagt die Angeklagte. Doch dann fallen verletzende Worte, es kommt zum Streit.
Owomoyela, gebürtiger Hamburger mit afrikanischen Wurzeln, wird verbal angefeindet. Die Äußerungen gipfeln in den Aufforderungen eines Lkw-Fahrers, der Zeugen zufolge brüllt: „Du Bimbo, schleich dich dahin, wo du herkommst.“ Und: „Scheißneger, ich bring dich um!“
Owomoyela berichtet von "geballten Fäusten"
Mehrere Menschen, die den Wütenden in diesen Momenten beobachtet hatten, schildern später vor Gericht, er sei zum Fürchten gewesen. „Ich wiege selber 115 Kilo. Und ich hatte Angst“, sagt einer. Ein anderer berichtet, der Lkw-Fahrer sei „wie eine Dampfwalze“ dahergekommen. Owomoyela selbst sagt: „Er kam schreiend auf uns zu, mit geballten Fäusten.“ Vor ihm habe ein Mann gestanden, „der mein Leben bedrohte. Ich rechnete damit, dass er gleich zu schlagen anfängt.“
Die Angeklagte erzählt, dass der Mann sie obszön beleidigt und unter anderem als „Negerhure“ beschimpft habe. Unter Tränen sagt sie, der Lkw-Fahrer sei nun „vollkommen irre gewesen“. Sie habe gedacht: „Der bringt mich um“, als er sie schließlich derbe an der Schulter gepackt und geschrien habe: „Jetzt bist du dran, Schlampe, jetzt bist du fällig.“ Sie habe versucht, sich dem Griff zu entwinden. „Doch er ließ nicht los.“
Daraufhin habe sie die „totale Panik bekommen“ und ihr Messer gegriffen, das sie in ihrer Handtasche bei sich trug. „Ich hatte nur noch Angst. Ich wollte das wirklich nicht!“ Nach diesem Vorfall sei sie „vollkommen fertig“ gewesen und habe sich damit zu beruhigen versucht, dass nichts passiert sei. Mit ihrem Verlobten, der von dem Streit nichts mitbekommen hatte, besuchte sie danach eine Party in einem legendären Münchner Club, dem P 1, und feierte weiter.
Tatsächlich jedoch war der Lkw-Fahrer schwer verletzt: Ein Stich hatte ihn in der linken Bauchseite getroffen und die Milz verletzt, sodass er notoperiert und die Milz entfernt werden musste. Der Lkw-Fahrer schildert, er habe nach wie vor Schmerzen. „Aber die psychischen Folgen sind schlimmer.“ Er hat als Zeuge zugegeben, unter anderem „Neger“ und „Bimbo“ gesagt zu haben. „Und dafür entschuldige ich mich auch.“ Über die Angeklagte sagte er: „Die war total auf 180.“
Zeugen beschreiben Angeklagte eher als ängstliche Frau
Als Michaela S. am nächsten Tag erfuhr, dass das Opfer eine lebensgefährliche Verletzung davongetragen hatte, stellte sie sich der Polizei. Ein Richter erließ zunächst keinen Haftbefehl, die Staatsanwaltschaft ging gegen diese Entscheidung vor. Sie führte aus, dass sich Michaela S. in einer „zwar unangenehmen, jedoch nicht ernsthaft bedrohlichen Situation befunden“ habe, als sie zustach. Als Mordmerkmal wird Heimtücke angeführt.
Wie arglos aber soll ein Opfer sein, wenn es vorher selber zumindest verbal kräftig ausgeteilt hat? Und ist es nachvollziehbar, dass die Angeklagte angeblich so vollkommen überreagierte und ohne Grund zustach? Zeugen beschreiben sie als eher ängstliche Frau, zurückhaltend, extrem besorgt um ihre Kinder. Wie die Zeit in Untersuchungshaft, fern von ihren drei Kindern und ihrem Lebensgefährten, der Frau zusetzt, lässt sich erahnen.
„Natürlich ist das eine unvorstellbare Belastung“, erzählt ihr Lebensgefährte dem Abendblatt am Rande des Prozesses. „Wir hatten eine intakte Familie“, bis es zu dem Vorfall auf den Wiesn gekommen sei, mit den Beleidigungen und einem Angriff. Und dann habe seine Verlobte „in Notwehrhaltung in dieser schrecklichen Situation nicht anders gekonnt, als sich zu verteidigen“, sagt der Hamburger Immobilienkaufmann. Die drei Kinder, sechs, zehn und 13 Jahre alt, seien „aus einer heilen Familie in ein Martyrium gerissen“ worden, sagt der 63-Jährige.
Seine Verlobte sei eine „sehr liebevolle Mutter, und die Kinder dürfen gerade einmal im Monat kurz zu ihr“. Bis zu drei weitere Besucher könnten pro Monat für insgesamt eine Stunde zu ihr ins Gefängnis. Und dann sind da noch einige Minuten, die die Angeklagte und ihr Verlobter nach den jeweiligen Verhandlungstagen im Gerichtssaal miteinander reden dürfen – durch einen Tisch getrennt, Berührungen sind verboten.
Zeuge: Späteres Opfer drohte mit Mord
Und nun also ist da ein Zeuge, der die Angeklagte entlastet, indem er einen massiven Angriff des späteren Geschädigten schildert. Er sei erstmals auf den Wiesn gewesen und habe unbedingt ins berühmte Käfer-Zelt gehen wollen, erzählt der 31-Jährige. In dem Gedränge, als alle anderen das Zelt verlassen wollten, habe eine „hektische Szenerie meine Aufmerksamkeit erregt“. Mittendrin eine Frau, eine „sehr auffällige Erscheinung, toll aussehend, mit hochgestecktem Haar und in schwarzem Dirndl“: Michaela S. Und ein Mann, normale Statur, in Tracht gekleidet, das spätere Opfer. „Es war sehr laut, sehr aufgeregt, sehr rassistisch.“ Worte wie „Negerschlampe“ seien von dem Mann gefallen und „Geh raus, Bimbo.“
„Der Mann ging sehr aggressiv auf die Frau zu“, sagt der Zeuge. „Ich bring euch um! Ich bring dich um!“, habe der Mann geschrien, die Frau an den Schultern gepackt und ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt. „Die Frau rief immer: Geh weg, lass mich.“ Und sie habe versucht, ihn abzuwehren. Schließlich habe der Mann die Szenerie allein verlassen. Erst später, so der Zeuge, habe er anhand der Berichterstattung über den Prozess erfahren, dass „etwas Wesentliches passiert ist“. Deshalb habe er sich gemeldet.
"Justiz ist auf beiden Augen blind"
Doch das Gericht wirkt ungehalten angesichts dieser Aussage, es kritisiert Kleinigkeiten in den Formulierungen, die nicht stimmig seien, angebliche Widersprüche wie die Frage, ob er „Wortfetzen“ oder mehrere Wörter gehört habe. Dass er mal vom „Arm“ redet, später vom „Angriff auf den Arm“. Sind das wirklich Widersprüche?
Nach einer Verhandlungspause betreten vier Polizisten den Raum, mit steinernen Mienen und schwarzen Handschuhen. Die Staatsanwältin erklärt dem Zeugen, dass er wegen Verdachts der Falschaussage festgenommen werde, die Polizisten führen ihn, an Handschellen gefesselt, aus dem Saal.
Die Hamburger Verteidiger von Michaela S., Gerhard Strate und Annette Voges, sind wie viele im Saal fassungslos angesichts dieser Festnahme. Voges: „Die Justiz ist tatsächlich auf beiden Augen blind! Unglaublich, was man sich hier in München erlaubt.“ Und Strate: „So etwas habe ich in 36 Jahren noch nicht erlebt.“ Der Prozess wird am heutigen Donnerstag fortgesetzt.