Hamburg . Bäckerei Junge verkauft in Lohbrügge Backwaren vom Vortag. Hinter der Theke stehen ehemalige Obdachlose. Die Kunden sind begeistert.
Gegen Mittag reicht die Schlange mal wieder bis auf die Straße. Hinter der Verkaufstheke stehen sie schon zu dritt, trotzdem müssen die Kunden warten. Mit Kennerblick prüft Joachim Herth das Angebot: Croissants, Brötchen und süße Teilchen, in den Regalen liegen Brote unterschiedlichster Sorten. „Ein Urbrot“, bestellt er, als er an der Reihe ist.
Der Bergedorfer ist Stammkunde, fährt mehrfach in der Woche in den Laden im Stadtteil Lohbrügge. „Es ist günstig und gut“, sagt er. 99 Cent bezahlt Herth für den großen runden Laib. Das ist weniger als ein Drittel vom normalen Preis. Da ist dann sogar noch ein Stück Kuchen für ihn drin.
Altes Brot: zu schade für Tierfutterproduktion
Seit Ende März werden in Hamburgs erstem BrotRetter-Laden Backwaren verkauft, die vom Vortag übrig sind. „Wir geben Brot und Menschen eine zweite Chance“, sagt Tobias Schulz, Geschäftsführer der Lübecker Bäckerei Junge, der die Idee gemeinsam mit dem Hamburger Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“ im vergangenen Jahr entwickelt hat.
Fünf ehemals Wohnungslose haben so einen festen Arbeitsvertrag bekommen. Die Bilanz nach den ersten Wochen: Das Geschäft brummt. Zwischen 500 und 700 Brote gehen jeden Tag über die Theke.
„In unseren Filialen lassen sich Backwaren vom Vortag nicht verkaufen. Das geht heute nur noch in ländlichen Gebieten“, sagt Junge-Chef Schulz. Weil die Kunden aber erwarten, dass es bis zum Abend frisches Brot gibt, bleibt viel liegen.
Von den rund 11.000 Broten, die am Stammsitz in Lübeck für die 100 Filialen in Hamburg und Schleswig-Holstein gebacken werden, sind das im Schnitt zehn Prozent. Für Schulz ein Grund zum Handeln. Denn auch wenn die Bäckerei übrig gebliebene Waren an soziale Einrichtungen wie die Lebensmitteltafeln abgibt, geht der größte Teil in die Tierfutterproduktion. „Das ist doch zu schade“, sagt der 47-Jährige.
Fünf neue Jobs für „Hinz & Künztler“
Das zweite Leben der Reste-Brote beginnt morgens um 7 Uhr. Mit einem Lieferwagen holen die BrotRetter aus Hamburg abwechselnd die vorsortierten Backwaren am Stammsitz des Unternehmens ab, die am Vorabend als Retouren zurückgekommen sind. In der Regel sind es fünf große Rollcontainer.
Dann geht es postwendend zurück zum Laden an der Alten Holstenstraße, wo alles so schnell wie möglich in die Regale geräumt wird. Zum Team gehören neben den fünf „Hinz & Künztlern“, alle in schicken schwarzen Polo-Shirts mit BrotRetter-Emblem, vier Junge-Mitarbeiterinnen. Kurz nach 10 Uhr muss alles fertig sein. Beutel mit Schnittbrot gibt es für 49 Cent, ganze Brote kosten 99 Cent oder 1,29 Euro. Dazu kommen Kuchen und Brötchen ab 29 Cent. Dann stehen die Kunden schon vor der Tür und warten auf das Angebot.
Luyna Richert sitzt mit einem Becher Kaffee an einem der Tische vor dem Geschäft und beißt genüsslich in ein Milchhörnchen. Dass bei den BrotRettern fast ausschließlich Waren vom Vortag verkauft werden, hat sie gar nicht mitgekommen. Sie ist zum ersten Mal da, zufällig. „Es schmeckt sehr gut“, sagt die 51-Jährige.
49 Cent hat sie für das Gebäck bezahlt, im normalen Verkauf hätte es einen Euro gekostet. „Das sind Preise, die man sich noch leisten kann“, sagt eine Kundin, die mit einer vollen Tasche das Geschäft verlässt. „Alles picobello.“ Die Kundschaft ist bunt, darunter auch viele, die von der Idee begeistert sind. So wie Rolf Meyer: „Es ist doch besser, als wenn das Brot weggeworfen würde.“
„Es ist eine Superchance“
Er wurde gerade von Ionut Alexa bedient. Dass der 29-Jährige Rumäne vorher noch nie in einer Bäckerei gearbeitet hat, merkt man nicht. Geschickt verpackt er die Brote, tippt die Preise in die Kasse. „Auch die Kaffeemaschine kann ich jetzt bedienen“, sagt er stolz.
Für Alexa ist es der erste feste Job mit Krankenversicherung. Und das gerade rechtzeitig: Im Juli bekommt seine Frau das zweite Kind. Wie die anderen vier BrotRetter hat er inzwischen eine Wohnung und ist mit einem 20-Stunden-Vertrag bei „Hinz & Kunzt“ angestellt. Auch wenn die 600 Euro, die er im Moment im Monat verdient noch nicht zum Leben reichen. „Es ist eine Superchance“, sagt er.
Auch vom Obdachlosen-Projekt gibt es nur Lob für die BrotRetter. „Es findet sich kein Haken“, sagt Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. Zunächst ist das Projekt für ein Jahr gesichert. Aber genau wie Junge-Chef Schulz ist er optimistisch, dass der Laden die Kosten für Miete und Mitarbeiter auch langfristig einspielt.
Eventuelle Überschüsse, so die Verabredung, gehen an „Hinz & Kunzt“. „Es läuft besser als alle erwartet haben“, sagt Karrenbauer und hat schon das nächste Ziel im Auge. „Wenn die fünf ihren Job gut machen, gibt es die Möglichkeit, dass sie ins normale Filialnetz wechseln. Und die nächsten können nachrücken.“
Keine Beschwerden der Konkurrenz
Inzwischen ist der Kundenstrom am Nachmittag abgeebbt. In der Auslage sind die ersten Lücken. „Einmal waren wir schon komplett ausverkauft, und zwar um 15 Uhr“, sagt Junge-Mitarbeiterin Ninoshka Montoya de Bahri. Die Arbeit in der besonderen Filiale mache mehr Spaß, sagt sie. „Die Kunden freuen sich über das Angebot, man bekommt viel Zustimmung.“
Und auch die Konkurrenz, in unmittelbarer Nähe sind sechs weitere Bäckereien, hat bislang keine Kritik angemeldet, so Junge-Geschäftsführer Tobias Schulz. Aus Sicht der Wettbewerbsschützer sind die BrotRetter mit ihren günstigen Preisen sowieso nicht zu beanstanden.
„Das ist Social Sponsoring und deshalb zulässig“, sagt Andreas Ottofülling von der Wettbewerbszentrale. Möglicherweise ist das Projekt auch der Beginn eines neuen Trends. „Wir haben Anfragen aus ganz Deutschland von Bäckereien, die wissen wollen, wie wir das machen“, sagt Tobias Schulz und lächelt – stolz.