Hamburg. Sechs Jahre lang war der 62-Jährige obdachlos. Jetzt ist er an Krebs erkrankt – und will mit seinem St. Pauli-Song groß rauskommen.
Seine schönste Begegnung liegt erst wenige Tage zurück. Sie ereignete sich in einem Discounter-Supermarkt in Altona bei ihm um die Ecke. „Sind Sie nicht Flocke?“, habe die junge Frau ihn an der Kasse gefragt. Sein markanter schwarzer Schnauzbart, der graue Pferdeschwanz, dazu das St. Pauli-Shirt mit der schwarzen Lederweste seien ihr sofort aufgefallen. Könne sie ein Autogramm haben? „Am Ende wollte der Verkäufer sogar noch ein Selfie mit mir.“ Günter Neumann, genannt Flocke, strahlt, als er diese Geschichte erzählt.
Der 62-Jährige sitzt im Wohnzimmer seiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Altona-Altstadt und ringt mit einem Mal nach Luft. Er ist sichtbar aufgeregt, seine chronische Lungenerkrankung macht ihm schwer zu schaffen. Er lässt sich wieder in den Sessel sinken. Seine Atmung wird gleichmäßiger. „Wenn ich abends ins Bett gehe, habe ich manchmal Angst, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen.“
Als Sänger berühmt zu werden, ist sein Traum
Flocke hat Krebs. Bereits vor drei Jahren wurde die Erkrankung bei ihm diagnostiziert. Die Ärzte können den Krankheitsverlauf zwar verlangsamen, heilen können sie ihn nicht, dessen ist sich auch Flocke bewusst. Der Krebs schreitet fort. „Ich weiß, dass ich nicht mehr lange leben werde.“ Wie viel Zeit ihm noch bleibt, wisse nur Gott allein.
Doch er will sie nutzen, die Zeit, die ihm noch gegeben ist. Sein großer Traum: Als Sänger berühmt zu werden und auf einer großen Bühne zu stehen. Letzteres ermöglichten ihm die Initiatoren des Hamburger Sozialprojekts „Strassenblues“ schon vor einigen Wochen. Ende Mai trat Flocke überraschend als Special Guest im Rahmen des Science Slams im Hamburger Club Uebel&Gefaehrlich auf. „Begrabt mich auf St. Pauli“ – eine Zeile, die viele Zuhörer zu Tränen rührte. Dabei ahnten viele noch nicht einmal, was dieser Mann schon alles hinter sich hat.
Ein Leben voller Enttäuschungen und Verluste
Der 62-Jährige blickt auf ein tragisches Leben zurück. Ein Leben voller Rückschläge, Enttäuschungen und Verluste. Wer ihm zuhört, fragt sich, wie viel ein Mensch aushalten kann, ehe er daran zerbricht. Geboren wurde Günter Neumann am 20. September 1953 in Rellingen, einer kleinen Gemeinde im Kreis Pinneberg. Seine Eltern sind damals beide schwer alkoholabhängig. „Mein Vater trank am liebsten Rum-Grog. Hälfte-Hälfte war seine Mischung.“ Die Mutter habe meistens Wein getrunken.
Eines Tages kommt es mal wieder zum Streit zwischen den beiden. Die Mutter stürmt aus der Wohnung, der Vater eilt hinterher. „Plötzlich gab es einen Rumms, einen großen Aufschrei“, erinnert sich Flocke. Die Mutter liegt blutüberströmt im Treppenhaus. Sie überlebt den Sturz schwer verletzt, kommt am Abend in ein Krankenhaus. „Sie konnte nicht mehr sprechen“, sagt Flocke. Wenige Zeit später habe man sie in eine Nervenheilanstalt gebracht. Da war Günter sechs Jahre alt. Seine Mutter hat er nie wieder gesehen.
Beim Vater kann und will er nicht bleiben. Die Oma kümmert sich so gut wie sie kann um den kleinen Sprössling. „Wir hatten ein gutes Verhältnis. Sie war eine bemerkenswerte Frau und hat mir viel beigebracht“, sagt Flocke über sie. Trotz seiner zerrütteten Kindheit absolviert der Junge die Schule, lernt im Jugendaufbauwerk verschiedene handwerkliche Tätigkeiten. Mit 16 lernt er dort auch seine erste Freundin Petra kennen. „Das war eine geile Zeit“, sagt Flocke rückblickend. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm.
Der Tod war sein ständiger Begleiter
Ein paar Tage vor Heiligabend sind beide auf einer Einweihungsparty von Petras Nichte eingeladen. Seine Freundin sollte diese Party nicht überleben. Am frühen Morgen findet man sie tot auf der Toilette – Überdosis. „Sie hat vorher nie Drogen genommen“, sagt Flocke erregt. Petra sei an jenem Abend von jemand verführt worden, davon ist er bis heute überzeugt.
Der Tod seiner ersten großen Liebe wirft Flocke aus der Bahn. Einen festen Beruf hat er nicht, er jobbt mal hier mal da, egal ob Blechwarenfabrik oder Schlachterei. Einige Zeit später lernt er Carola kennen. Acht Monate sollten sie zusammenbleiben. Mit Freunden gehen sie abends auf dem Kiez, wollen am Morgen noch weiter zum Fischmarkt. „Doch Carola wollte nicht mit, sie ging schon mal alleine nach Hause“, erinnert sich Flocke. Die Polizei findet sie am nächsten Morgen: Man habe sie vergewaltigt und anschließend erwürgt, heißt es.
Wenn Flocke seine Geschichte erzählt, möchte man es manchmal gar nicht glauben, dass ein Mensch alleine so viel Unglück anziehen kann. Alle Menschen, die eine Nähe zu ihm hatten, seien früher oder später ums Leben gekommen. Ganz so, als liege ein Fluch auf ihm. „Manchmal hasse ich mich dafür selbst“, sagt Flocke. „Wie kann das angehen?“ Den einzigen Trost findet er damals offenbar im Alkohol.
Als Flocke 22 Jahre alt ist, stirbt schließlich auch noch seine Großmutter. Jetzt hat er endgültig die Schnauze voll. Er packt seine Sachen und zieht nach Hamburg. Dort jobbt er eine Zeit lang im Hafen. Schnaps gibt es für ihn nicht nur nach Feierabend, auch bei der Arbeit ist Flocke ein „Genussspecht“, wie er es nennt. „Es ging oben rein, unten raus.“ Schließlich verliert er auch noch seine Wohnung – offiziell wegen Eigenbedarfs des Vermieters, so erzählt es Flocke.
Ein Platz im Park oberhalb der Landungsbrücken
Eine neue Bleibe sucht sich der Mitzwanziger nicht mehr. Er will Geld verdienen, um weiterzutrinken. Eine Wohnung suchen? Dafür habe er weder Zeit noch Lust gehabt. „Die Leber wollte Futter“, sagt Flocke und lacht bitter. Whisky, Rum oder Jägermeister – getrunken wird, was zur Hand ist. Ab und an schläft er bei Freunden und Bekannten, meist jedoch im Elbpark oberhalb der Landungsbrücken, unweit der Jugendherberge.
Der Tag beginnt meist morgens um 3 Uhr. „Nach dem Aufstehen musste ich erstmal einen trinken, um munter zu werden.“ Anschließend bringt er sein Hab und Gut zu den Landungsbrücken, schließt es am S-Bahnhof in einem der Schließfächer ein. Viel mehr als eine alte Lederjacke, zwei Jeanshosen und eine Zahnbürste besitzt er ohnehin nicht. Das andere Schließfach füllt Flocke mit Alkohol. Sein Vorrat für den Tag.
Erst am frühen Abend kehrt er zurück. Von dem Geld, das er für seine Arbeit bar auf die Hand bekommt, geht er essen oder investiert es wieder in Alkohol. Anschließend sucht er sich wieder einen Platz für die Nacht. „Ich war immer allein“, sagt Flocke. Saufkumpanen hat er viele, Freunde dagegen keine. Von den Gruppen anderer Obdachloser hält er sich ohnehin fern. Zu viele Schlägereien, zu viele Diebstähle. Nur wenn die Temperaturen zweistellige Minusgrade erreichen, geht er ins „Pik As“ oder schläft in einer Kneipe auf dem Kiez. So geht das sechs Jahre lang.
Ungefähr. Denn ein Zeitgefühl hat Flocke nicht mehr. Zwar kann er sich an viele Situationen aus seinem Leben noch gut erinnern, zeitlich einordnen kann er sie nicht. Aber irgendwann, da sei dieser Typ aufgetaucht, und habe ihn mit ins Seemannsheim genommen, wo Flocke mehr als ein Jahr leben sollte. Von dort zieht er ins Ledigenheim, ein Wohnheim für alleinstehende Männer unweit des Michels. Schließlich findet er sogar wieder eine eigene Wohnung in der Herrenweide auf St. Pauli.
1991 macht er seinen ersten Entzug
Von da an läuft es wieder besser für ihn. Mit Hannelore lernt er seine spätere Ehefrau kennen. Die beiden heiraten im Sommer 1985. Ihren Namen lässt sich Flocke sogar in einem roten Herz auf dem linken Unterarm tätowieren. Für sie gibt er schließlich sogar das Trinken auf, nachdem sie droht, ihn zu verlassen. 1991 macht Flocke seinen ersten Entzug. Nebenbei arbeitet er weiter auf dem Kiez, zwischenzeitlich sogar als Koberer vor einer Tabledance-Bar an der Reeperbahn. Ab und an lässt er sich auch als Statist in verschiedenen Fernsehserien engagieren.
18 Jahre währt die Ehe von Flocke und seiner Hannelore. 2003 stirbt sie an Zungenkrebs. Er flüchtet sich erneut in den Alkohol. „Ich konnte nicht anders“, sagt Flocke entschuldigend. Inzwischen ist Flocke wieder trocken. 2009 machte er erneut einen Entzug.
Eigentlich könnte alles wieder so gut sein. Flocke hat eine Wohnung, eine Freundin und eigentlich alles, was man so braucht, wie er sagt. So gut wie heute ging es ihm eigentlich nie. Wenn da nur diese Krankheit nicht wäre. Er weiß, dass sie ihn bald umbringen wird. „Ich hasse den Krebs“, sagt Flocke. „Ich denke oft darüber nach, wie lange ich wohl noch habe und was nach dem Tod mit mir passiert.“ Gläubig sei er schon immer gewesen, aber so häufig wie heute habe er noch nie gebetet. Zweimal täglich kniet er sich vor seinen kleinen Altar. Auf dem Schreibtisch hat er eine rote Kerze, eine Engelfigur und eine Postkarte der St. Michaeliskirche aufgestellt. „Ich bete, dass er mir meinen Wunsch erfüllt.“
Er singt jeden Abend vor dem Schlafengehen
Sein großer Traum: Mit seinem Song „Mein St. Pauli“ ganz nach oben zu kommen. Jeden Abend übt er ihn vor dem Schlafengehen. Dann wird sein kleines Wohnzimmer in seiner Fantasie zur großen Bühne. So wie damals, als er zu Jugendzeiten noch mit seiner Band „Blues Image“ auf den Dorffesten in der Umgebung auftrat. Eine Vorstellung, die ihm ein wenig die Angst zu nehmen scheint.
Wenn Flocke mit seinem musikalischen Mentor Ulrich Weber über seine Pläne spricht, wird er schnell ungeduldig. Er sprudelt vor Energie, will, dass es endlich voran geht – wohl wissend, dass seine Zeit begrenzt ist. „Manchmal ist er gar nicht mehr zu bremsen“, sagt Weber, der Flocke während eines musikalischen Workshops für ehemalige Obdachlose kennenlernte. „Aber es ist schön zu sehen, wie er dabei aufblüht.“
Vor kurzem haben sie gemeinsam mit „Strassenblues“ eine erste CD mit seinem Song veröffentlicht. In Kürze soll es sogar noch ein Musikvideo dazu geben. Am 13. Juli wird Flocke bei der Pre-Opening-Party ab 19.30 Uhr im Rahmen der Millerntor Gallery noch einmal an seinem Wunschort auftreten: Im Stadion des FC St. Pauli, wo er selbst schon unzählige Fußballspiele verfolgt hat. Es könnte sein letzter großer Auftritt sein, soviel ist auch Flocke klar. Aber Flocke will nicht sterben. Noch nicht jetzt. Erst müsse dieser Song in die Charts, jeder in Hamburg soll ihn kennen. „Dann kann ich gehen, aber die Leute sollen meinen Song weitersingen.“
Auf die Frage übrigens, wo auf St. Pauli man ihn beerdigen solle, sagt Flocke lapidar: „Buddelt mich einfach unters Millerntor.“