Der Kabarettist Kerim Pamuk zog als Neunjähriger aus der Türkei nach Winterhude. Er hält Zuwanderern wie Deutschen den Spiegel vor.

Kerim Pamuk bezeichnet sich selbst als „Hamburger Türke“. 1972 zogen seine Eltern nach Deutschland, 1979 holten sie ihre Kinder nach. Damals war Pamuk neun Jahre alt – und integrierte sich schnell. Inzwischen feiert der Eimsbütteler als Autor und Kabarettist bundesweit Erfolge. Mit ihm sprach Matthias Iken.

Hamburger Abendblatt: Wenn du heute die Bilder von Flüchtlingskindern siehst, kommen da eigene Erinnerungen in dir hoch?

Kerim Pamuk: Kaum. Ich kam ja in einer ungleich besseren Situation nach Deutschland – meine Eltern haben mich nachgeholt, ich bin geflogen. Aber ich kenne die Fremdheit, wenn man in einem anderen Land ist, und nichts ist einem vertraut. Man fühlt sich wie ein Außerirdischer und braucht lange, um wirklich Kontakt aufzunehmen.

Was war dein erster Eindruck von Deutschland?

Pamuk: Ich habe mich gewundert, wie leise hier alles ist. Obwohl ich aus einer Kleinstadt an der Schwarzmeerküste in eine deutsche Großstadt umzog, war es unglaublich still. Niemand schrie quer über die Straße, aus keinem Laden schepperte übersteuerte Musik nach draußen. Zuerst habe ich gedacht, wir sind in einem Wald gelandet, weil wir im Sommer ankamen und alles so grün war. Später hat sich aber auch das Grau der Stadt eingebrannt. Am Anfang hatte ich oft Heimweh. Ich bin ja bei meinem Großvater aufgewachsen und kannte meine Eltern nur aus dem Jahresurlaub in der Türkei.

Wie lange hat es gedauert, in Deutschland anzukommen?

Pamuk: Das ging ziemlich schnell. Meine Eltern hatten sich bewusst entschieden, in einem deutschen Umfeld zu leben. In Winterhude war der Ausländeranteil gering, sehr gering. Es gab in meiner Grundschule nur ein paar Türken. Ich konnte also sprachlich nicht in eine andere Welt flüchten. Zu Hause lebten wir zwar „türkisch“, außerhalb der Wohnung aber war alles „deutsch“. Nach zwei Jahren war ich im Deutschen sattelfest.

Was wäre aus dir geworden, wenn deine Eltern nicht nach Winterhude, sondern nach Wilhelmsburg gezogen wären?

Pamuk: Keine Ahnung, ein Imbisschef oder ein anderer anständiger Beruf wäre es auch dort nicht geworden. Ich habe mir manchmal eher die Frage gestellt, was aus mir geworden wäre, wären wir in der Türkei geblieben.

Kabarettist eher nicht ...

Pamuk: Ist nicht gesagt, der Humor hat in der Türkei eine lange Tradition, auch wenn er gerade drangsaliert und erstickt wird.

Was hat deine Integration erleichtert?

Pamuk: Es gab keine Integrationsmaßnahmen, sondern nur allgemeine Hilfen. Zwei Stunden Deutschförderunterricht in der Woche, das war’s. In der Realschule in Eppendorf hatte ich das Glück, Werner Moritz als Lehrer zu bekommen. Er hat mich an die Hand genommen, mich sehr geprägt. Die 80er waren kein Zuckerschlecken, du lebst in einem neuen Land, mit „neuen“ Eltern und kommst dann auch noch in die Pubertät. Ein nicht gerade integrationsgünstiger Cocktail. Aber mein Lehrer hat mich gut durch das Jahrzehnt gelotst.

Was hat dir das Fußfassen erschwert?

Pamuk: Katastrophal war, dass kaum ein Deutscher vom Leben der Einwanderer wusste, geschweige sich dafür interessierte. Umgekehrt sah es leider genauso aus. Wir haben Jahrzehnte damit verschwendet, nebeneinander herzuleben. Dafür wucherten prächtig Vorurteile. Bis in die 90er hinein habe ich regelmäßig Fragen nach Lämmern, Blutrache, Ehre und Frauen schlagen beantwortet. Wer von uns in der Schule nicht mitkam, landete sofort auf der Hauptschule. Ich kenne einige Schüler, die waren nicht dumm, sondern nur langsamer beim Erlernen der neuen Sprache. Sie wurden abgestempelt, Hauptschule. Das System war wesentlich brutaler als heute. Damals hatte Deutschland kein Interesse an uns, wir waren ja nur Gastarbeiter.

Du hältst in deinen Kabarettprogrammen Deutschen wie Zuwanderern den Spiegel vor ...

Pamuk: Ja. Deutsche tun sich sehr schwer damit, Realitäten anzuerkennen. Es waren schon Millionen Migranten da, und Deutschland hat noch eifrig debattiert, ob es ein Einwanderungsland ist. Und was haben wir uns mit der Staatsbürgerschaftsreform gequält. Wir machen uns das Leben selber schwer. Ich muss zum Thema Integration keine Islamdebatte anfangen, sondern deutlich machen: Das sind unsere Spielregeln, damit alle wissen, woran sie sind.

Viele Deutsche schwanken in der Flüchtlingsfrage zwischen Euphorie und Ablehnung ...

Pamuk: Ich habe nie verstanden, warum die Deutschen am Bahnhof Flüchtlingen applaudiert haben. War das ein Wettbewerb? Was gibt es da zu applaudieren? Eine typisch deutsche Überreaktion. Zuerst waren die Flüchtlinge lauter Engel, und heute sind sie Angrabscher, versteckte Terroristen und Vergewaltiger. Dabei gilt heute wie im Herbst: Es kamen und kommen Menschen. Es sind Menschen.

Und wenn du Zuwanderern den Spiegel vorhältst?

Pamuk: Da stoße ich manchmal auf das Konvertitenphänomen: Einige Migranten sind päpstlicher als der Papst oder deutscher als die Deutschen. Andere wiederum möchten türkischer werden, als es die Türken in der Türkei sind – und eine leider immer größer werdende Gruppe definiert sich plötzlich über ihre Religion. Und es gibt immer noch und immer wieder die „Andere sind schuld“-Fraktion. Die Fünf in Deutsch hat man nur, weil der Lehrer ein Rassist oder Nazi ist oder beides.

Du bist selbst Moslem – welche Rolle spielt die Religion in deinem Leben?

Pamuk: Ich bin geborener Moslem, aber die Religion ist nur ein Teil meiner Identität. Mehr nicht. Die seit Jahren grassierende Einteilung in Christen und Muslime halte ich für sehr fatal.

Wie werden sich deine Kinder einst fühlen – noch als Hamburger Türken?

Pamuk: Da bin ich selbst gespannt. Vielleicht werden sie sich als Deutsche fühlen, vielleicht auch nicht. Das sei ihnen überlassen.

Wie schätzt du das Versprechen der Kanzlerin zur Flüchtlingskrise ein? Schaffen wir das?

Pamuk: Wenn wir es wirklich wollen, schaffen wir das – wir haben das Geld, die Möglichkeiten, die Infrastruktur. Es sind eine Million Flüchtlinge bei über 80 Millionen Bundesbürgern. Aber wir müssen es wollen – diesen Willen vermisse ich bei vielen. Wir benötigen eine Struktur, die die Menschen integriert. Ich kann erst Forderungen stellen, wenn ich auch Angebote mache. Die zentrale Frage lautet doch: Was geben wir den Zuwanderern an die Hand? Die syrischen Kinder benötigen in der Schule keinen Islamunterricht, sondern Deutschkurse. Sie müssen die gleichen Chancen bekommen und dürfen nicht diskriminiert werden. Wenn wir die alten Fehler wiederholen, sind die Pro­bleme absehbar.

Deutschland hebt sich von seinen Nachbarn ab, die meisten wünschen sich eine Festung Europa­ ...

Pamuk: Das wird nicht funktionieren, auch die Lösung mit der Türkei ist keine. Die Menschen werden sich andere Routen suchen. Die Not ist so groß, sie werden kommen. Wären wir beide Syrer, wir würden auch um jeden Preis fliehen.

Derzeit überlagern sich zwei Themen: die massive Zuwanderung und die Angst vor dem Islam. Erschwert die Religion die Integration?

Pamuk: Wenn man die Flüchtlinge als Menschen ernst nimmt, nicht. Es marschiert ja nicht der Islam über die Balkanroute ein, sondern Schutzsuchende. Wenn sie Perspektiven erhalten, wird die Religion das kleinste Problem sein. Aber wenn sich Gettos bilden oder die Menschen jahrelang in Flüchtlingsheimen leben müssen, werden sie sich mehr dem Glauben zuwenden. Die erste Generation der türkischen Gastarbeiter bestand zu 99 Prozent aus Muslimen, ihre Heimat war damals zehnmal rückständiger als heute, viele Analphabeten waren dabei. Und trotzdem hat die Religion kaum eine Rolle gespielt. Das wurde anders, als viele Migranten sich abgehängt fühlten. Man muss die Menschen sehen, nicht die Religion. Wir sollten unsere Kraft nicht mit sinnlosen Diskussionen über „den Islam“ verschwenden. Der wird sich ganz sicher nicht von hysterischen Abendlandrettern reformieren lassen. Wir sollten nach Lösungen und Möglichkeiten suchen. Vor allem sollten wir erkennen, was schiefläuft.

Dein neues Buch ist ein A bis Z des Islam – das ist lustig und erhellend zugleich. Hast du keine Angst, von einigen Radikalen missverstanden zu werden?

Pamuk: Können Radikale denn einen richtig verstehen? Sie müssten das Buch dann ja zumindest lesen, und das kann man ja Fundamentalisten jeder Couleur leider nicht unterstellen, die übermäßige Beschäftigung mit Humor. Es geht mir ja auch nicht darum, schale Witze über den Islam zu machen, sondern aufzuklären. Das Buch soll informativ und unterhaltsam sein. Wenn dann unter den Lesern tatsächlich auch wahrhaft Gläubige und chronische Islamhasser sein sollten, umso besser. Ich will nicht, dass nur Fundamentalisten in diesem Land das Islambild bestimmen. Man darf die Religion nicht den Religiösen überlassen.

Funktioniert religiöses Kabarett auf der Bühne?

Pamuk: Ja, und zwar wirklich prächtig, ich mache das schon länger und inzwischen auch mit Lutz von Rosenberg Lipinsky. Unserem Duo-Programm „Brüder im Geiste. Kabarett zwischen Koran und Kruzifix“ ist nichts heilig – auch nicht Kreuz und Halbmond.

Kabarett und Türkei haben seit Extra 3 und Böhmermann noch eine besonders bizarre Note bekommen ...

Pamuk: Extra 3 war großartig, Böhmermanns Aktion eher überflüssig. Sein Ego konnte es wohl nicht verkneifen, dass Extra 3 zuerst einen Scoop gelandet hat. Seitdem bekleckern sich alle Beteiligten mit Ruhm, von Böhmermann selbst bis Merkel. So wurde aus einer fragwürdigen Satire-Aktion eine Staatsaffäre, und alle haben Schaum vor dem Mund. Und währenddessen ertrinken wieder einmal mehrere Hundert Flüchtlinge im Mittelmeer. Man kann das Ganze auch zynisch betrachten: Uns Deutschen geht’s halt gut ...

Nächste Folge: Prof. Thomas Straubhaar, gebürtiger Schweizer, Ökonom