Hamburg. Vor einem Jahr wurde die Filiale Billstedt geschlossen. Jetzt denkt Konzernchef Flanderl über neue Warenhäuser nach.
Doris Broecker hat irgendwann aufgehört zu zählen, wie viele Bewerbungen sie in den vergangenen Monaten abgeschickt hat. „Mehrere Dutzend sind es bestimmt“, sagt sie. Ohne Erfolg, bislang bekam die 50-Jährige nur Absagen. Es ist nicht so, dass sie nicht gewusst hätte, dass es schwierig wird, einen neuen Job zu finden. Aber mit jeder Woche, sagt die zierliche Frau mit dem gepflegten Äußeren, schwinde die Hoffnung. Dafür wird die Enttäuschung immer größer, die Traurigkeit – und die Wut.
Mehr als drei Jahrzehnte war Doris Broecker Verkäuferin bei Karstadt in Billstedt, angefangen hat sie mit 15 Jahren als Lehrling in der Damenwäsche-Abteilung. „Wir waren wie eine Familie“, sagt die Barsbüttlerin, und das schließt Kollegen und Stammkunden gleichermaßen ein. Schön war das, aber zum Schluss nicht mehr profitabel genug. Vor ziemlich genau einem Jahr machte der ins Schlingern geratene Warenhaus-Konzern die Filiale im Hamburger Osten dicht. Der gesamten Belegschaft wurde gekündigt. „Die meisten von uns haben noch nichts Neues“, sagt Doris Broecker.
Es gab einen Sozialplan. Gerade einmal eine Handvoll der knapp 80 Beschäftigten kam in anderen Karstadt-Häusern in Hamburg unter. Eine Abendblatt-Anfrage nach der genauen Zahl beantwortete der Essener Konzern nicht. Andere Billstedter Karstadt-Beschäftigte fanden eine Stelle bei der früheren Konkurrenz. Einige haben total umgesattelt, ließen sich etwa zum Busfahrer umschulen. „Ungefähr ein Viertel hat eine neue Stelle“, schätzt Ex-Karstadterin Ingrid Troszczynski. Sie gehört nicht dazu. „Bis Oktober hatte ich noch mein Gehalt, dann musste ich zum Arbeitsamt. Das ist schwer nach 38 Berufsjahren“, sagt 62-Jährige. „Und wenn man dann hört, dass Karstadt jetzt wieder neue Filialen eröffnen will, ist das wie eine Ohrfeige. Wir fühlen uns verraten.“
Vor Kurzem hatte das Karstadt-Management erstmals seit Jahren wieder über die Eröffnung neuer Filialen gesprochen. Zuvor hatte es ein radikales Sparprogramm gegeben. Acht Standorte zwischen Hamburg und Stuttgart wurden seit Mitte 2015 geschlossen, etwa 2000 Mitarbeiter mussten gehen. Zuvor war Karstadt schon aus dem Tarifvertrag ausgestiegen und hatte Verzicht von den rund 14.000 Mitarbeitern gefordert. Im November meldete die Kaufhaus-Kette für das Geschäftsjahr 2014/15 wieder schwarze Zahlen, das operative Ergebnis verbesserte sich um gut 62 Millionen Euro. Auch für das laufende Jahr sieht es positiv aus. „Jetzt ist die Zeit zu Ende, in der wir über Schließungen nachdenken mussten“, sagte Karstadt-Chef Stephan Flanderl kürzlich in einem „Handelsblatt“-Interview. „Wir suchen Wachstum, wollen auch mal wieder eine Filiale eröffnen. Ein neues Warenhaus hat es in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr gegeben.“
In Billstedt ist Karstadt Geschichte. Die Schaufenster des zum Billstedt-Center gehörenden Gebäudes sind mit Plakaten zugeklebt. „Es fehlt etwas, gerade auch in der Grundversorgung“, sagt Hildegard Jürgens, SPD-Bürgerschaftsabgeordnete und Vorsitzende des Regionalausschusses Billstedt. In guten Zeiten kamen 35.000 Kunden am Tag in das Shopping-Center. „Seit der Schließung von Karstadt hat es einen leichten Besucherrückgang von etwa fünf Prozent gegeben“, sagt Christian Stamerjohanns, Sprecher der ECE-Gruppe, die das Center-Management übernommen hat. Die Umsatz-Einbußen seien „erstaunlich gering“.
Johann Heidl sieht das anders. Er verkauft seit 25 Jahren Tabakwaren und Zeitungen im Billstedt-Center. „Jetzt sind immer Parkplätze frei“, sagt der 57-Jährige und registriert „deutlich weniger Kunden“. Das mache sich im Umsatz bemerkbar. So gehe es auch anderen der 110 Läden in dem Center, sagt Heidl. Seit Ende 2015 ist der ehemalige Karstadt-Komplex, immerhin 15.000 Quadratmeter im Besitz der Signature Capital, eine Baustelle. Dort eröffnet die irische Billig-Textilkette Primark auf der Hälfte der Fläche ihre erste Filiale in Hamburg. Einen offiziellen Termin gibt es noch nicht. „Nach unserem Kenntnisstand könnte es noch vor Jahresende sein“, sagt ECE-Sprecher Stamerjohanns. Bis zum Frühjahr 2017 soll der Umbau mit 13 weiteren Shops abgeschlossen sein. Darauf hoffen jetzt alle, Politikerin Jürgens genauso wie Geschäftsinhaber Heidl.
Den ehemaligen Karstadt-Mitarbeitern bringt die Neuausrichtung nichts. „Rund um den Jahrestag der Schließung kommt alles wieder hoch“, sagt Ingrid Troszczynski und kämpft mit den Tränen. Die Einzelhandelskauffrau war schon bei der Eröffnung der Billstedter Filiale 1977 dabei. Ihr Bereich war die Kinderbekleidung. Mit vielen Kollegen verbindet sie eine jahrzehntelange Zusammenarbeit. Auch jetzt noch haben sie Kontakt, über eine WhatsApp-Gruppe. Es gab sogar eine gemeinsame Weihnachtsfeier. „Wir haben immer noch gehofft, dass wir in andere Häuser versetzt werden“, sagt Angelika Mohr. Stattdessen kam im März 2015 die Kündigung – „überbracht von einem Boten“, schimpft die 48-Jährige. Sie hat inzwischen einen neuen Teilzeitjob gefunden. Aber die Verbitterung sitzt tief. „Ich habe meinen Arbeitsplatz geliebt.“
Die Beschäftigten haben auf Gehaltserhöhungen verzichtet
Schrecklich sei es gewesen, als über Wochen alles verramscht worden sei, sagt auch Doris Broecker. Am 29. Mai 2015, einen Tag früher als geplant, informierte schließlich eine Lautsprecherdurchsage die Kunden, dass die Filiale noch an diesem Tag geschlossen werde. Die Mitarbeiter waren kurz zuvor darüber in Kenntnis gesetzt worden. „Wir haben auf Gehaltserhöhungen verzichtet, auf Weihnachts- und Urlaubsgeld, auf die Reduzierung des Mitarbeiterrabatts“, sagt Ex-Karstadterin Angelika Mohr. Genützt hat es ihnen nichts.
„Die Schließung wäre nicht nötig gewesen“, meint Arno Peukes, der für die Gewerkschaft Ver.di in den Tarifverhandlungen mit Karstadt sitzt. Schon früh hatte der Gewerkschafter aus Hamburg kritisiert, das Sortiment in Billstedt entspreche nicht dem Bedarf im Stadtteil. „Es hätte Entwicklungsmöglichkeiten gegeben.“ Dass Karstadt-Chef Flanderl jetzt laut über neue Filialen nachdenkt, verwundert den Ver.di-Mann. Denn auf der anderen Seite sei derzeit keine Tarifeinigung in Sicht. Aktuell sind die Gespräche ausgesetzt, die Vorstellungen liegen weit auseinander.
Für die früheren Angestellten bleibt vor allem das Gefühl, auf der Strecke zu bleiben – aussortiert. „Die Abfindung reicht nicht weit“, sagt Ingrid Troszczynski. Sie überlegt jetzt, trotz erheblicher Abschläge früher in Rente zu gehen. Auch Verkäuferin Doris Broecker fragt: „Bin ich mit 50 Jahren zu alt? Zu erfahren? Oder einfach zu teuer?“ Inzwischen machen Spekulationen die Runde, die einen Deal auf dem Rücken der Mitarbeiter vermuten. Denn nicht nur in Hamburg, auch in Stuttgart zieht Primark in die Ex-Karstadt-Filiale ein.
Früher war Karstadt das Leben der drei Frauen. Jetzt ist es eine Leerstelle. „Seit einem Jahr war ich nicht bei Karstadt“, sagt Ingrid Troszczynski, „Das kann ich nicht.“