Altstadt. Der Hamburger Bürgermeister nahm sich ausführlich Zeit, die Fragen der Abendblatt-Leser zur Flüchtlingskrise zu beantworten.
Auch nach dem Ende der eineinhalbstündigen, intensiven und temperamentvollen Diskussion waren noch nicht alle Fragen beantwortet. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) war von Abendblatt-Lesern umlagert. Die einen wollten schnell noch ihre Kritik loswerden, die anderen dem Bürgermeister für seine Politik danken. Zum Auftakt des Abendblatt-Flüchtlingsgipfels stand Scholz zuerst Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider Rede und Antwort, dann waren die Leserinnen und Leser am Zug. Wir dokumentieren die Diskussion in Auszügen.
Wie lange wird uns die Flüchtlingskrise noch beschäftigen?
Olaf Scholz: Das weiß niemand. Und wenn jemand es behauptet, dann sollte man ihm nichts mehr glauben. Gegenwärtig ist es so, dass der Zuzug von Flüchtlingen über die Balkanroute deutlich abgenommen hat. Das liegt daran, dass es in Ansätzen jedenfalls gemeinsame europäische Außengrenzen gibt und wir uns besser mit der Türkei und anderen Anrainerstaaten verständigen als das früher der Fall war. Aber jeder weiß, dass wir damit rechnen müssen, dass wieder mehr Flüchtlinge von der nordafrikanischen Küste über das Mittelmeer nach Europa kommen werden, wenn der Sommer da ist.
Olaf Scholz: Nicht jeder Flüchtling, der will, kann zu uns kommen
Das heißt aber, dass Sie die Zahl der für Hamburg erwarteten Flüchtlinge – 40.000 für 2016 – keinesfalls korrigieren werden, oder?
Scholz: Bis zum Ende des vergangenen Jahres haben wir 39.000 Plätze für die Menschen aufgebaut, die in den letzten drei Jahren zu uns gekommen sind, und für 3000 Wohnungslose. Wenn genau so viele kommen wie in der zweiten Jahreshälfte 2015, dann bräuchten wir noch einmal 40.000 Plätze. Im Moment sieht es so aus, dass es weniger werden. Genauer werden wir das erst im Sommer abschätzen können. Wir müssen aber immer weiterdenken. Wenn die Lage in diesem Jahr besser wird, heißt das nicht, dass in den folgenden Jahren keiner mehr kommt.
Wann kann Hamburg Zelte und Baumärkte räumen?
Scholz: Das weiß ich nicht. Ich hoffe, dass wir ein paar Baumärkte aufgeben können. Aber es wird sicherlich im nächsten Jahr auch noch welche geben. Zelte, so hoffe ich, brauchen wir nur noch als Notfallreserve, falls wieder einmal 10.000 Flüchtlinge in einem Monat kommen.
Wie ist die Lage verglichen mit September 2015?
Scholz: Entspannter. Und die Lage wird sich noch weiter entspannen, wenn wir im Mai die neue Zentrale Erstaufnahme am Bargkoppelweg in Meiendorf in Betrieb nehmen. Dann sind wir an neue deutschlandweite Computer angeschlossen. Damit wissen wir innerhalb von einer Viertelstunde, ob jemand sich schon woanders angemeldet hat. Und es wird an Ort und Stelle entschieden, ob ein Flüchtling in Hamburg bleibt oder in ein anderes Bundesland geschickt wird. Und die Asylanträge derer, die in Hamburg bleiben, sollen – gleich nebenan am Bargkoppelstieg – innerhalb von 48 Stunden entschieden werden. Das ist ein riesiger Fortschritt.
Hat es Sie überrascht, dass es einen Volksentscheid geben könnte?
Scholz: Nein, weil ein Volksentscheid möglich ist. Deshalb muss man immer damit rechnen, dass es so kommt.
Können Sie die Sorgen und Ängste der Menschen verstehen?
Scholz: Ich akzeptiere immer, was jemand sagt. Auch, dass er zwar für die Aufnahme von Flüchtlingen ist, aber Integration in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht für möglich hält. Entscheidend ist, dass wir eine reale Debatte darüber führen, was geht und was nicht. So prüfen wir gemeinsam, wo es Straßen, Landschaftsschutzgebiete oder Wohnsiedlungen gibt, welche Grundstücke der Stadt gehören, welche nicht, welche man kaufen kann, welche nicht. Dann stellen sicher alle fest, dass es schwer ist. Wir wissen manchmal morgens auch nicht, wie es abends weitergehen soll. Wenn bei der Suche nach Flächen für Flüchtlingsunterkünfte jeder sich Mühe gibt und Verantwortung übernimmt, dann wird man rasch merken, dass wir gar nicht so weit auseinanderliegen.
Unterstellen Sie den Menschen, die einen Volksentscheid wollen, dass sie keine Integration wollen, jedenfalls nicht in ihrem Stadtteil?
Scholz: Ich habe mir fest vorgenommen, niemandem etwas zu unterstellen.
Was machen Sie, um den Volksentscheid zu verhindern?
Scholz: Es gibt vor Ort viele Gespräche, mit den Bezirksversammlungen, mit der Verwaltung, an zentraler Stelle. Ich hoffe, dass wir am Ende einen Konsens aus gemeinsamer Einsicht und Verantwortung erreichen.
Muss es nicht das Hauptinteresse der weltoffenen Stadt Hamburg sein, den Volksentscheid zu verhindern?
Scholz: In der Tat würde der Eindruck entstehen, dass Hamburger über Ja oder Nein zu Flüchtlingen abstimmen. Deshalb bemühen wir uns, ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen.
Könnte es am Ende dazu kommen, dass Gerichte sich mit dem Inhalt eines Volksentscheids beschäftigen?
Scholz : So weit sind wir noch nicht. Aber natürlich muss das, worüber abgestimmt wird, mit der Verfassung und den Gesetzen Deutschlands übereinstimmen. Hamburg ist gesetzlich verpflichtet, eine bestimmte Anzahl Flüchtlinge unterzubringen. Nichts darf dazu führen, dass das verhindert wird. Der Vorschlag der Volksinitiativen führte letztlich dazu, dass an 300 bis 400 Orten in Hamburg Flüchtlingsunterkünfte geschaffen werden müssten. Das ist sehr schwer. So viele Standorte müsste man erst einmal finden. Allerdings sind wir in einem Gespräch und ich möchte diesen Prozess nicht negativ beeinflussen.
In welchem Maße setzen Sie sich dafür ein, Fluchtursachen zu beseitigen?
Scholz: Es ist richtig, dass wir die Fluchtursachen bekämpfen. Aber hieße das, dass in Syrien ein Bundeswehreinsatz nötig ist? Das haben Sie sicherlich nicht gemeint. Und wir können nicht jedes Problem auf der Welt lösen. Aber wenn Menschen politisch oder wegen ihrer Religion verfolgt werden oder vor Krieg fliehen, muss Europa sich immer zuständig fühlen. Wichtig dafür ist eine funktionierende Außengrenze mit Kontrolle, Zaun und Grenzpolizei. Denn zur Wahrheit gehört auch: Offene Grenzen, sind keine Lösung. Dass jeder nach Europa kommen kann, der das möchte, dazu haben wir nicht die wirtschaftliche Kraft und nicht die moralischen Überzeugungen, das zu ertragen, was die Folge davon wäre. Die Folge wäre, dass wir den Menschen dann nicht mehr angemessen helfen können. Das will ich nicht. Hamburg hat im vergangenen Jahr 2015 fast 600 Millionen Euro für Flüchtlinge ausgegeben: für Unterkunft und für Integration. Das ist in etwa der Etat, den wir für die Hamburger Hochschulen haben.
Wie kommen Sie dazu, meine Steuergelder auszugeben, um eine Million Flüchtlinge in Deutschland zu alimentieren statt in den Anrainerstaaten, wo es viel billiger gewesen wäre?
Scholz: Es war ein Fehler, dass die Weltgemeinschaft nicht genug Geld für die Flüchtlingscamps im Libanon, in Jordanien und der Türkei bereitgestellt hat, als es nötig war. Da sind schlicht Menschen vor Hunger geflohen. Hätte die Weltgemeinschaft das besser gemacht, hätte es diese Fluchtbewegungen vermutlich nicht gegeben. Ich glaube, dass wir als eines der reichsten Länder der Erde Flüchtlinge aufnehmen müssen. Gerade vor dem Hintergrund unserer nationalsozialistischen Vergangenheit. Allerdings: Wer sich nicht auf den im Grundgesetz verankerten Anspruch auf Asyl berufen kann oder kein Kriegsflüchtling ist, der muss akzeptieren, dass wir ihn wieder zurückschicken. Dazu müssen wir Verfahren aufbauen, die das effizienter erledigen.
Meiner Ansicht nach ist es eine Unverschämtheit, dass man den Leuten hierzulande in die Tasche greift und sie als Menschen zweiter Klasse behandelt. Was sagen Sie dazu?
Scholz: Wir tun alles dafür, dass die Bürger keine Beeinträchtigung haben durch die Flüchtlinge. Deshalb habe ich entschieden, dass anders als in jedem anderen Bundesland keine Schulturnhallen für die Aufnahme von Flüchtlingen genutzt werden. Wir haben dafür gesorgt, dass es keine Verschlechterung in Kitas und Krippen und Schulen gibt. Vielmehr wurde dort umgehend das Angebot ausgeweitet. Wir haben dafür gesorgt, dass alle Flüchtlingskinder sofort zu Schule gehen. Was ich nicht vermeiden kann, ist, dass die Flüchtlinge irgendwo sein müssen, dass wir Unterkünfte schaffen müssen in einer Geschwindigkeit, für die unsere Gesetze in Deutschland nicht gemacht wurden.
Ich finde, dass wir aufgrund unserer Geschichte verpflichtet sind, dass Roma und Sinti hier leben können, wenn sie es wollen. Stimmen Sie mit mir überein, dass es falsch ist, wenn Roma und Sinti einen Asylantrag stellen müssen?
Scholz: Nein. Wir können keine Regeln machen, wonach Angehörige einer Volksgruppe immer pauschal als Asylbewerber anerkannt werden. Es gibt eine völlig andere Perspektive: Für die Länder des westlichen Balkans, die zur EU gehören, wo viele Roma und Sinti leben, gilt Freizügigkeit innerhalb der EU. Wer dort lebt und sich diskriminiert fühlt, kann versuchen, ob er anderswo bessere Chancen hat. Das ist der Weg auch derjenigen Länder des westlichen Balkans, die gegenwärtig eine Beitrittsperspektive zur EU haben.
Ich mache mir Sorgen über wachsenden Rechtsradikalismus. Muss ich meine Kontakte nach Kanada intensivieren, um dorthin auswandern zu können?
Scholz: Nein. Es ist wahr, gerade in Gesellschaften mit sehr viel Wohlstand gibt es auch sehr viel schlechte Laune. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft – das ist eine sehr europäische Tradition. Wenn wir uns in Europa zusammenschließen, geht es darum, diese Werte hochzuhalten. Zusammen sind wir 500 Millionen in einer Welt, die bald zehn Milliarden Bewohner haben wird.
Warum kann man den Königsteiner Schlüssel, der die Stadtstaaten bei der Verteilung der Flüchtlinge benachteiligt, nicht ändern?
Scholz: Schöne Frage. Keines der Flächenländer ist für eine Veränderung des Schlüssels. Wir brauchen dafür aber eine 16:0-Entscheidung der Länder, die es bestimmt nie geben wird. Das meiste kann nicht von uns allein bewegt werden. Der Schlüssel bringt uns durchaus auch Vorteile, manchmal bekommen wir auch mehr Geld. In Schleswig-Holstein und Niedersachsen können wir jetzt mit deren Zustimmung Unterkünfte errichten. In Mecklenburg-Vorpommern haben wir schon welche.
Wie wollen Sie verhindern, dass die geplanten Großunterkünfte für Flüchtlinge zu sozialen Brennpunkten werden?
Scholz: Wir planen keine Großsiedlungen. Großsiedlungen haben wir in den 1960er- und 1970er-Jahren gebaut, mit 3500 oder sogar 9500 Wohnungen. Das größte Bauvorhaben wird knapp 800 Wohneinheiten umfassen. Eigentlich ist das etwas ganz Tolles: Statt dass wir Menschen 15 Jahre in Modulhäusern leben lassen, bauen wir ganz normale Wohnungen, die später dem allgemeinen Wohnungsmarkt für jedermann zur Verfügung stehen. Und um Ihre Frage direkt zu beantworten: Um problematische Entwicklungen zu verhindern, brauchen wir Kitas, Krippen und Schulen. Wir brauchen Sozialarbeiter vor Ort, die Menschen müssen möglichst schnell Deutsch lernen. Und so schnell wie möglich müssen wir eine Mischung der Bewohnerstruktur ermöglichen, damit dort nicht nur Flüchtlinge leben. Alles das werden wir tun.