Thomas Frankenfeld stellt unsere Nachbarländer vor, analysiert ihr Verhältnis zu Deutschland und wie sie mit Flüchtlingen umgehen.
Wie der mittelalterliche böhmische Chronist Cosmas von Prag (1045– 1125) zum Jahr 644 berichtete, habe ein Mann namens Cech (Tschech) sein Volk aus dem Gebiet zwischen Weichsel und Dnjpr nach Westen in ein Land geführt, das seit der Sintflut menschenleer gestanden habe.
Cech, im Lateinischen Boemus genannt, habe seinem Volk das neue Land vom Berg Rip aus gezeigt und dort dann den Staat Cechy gegründet. Der geradezu biblisch anmutende Gründungsmythos um Urvater Cech – der Name bedeutet Böhmen – spiegelt sich heute in den Namen Tschechien und Böhmen wider.
Zentrum von Wissenschaft, Kunst und Politik
Deutschlands Nachbar Tschechien ist als staatliches Gebilde sehr alt; der erste tschechische Staat entstand bereits im neunten Jahrhundert durch die Vereinigung des Herzogtums Böhmen mit der Markgrafschaft Mähren, woraus im Jahr 1085 schließlich das Königreich Böhmen wurde. Und er ist zugleich jung, denn der heutige Staat Tschechien wurde erst 1993 gegründet, nachdem sich die bis dahin bestehende Tschechoslowakei geteilt hatte.
Tschechien mit seiner eindrucksvollen Hauptstadt Prag zählt zu den fruchtbarsten Kulturregionen Europas. Man denke nur an die Komponisten Antonín Dvorak und Bedrich Smetana oder an Franz Kafka. Die 1348 von Karl IV. als böhmischem König gegründete Karls-Universität ist die älteste Universität nördlich der Alpen.
Als Karl IV. 1355 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde, wählte er Prag zur Residenzstadt. Ab 1526 zählte das Königreich Böhmen zum Herrschaftsgebiet der Habsburger – das blieb so bis Ende des Ersten Weltkrieges 1918. Kaiser Rudolf II. zog 1583 mit dem Hof von Wien nach Prag – das damit wieder zu einem europäischen Zentrum von Wissenschaft, Politik und Kunst wurde. Und Prag war 1618 auch der Schauplatz des berühmten „Fenstersturzes“, der den Aufstand der Böhmen gegen den Kaiser und damit den Dreißigjährigen Krieg einleitete.
Die Zeit des Nationalsozialismus
Nach dem Ersten Weltkrieg schloss sich die bis dahin administrativ Ungarn unterstellte Slowakei Tschechien an; es entstand die Tschechoslowakei, die zunächst bis 1938 Bestand hatte. Entlang der Grenze zu Deutschland und Österreich lebten im Sudetenland viele Deutsche; deren Anspruch auf staatliche Souveränität wurde aber von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges verworfen.
Als Adolf Hitler nach dem „Anschluss“ Österreichs mit dem Einmarsch in das Sudetenland drohte, opferten Großbritannien und Frankreich im „Münchner Abkommen“ das Sudetenland, um einen drohenden Krieg zu verhindern. Diese völlige Fehleinschätzung des Charakters von Adolf Hitler ist als „Appeasement“-(Beschwichtigungs-)Politik berüchtigt geworden.
Nach dem Einmarsch in die „Rest-Tschechei“ errichtete das NS-Regime das „Protektorat Böhmen und Mähren“. „Reichsprotektor“ wurde eine der entsetzlichsten Gestalten des NS-Terrors: SS-Obergruppenführer (Generalleutnant) Reinhard Heydrich, der Organisator des Massenmordes an den Juden in Europa.
Als tschechische Partisanen Heydrich 1942 bei einem Attentat tödlich verletzten, ermordete die deutsche Besatzungsmacht als Vergeltungsmaßnahme die Einwohner der Orte Lidice und Lezaky. Drei Jahre später begann in Prag der militärische Aufstand gegen die deutsche Besatzung. Und am 9. Mai 1945 marschierten sowjetische Truppen in Prag ein. Es ist diese dunkle Zeit, die das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen bis heute überschattet.
Die „Benes-Dekrete“
Noch ein anderer historischer Vorgang in dieser Zeit, diesmal ausgelöst von der tschechischen Seite, hat das Verhältnis lange stark belastet. Der aus dem Exil zurückgekehrte tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Benes hatte bereits 1943 in einer von Großbritannien aus gesendeten Rundfunkansprache Rache an den Deutschen geschworen.
Nun, nach Kriegsende, wurden aufgrund der „Benes-Dekrete“ rund drei Millionen Deutsche entschädigungslos enteignet und als „Staatsfeinde“ gewaltsam aus dem Land getrieben. Zehntausende Deutsche kamen bei Massakern und Todesmärschen ums Leben.
Der „Prager Frühling“
Doch auch den Tschechen war kein Frieden vergönnt. Gelenkt von Moskau, errichtete die Kommunistische Partei einen sowjetischen Satellitenstaat. Wer sich querstellte, wurde nach Schauprozessen liquidiert.
Doch 1968 wurde der Reformer Alexander Dubcek Parteichef. Die Zensur wurde aufgehoben; mit ungläubigem Staunen blickte die Welt auf den „Prager Frühling“, der einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ anstrebte, mit Versammlungsfreiheit und Unternehmertum. Am 21. August 1968 schlug das Imperium zurück; sowjetische und Truppen des Warschauer Paktes, darunter die ostdeutsche NVA, besetzten die Tschechoslowakei, das zarte Pflänzchen der Freiheit wurde unter Panzerketten zermalmt.
Diese Maßnahme erhöhte den Druck im Kessel der sowjetischen Zwangsherrschaft und trug mit bei zu deren Implosion. Es entstand die Bürgerbewegung „Charta 77“, deren Bedeutung und Einfluss stetig wuchs. In der „samtenen Revolution“ wurde das kommunistische Regime 1989 aus den Ämtern gefegt.
Das Ende der alten Tschechischen Republik
Wie tief greifend der Wandel war, lässt sich an einer Personalie festmachen: Der Dramatiker und Bürgerrechtler Vaclav Havel, erbitterter Gegner der Kommunisten und Initiator der „Charta 77“, wird letzter Staatspräsident der Tschechoslowakei und 1993 erstes Staatsoberhaupt der Tschechischen Republik.
Denn 1992 beschlossen die politischen Führungen in Tschechien und der Slowakei – übrigens gegen den Willen der Mehrheit ihrer Bevölkerungen – eine Trennung in zwei unabhängige Staaten.
Abschottungspolitik in der Flüchtlingskrise
In der Flüchtlingskrise reagiert Tschechien rigoros wie kein anderes Land Europas. „Eine Nation macht die Tür zu“, schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Verdrängt wird, dass nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 mehr als 300.000 Tschechen in Nachbarländer flohen und meist freundlich aufgenommen wurden. Die harte Abschottungspolitik Tschechiens, Ungarns und der Slowakei ist für Frankreichs Außenminister Laurent Fabius „unbarmherzig“.
Eine Rolle mag dabei spielen, dass Tschechien das wohl säkularste Land in Europa ist. Nur 10,3 Prozent bekannten sich 2011 in einer Volkszählung zum katholischen, 0,9 Prozent zum protestantisch Glauben. Die starke Religiosität vieler Flüchtlinge ist den meisten Tschechen unheimlich.
Der tschechische Politologe Jiri Pehe von der New York University, einst selber Flüchtling und später politischer Berater Vaclav Havels, nennt sein Land in der FAZ eine „Nation, die ihrer selbst unsicher“ sei, ein „mehrfach traumatisiertes Land“.
Damit im Zusammenhang steht vermutlich auch der jüngste Vorstoß der Regierung, den Staatsnamen „Tschechische Republik“ durch „Tschechien“ zu ersetzen.Seit Mitte April ist „Tschechien“ zweite offizielle Staatsbezeichnung. Außenminister Lubomir Zaoralek argumentierte, ein kurzer Name sei besser zu vermarkten.
Zudem werde das Etikett „Tschechische Republik“ in anderen Staaten falsch verstanden und oft verstümmelt. Ein Diplomat ergänzte, man verwechsele sein Land oft mit Tschetschenien; auch habe er schon die Sprachversion „Chicken-Republik“ gehört – was in der deutschen Übersetzung recht uncharmant zur „Hühner-Republik“ wird.
Uno spricht von systematischen Menschenrechtsverletzungen
In der sozialistischen Isolation konnten die Tschechen kaum Erfahrungen mit Ausländern sammeln. In Umfragen erklären fast zwei Drittel, es wäre besser für das Land, aus der EU auszutreten. Die geringe Zahl Flüchtlinge, die in Tschechien landeten, wurde für 40 bis 90 Tage in geschlossenen Einrichtungen untergebracht und meist schlecht betreut.
Der Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, Said al-Hussein, sprach von systematischen Menschenrechtsverletzungen als offenbar integralem Bestandteil der tschechischen Politik. Deren Ziel sei es, Menschen davon abzuhalten, in das Land einzureisen. Auch Kinder würden auf diese Weise weggesperrt. Selbst Tschechiens Justizminister Robert Pelikan räumte entsetzt ein, im Auffanglager Bela-Jezova 80 Kilometer nordöstlich von Prag herrschten Zustände, die schlimmer seien als im Gefängnis.
Eine große Rolle in diesem Drama spielt Staatspräsident Milos Zeman. Der linkspopulistische Politiker wird nicht müde, mit teilweise drastischen Äußerungen vor einer „Islamisierung“ Tschechiens zu warnen. Dabei wird der Bevölkerungsanteil der Muslime in Tschechien auf etwa 0,2 Prozent geschätzt. Gerade einmal 1400 Flüchtlinge haben 2015 Asyl beantragt – in 70 Fällen wurde positiv beschieden.
71 Prozent sind gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien und Irak
Zeman, seit März 2013 im Amt und der erste direkt vom Volk gewählte Präsident, nannte den Islam im November 2015 eine „Kultur von Mördern und religiösem Hass“. Die „einzige Lösung“ sei die Deportation von „Wirtschaftsflüchtlingen“; überhaupt sei es „unmöglich, Muslime in die europäische Gesellschaft zu integrieren“. Zemans Popularität hat aufgrund seiner harten Haltung gegenüber Flüchtlingen einen starken Aufschwung erfahren.
In einer Umfrage im Januar stuften 82 Prozent der Tschechen Flüchtlinge als „ernste Bedrohung für die Sicherheit des Landes“ ein. Im Juni 2015 hatten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CVVM 71 Prozent klar gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak votiert.
Zwar nimmt kaum ein anderer Staat in Europa in der Flüchtlingsfrage eine so rigorose Position ein, doch den Tschechen pauschal Fremdenfeindlichkeit zu unterstellen wäre nicht gerechtfertigt. Längst regt sich auch Widerstand gegen diesen Kurs. Die „Frankfurter Rundschau“ zitierte den prominenten Wissenschaftler Vaclav Horejsi, der die „überzogene Hysterie“ bezüglich der Flüchtlinge kritisierte. „Ich schäme mich fast dafür, wie die Bevölkerung der Politik auf den Leim geht.“ Wie fast 3000 weitere Wissenschaftler und Akademiker hat er ein Manifest unterzeichnet, das sich gegen die Fremdenfeindlichkeit wendet. Sogar drei Minister der Mitte-links-Regierung unterschrieben – unter ihnen Vizepremier Pavel Belobradek.