Hamburg. Die Wohnungen der Hartwig-Hesse-Stiftung in St. Georg weichen einem modernen Seniorenquartier. Bewohnerinnen feiern „Abrissparty“.

Hilde Wegener, 78, greift etwas zögerlich zu Hammer und Meißel. Die Schläge ins Nachkriegsmauerwerk wollen ihr nicht so recht gelingen. Doch dann splittern kleine, rote Steine ab; weißer Staub wirbelt unter dem blauen Frühlingshimmel. Um Hilde Wegener und andere Bewohnerinnen des Witwenstifts in der Alexanderstraße 29 von St. Georg hat sich ein gemischtes Publikum versammelt. Es gibt Obstsäfte und viel Wehmut. „Mir kommen gleich die Tränen“, gesteht eine Mittsiebzigerin, die seit vielen Jahren im Witwenstift der Hartwig-Hesse-Stiftung wohnt.

Längst mussten sie alle ihre Wohnungen und Zimmer in der Hausnummer 29 verlassen und vorübergehend in andere Häuser der Stiftung umziehen. Die Hämmerei am Freitagmittag von Hilde Wegener und ein paar anderen Seniorinnen – mit dieser symbolischen Geste begann ein neues Kapitel in der 190 Jahre währenden Stiftungsgeschichte. Die drei alten Nachkriegsbauten dieser Organisation mit fast 90 Wohnungen in St. Georg werden in den kommenden Wochen abgerissen. Das Stiftungskuratorium hatte entschieden, auf dem Gelände in der Nähe von urbanen Hotelhochhäusern ein komplett neues Quartier für Junge und Alte zu bauen.

Anfang 2018 sollen auf dem Areal 150 barrierefreie Wohnungen für Senioren und Seniorinnen sowie eine Kita entstehen. Geplant sind ebenfalls Wohnungen für pflegebedürftige Obdachlose und Menschen mit Demenzerkrankung.

So soll das neue,
multifunktionale
Hartwig-Hesse-Quartier
in
St. Georg aussehen
So soll das neue, multifunktionale Hartwig-Hesse-Quartier in St. Georg aussehen © ZIEGFELD ENTERPRISE GmbH

„Das ist die erste Abrissparty in meinem Leben“, ruft Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) Bewohnern und Gästen zu. In ihrem Grußwort begründet sie, warum das Projekt für die Stadt so beachtenswert sei. „Sie planen, was wir so gerne möchten: dass die Menschen im Pflegefall möglichst in ihrem Quartier wohnen bleiben können.“ Außerdem sei es wichtig, dass es künftig noch mehr solcher generationsübergreifender Projekte gebe, fügt sie hinzu. Prüfer-Storcks spricht diese Worte in der Nähe einer Birke stehend, die den Frühling wohl nicht überleben wird, weil bald die Bagger anrollen.

Die Bewohnerinnen verstehen zwar die Argumente der Stiftung: Die auf den Trümmern gebauten Häuser seien nicht barrierefrei und die Zimmer viel zu klein. Der bisherige Zustand könne kein altersgerechtes Wohnen mehr bieten, sagt Annette Teichler, Kuratoriumsvorsitzende der Hartwig-Hesse-Stiftung.

Aber Frauen wie Monika Rössig, 73, fällt es schwer, sich vom lieb gewonnenen Rosengarten vor der Tür und dem romantischen Grün zu trennen. „Das war hier wohnen wie im Reihenhaus“, schwärmt sie, als sie ihre Nachbarin Hilde Wegener bei den symbolischen Hammerschlägen ablöst. Damit nicht alles Alte dem Neuen weichen muss, werden wenigstens ein paar Rosenstöcke und Steine versteigert.

Vor allem aber muss das altehrwürdige Denkmal für den Stiftungsgründer Hartwig Hesse (1778–1849) „umgebettet“ und in Rissen zwischengelagert werden. In Stein gemeißelt steht seiner gedenkend: „Den Armen Freund und Wohltätigen Guter/Edler Werke Förderer.“

Der Hamburger Kaufmann hatte das Stift im Herzen von St. Georg im Jahr 1826 ausschließlich für Witwen gegründet. Alleinstehende Seniorinnen fanden hier bis heute ein bezahlbares und ansprechendes Zuhause. Einziehen dürfen künftig auch Männer. Die gemeinnützige Hartwig-Hesse-Stiftung bietet an mehreren Hamburger Standorten Wohnen, Betreuung und Pflege im Alter an. Dazu gehören die Häuser am Klövensteen sowie in Steilshoop und Rissen.

Der Eingang der alten Anlage an der
Alexanderstraße in St. Georg
Der Eingang der alten Anlage an der Alexanderstraße in St. Georg © HA | Roland Magunia

Kuratoriumsvorsitzende Annette Teichler greift die gedrückte Stimmung auf, als sie sagt: „Es ist ein wehmütiger Abschied von den Gebäuden. Aber ich blicke mit erwartungsfrohen Augen in die Zukunft.“ Das Kuratorium habe sich bewusst entschieden, mit dem Projekt nicht an den Stadtrand zu ziehen, sondern in St. Georg, „der Keimzelle der Stiftung“, zu bleiben. Im Übrigen sei ein Neubau preiswerter als eine Modernisierung. In dem Gebäudekomplex werde es künftig Wohnungen mit einer Kaltmiete von 6,20 Euro pro Quadratmeter für Senioren geben, die zu 90 Prozent öffentlich gefördert werden. Insgesamt steht eine Wohn- und Nutzfläche von 8000 Quadratmetern zur Verfügung.

Kartenlegerin Gloria Heilmann von Berger lauscht mit Interesse den Worten der Kuratoriumsvorsitzenden. Die Wahrsagerin von St. Georg ruht sich dabei auf einem Rollator aus. Zurzeit wohne sie noch in einem Haus mit 106 Stufen, sagt sie. Wie sie das schafft? „Es geht. Aber langsam“, antwortet die Dame, die sich mit ihrem Mann für das neue Seniorenquartier angemeldet hat. Das sei genau das Richtige für sie beide, fügt sie hinzu. Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks verspricht ihren Zuhörern: „Ich komme gern wieder, wenn Meilensteine gesetzt werden.“ Spätestens zur Eröffnung des modernen und barrierefreien Hartwig-Hesse-Quartiers 2018, wo einst die Birke stand und Rosen blühten.