Hamburg. Serie “Angekommen in Deutschland“: Der Schweizer Ökonom Thomas Straubhaar rät zu mehr Zuversicht und nimmt alte Prognosen auseinander.

Er ist gebürtiger Schweizer, Gründer des Hamburgischen Weltwirtschafts­instituts HWWI, Universitätsprofessor, Migrationsexperte – und seit einigen Jahren deutscher Staatsbürger. Mit Thomas Straubhaar sprach Matthias Iken.

Hamburger Abendblatt: Herr Straubhaar, Sie haben gerade ein Buch zum demografischen Wandel geschrieben mit dem Titel: „Der Untergang ist abgesagt“. Was macht Sie da so optimistisch?

Thomas Straubhaar: Vor einem Jahr hat das Statistische Bundesamt noch vor einem dramatischen Bevölkerungsrückgang gewarnt, Beratungsunternehmen sagten einen Mangel von 15 Millionen Facharbeitern voraus – und heute spüren wir: Deutschland ist ein extrem attraktives Land und wird sich einiger Probleme auch als Folge der Zuwanderung entledigen. Wir sollten uns durch solche Horrorszenarien nicht verunsichern lassen. Die Angst vor dem demografischen Wandel ist schlimmer als der demografische Wandel selbst. Ähnlich ist es bei der Zuwanderung: Auch die Angst vor Zuwanderung ist gefährlicher als die Zuwanderung selbst. Wir sollten beides nicht als Gefahr sehen, sondern als Chance.

In ihrem Buch sagen sie aber deutlich, dass die Zuwanderung kein Allheilmittel ist ...

Straubhaar : Das ist auch so. Man sollte die Zuwanderung in ihren Auswirkungen prinzipiell nicht überschätzen – und zwar in beide Richtungen. Einwanderung ist weder eine eierlegende Wollmilchsau, die alle Probleme etwa des Fachkräftemangels löst, noch beschwört sie den Untergang Deutschlands herauf. Eins ist klar: Die Zuwanderung ist sicher nicht die Schicksalsfrage Deutschlands.

Sondern?

Straubhaar : Die Rentenfrage und die Sicherung der Sozialsysteme sind für das Land viel wichtiger. Hier hat die Große Koalition durch Nichtstun beziehungsweise falsche Entscheidungen schon viel Zeit verloren.

Zurück zur Einwanderung. Viele Menschen fürchten Zuwanderung. Woher rührt die Angst?

Straubhaar : Vielfalt, also Heterogenität, kann einer Gesellschaft positive Impulse geben, sie beleben und etwa einer Vetternwirtschaft vorbeugen. Sie birgt aber auch Gefahren, weil ein Konsens schwieriger zu erzielen ist und die gemeinsame Basis schmilzt. Dieses Sozialkapital ist unfassbar wichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, für Moral, Anstand, Benimmregeln, das Zusammengehörigkeitsgefühl und damit für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Mehr Diversität ist nicht per se besser. Allerdings ist Vielfalt nicht nur eine Frage der Herkunft, sondern auch beispielsweise eine Frage des Alters oder der Bildung.

Es gibt Studien, die besagen, dass mit steigender Einwanderung die Bereitschaft sinkt, den Sozialstaat zu finanzieren.

Straubhaar : Genau deshalb gibt es ja auch keinen europäischen Sozialstaat. Dafür mangelt es an Zusammengehörigkeitsgefühl, das Nationen eher aufbringen können.

Müssen wir also ähnlicher werden? Sollten sich die Zuwanderer uns angleichen, sollten wir Assimilation zum Ziel erklären?

Straubhaar : Zu einem gewissen Grad ja. Deshalb bin ich persönlich ja auch Deutscher geworden. Wenn es etwas gibt, dass deutsch ist, ist es das Grundgesetz. Unser Rechtsstaat funktioniert richtig gut. Es ist hinlänglich bewiesen, dass ein Land mit effektiv funktionierenden Institutionen auch wirtschaftlich erfolgreicher ist. Aber ein funktionierender Rechtsstaat muss verteidigt werden, er darf nicht ausfransen. Auch als Liberaler muss man sagen: Der Rechtsstaat muss die Mittel haben, Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen. Da haben wir in den vergangenen Jahren gesündigt und die Polizei zu sehr ausgedünnt und an den Rand gedrängt. Das war ein Fehler.

Besitzen Sie die doppelte Staatsbürgerschaft?

Straubhaar : Ja, ich habe beide. Ich hätte meine Schweizer Staatsbürgerschaft nicht aufgeben können, allein aus Respekt gegenüber meinen Eltern und weil ich meine Herkunft nicht verleugnen will. In vielen Punkten aber denke ich heute eher deutsch als schweizerisch, auch wenn ich Schwyzerdütsch spreche. Ich empfinde schon eine Dankbarkeit, dass ich hier in diesem Land mein Leben leben und erfolgreich sein kann.

Die Schweiz verfolgt eine ganz andere Einwanderungspolitik als Deutschland. Die Eidgenossen stellen sich vor allem die Frage, welche Zuwanderer ihnen nützen, die Deutschen eher die Frage, welcher Zuwanderer des Schutzes bedarf. Was ist klüger?

Straubhaar : Kurzfristig mag der Schweizer Weg ökonomisch der klügere sein, der deutsche aber ist humanitär. Mich hat die Zuwanderungsdebatte schon als Kind geprägt. Damals kamen viele Italiener als Gastarbeiter in die Schweiz. Wir hatten die Herausforderung Integration jeden Tag auf dem Schulhof. Das hat mich bewogen, in der Schule Italienisch statt Englisch zu lernen. Später habe ich mich dann als Wissenschaftler mit dem Thema befasst. Der Schweizer Sonderweg ist sehr harsch, aber erfolgreich. Allerdings darf man eins nicht übersehen: Trotz der Zuzugsbeschränkungen hat die Schweiz eine der höchsten Ausländerquoten in Europa – übrigens deutlich höher als in Deutschland.

Möglicherweise auch deshalb, weil viele Rennfahrer, Unternehmer und Zahnärzte über die Grenze ziehen.

Straubhaar : Ja, die vielen Deutschen gehen manchen Schweizer schon auf den Wecker. Aber die Schweiz versteht sich als Willensnation und ist immer schon sehr heterogen gewesen, mit mehreren Sprachen, Religionen und Kulturen. Man kann sich über Leistung und Erfolg integrieren.

Wenn man hineinkommt ...

Straubhaar : Ja, gegen Flüchtlinge setzt die Schweiz auf Abschreckung. Über das Dublin-Abkommen hat sie alle Schutzsuchende in sichere Drittstaaten zurückgeschickt. Deutschland hat den Fehler gemacht, dieses Abkommen nicht mehr konsequent angewendet zu haben. Und trotzdem möchte ich Angela Merkel nicht kritisieren – die Öffnung der Grenzen für die Flüchtlinge in Budapest Anfang September war eine große humanitäre Geste. Sie hätte nur nicht zu einem Monate währenden Dauerzustand werden dürfen.

Wenn die Flüchtlinge in Zukunft über Italien kommen, könnte die Schweiz in die Rolle von Ungarn geraten ...

Straubhaar : Und würde die Grenzen genauso schließen. Auf eine harte Abschottungspolitik wird allein schon die Schweizer SVP drängen, die mit der AfD vergleichbar, aber ungleich stärker ist.

Reden wir über Chancen der Einwanderung. Was müssen wir tun, um Integration zu ermöglichen?

Straubhaar : Verschiedene Wissenschaftler – auch von der Universität Hamburg – haben Erfolgsfaktoren für Integration untersucht und dabei russisch- und türkischstämmige Deutsche verglichen. Die beiden Gruppen unterscheiden sich erheblich. Eine Erklärung ist, dass die Türken immer Gäste waren und die Russen sofort Deutsche wurden. Wenn du Gast bist, bleibst du Gast und verhältst Dich wie ein Gast; gehörst du aber dazu, integrierst du dich. In der zweiten und dritten Generation unterscheiden sich Russischstämmige kaum von Deutschen, bei den Türken gibt es noch immer große Unterschiede. Die Staatsangehörigkeit ist ein unglaublich wichtiger Faktor.

Was heißt das für die Flüchtlinge in Deutschland?

Straubhaar : Wir müssen den Flüchtlingen schnell eine allgemeine Arbeitserlaubnis und Niederlassungsfreiheit gewähren. Je mehr wirtschaftliche Rechte sie haben, umso größer wird der Anreiz zur Integration und der Wille dazu.

Wäre nicht eine Obergrenze hilfreich, um zu definieren, was eine Gesellschaft zu leisten imstande ist?

Straubhaar : Nein, da bin ich strikt gegen. Eine Obergrenze für Flüchtlinge halte ich für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Was sollen wir tun, wenn das Kontingent erschöpft ist – und dann kommt ein unzweifelhaft politisch Verfolgter? Die Schweizer haben damals den flüchtenden Juden aus Nazideutschland gesagt, das Boot sei voll. Das ist bis heute ein Schandfleck in der Geschichte.

Passt dieser Vergleich? Damals flohen die Menschen aus Nazideutschland und hatten keine Alternative, nun kommen die Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten wie Österreich.

Straubhaar : Aber das spricht nicht für Obergrenzen, sondern die Rückkehr zu den Dublin-Regeln. Lasst uns Europas Außengrenzen gemeinsam sichern, lasst uns Griechenland helfen. Und warum wagen wir nicht ein neues Denken in Europa? Wir könnten doch aus europäischen Töpfen jedem Flüchtling 5000 oder 10.000 Euro mitgeben, die dann jenes Land bekommt, in dem er sich niederlässt. Das würde Anreize zur Umverteilung und zur Integration schaffen. Und es birgt für Länder etwa wie Griechenland eine wirtschaftliche Chance. Wobei ich schon glaube, dass Deutschland in Europa die besten Möglichkeiten zur Integration bietet.

Was können wir besser?

Straubhaar : Wir haben zwei Dinge, die extrem wichtig sind: Eine gute wirtschaftliche Entwicklung und das duale Ausbildungssystem. Gerade für Jugendliche mit Migrationshintergrund ist das ein unfassbar wichtiger Faktor, weil es den Zugang zu Jobs ermöglicht. Wenn wir die Jugendarbeitslosigkeit vergleichen, steht Deutschland viel besser da als seine Nachbarn. Die Radikalisierung junger Menschen hat ja viel mit mangelnden Perspektiven zu tun.