Was könnte, müsste, sollte in der ersten Elbphilharmonie-Saison eigentlich gespielt werden? Ein Orakel zum musikalischen Programm.

Beethovens Neunte, immer gern genommen, wäre ein wenig zu erwartbar. Als die Berliner Philharmonie 1963 eröffnet wurde, stand der Klassiker-Klassiker zur Feier des Hauses auf dem Programm. Zehn Jahre später, mit Queen Elizabeth als Ehrengast im Sydney Opera House, war dieser Beethoven ebenso dabei wie 2011 bei den Eröffnungsfeierlichkeiten des „Harpa“ in Reykjavik, dessen spektakulär verglaste Fassade der Künstler Olafur Eliasson entworfen hatte.

Außerdem: Bei der Zeile „Seid umschlungen, Millionen“ müsste Bürgermeister Olaf Scholz mit einem Kameraschwenk auf sein Pokerface rechnen. Also, was dann? Bislang haben die künstlerisch Verantwortlichen für die Elbphilharmonie strikt für sich behalten müssen, was sie für die Eröffnungskonzerte am 11. und 12. Januar 2017 planen. Diese Abende werden ohnehin totaler, irrwitzig begehrter Ausnahmezustand sein. Spannender, wichtiger – aber weniger einfach zu beantworten – ist die Frage, welche Konzepte man von der ersten „Elbphilharmonie Konzerte“-Spielzeit mit realer Elbphilharmonie in der zweiten Saisonhälfte erwarten kann und muss.

Philharmoniker stellen Programm als erstes vor

Am Montag sind die Philharmoniker das erste der großen Hamburger Orchester, die ihren Spielplan vorstellen. Schon deswegen leicht überraschend, weil sie damit vor der späteren Pressekonferenz von Generalintendant Christoph Lieben-Seutter ihre Karten auf den Tisch legen und auch vor dem Termin jenes Rundfunk-Klangkörpers, der vom 15. April an offiziell den Namen „NDR Elbphilharmonie Orchester“ trägt. Generalmusikdirektor Kent Nagano dürfte dort weitermachen, wo er vielversprechend begann: bei Programmen, die epochenübergreifend Brücken bauen, die auch orchesterpädagogisch wertvoll sind, um das Niveau zu steigern. Es wird vor allem staatstragend zugehen, wie es sich für einen Traditionsbetoner gehört, der sich in der Elbphilharmonie hinter dem NDR-Kollegen Thomas Hengelbrock arrangieren und profilieren muss.

Die Herausforderungen für die NDR-Elbphilharmoniker sind ganz andere: Sie sollen und wollen die erste Geige spielen, als Residenzorchester haben sie viele Rechte und viele Pflichten. Um der Ansage aus dem Senat gerecht zu werden, dass dieses Konzerthaus „ein Haus für alle“ sein soll, wird es nicht mehr genügen, die Türen rechtzeitig vor dem Konzertbeginn zu öffnen und sich ansonsten in den Probeplänen zu verstecken. Man darf also wohl mit Konzertchen-Formaten rechnen, die vor den klassischen Abendterminen für Leben im neuen Wahrzeichen der Musikstadt sorgen.

Ein zusätzlicher Stressfaktor

Das wiederum wäre nicht nur konzeptionell, sondern auch logistisch eine Herausforderung: Anders als die 2015 eröffnete Philharmonie de Paris hat das Kaispeicher-A-Update keinen Probesaal, der akustisch den sehr speziellen Gegebenheiten im Großen Saal entspräche und ihn vom alltäglichen Rein und Raus der Künstler entlasten könnte. Also werden und wollen so ziemlich alle dort ihre Programme im Original probieren. Ein nicht unproblematischer Dauerzustand, den man seit Jahrzehnten aus der Laeiszhalle kennt. Ziemlich oft werden diese Proben, kulturpolitisch gewollt, unter den Augen und Ohren der interessierten Kundschaft stattfinden, denn ein wichtiger Teil des Musikvermittlungskonzepts sind die Besuche von Proben. In einem nagelneuen Saal, auf den sich ein Orchester erst innerlich in einem langen Lernprozess einjustieren muss, könnte das ein zusätzlicher Stressfaktor sein.

Überhaupt, die Laeiszhalle. Lieben-Seutter ist mit seinen nun realen Möglichkeiten der erste Mehrfach-Chef seit dem legendären Hamburger Stadt-Theater-Intendant Bernhard Pollini im späten 19. Jahrhundert. Den Großen Saal der Elbphilharmonie in den Wochen bis zur Sommerpause 2017 ständig auszuverkaufen ist kein Pro­blem. An den Preisen wird es auch nicht liegen, denn für deren Ausgewogenheit – trotz aller Unkenrufe über den vermeintlichen „Eliten-Tempel“ – soll ja der demnächst zu beschließende Zuschuss der Stadt sorgen. Das Kunststück besteht eher darin, durchreisende Virtuosen davon zu überzeugen, dass sie in der guten alten Laeiszhalle, die ja nichts an klanglicher Exzellenz eingebüßt hat, auftreten wollen und nicht ausschließlich im flotteren Neubau. Andererseits: Bislang mussten sich Übergröße-Werke (einige der Sinfonien von Mahler, Bruckner oder Ives) in die Schuhschachtel-Saalform der Laeisz­halle klemmen lassen, die dafür eindeutig zu klein ist. Bald aber, im Großen Saal der Elbphilharmonie, bekämen selbst ein Brocken wie Schönbergs „Gurre-Lieder“ oder Raumorchesterspektakel von Stockhausen oder Boulez genügend Auslauf.

Illustre Namen bei den Residenzkünstlern

Elbphilharmonie: Erster Blick in Kleinen Saal
Elbphilharmonie: Erster Blick in Kleinen Saal

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    Fast so sicher wie das Amen im Michel: illustre Namen bei den Residenzkünstlern. Ob es eines der nach wie vor großen US-Orchester für eine Tour-Konzertserie über den Großen Teich schafft, ist angesichts der Kosten und mancher ihrer Finanzprobleme fraglich. Simon Rattle hat bereits einen Housewarming-Besuch mit seinen Berliner Philharmonikern für kurz nach der Eröffnung angekündigt. Um sich nicht mehr nur als Problemverwaltungs-Intendant, sondern als Designer maßgeschneiderter Programme zu präsentieren, müssten in Lieben-Seutters Plänen Newcomer prominent und längerfristig auftauchen, die gerade vom „Geheimtipp“ zum „Abräumer“ reifen. Vor einigen Jahren, um nur ein Beispiel zu nennen, wäre das ein Dirigent wie Yannick Nézet-Séguin gewesen. Stars zu engagieren, wenn sie bereits Stars sind, ist dagegen nur Handwerk und mit genügend Spielgeld keine Geheimwissenschaft, da Lieben-Seutters Betriebsbüro absolut alle mit der Hamburger Prestige-Immobilie locken kann.

    In zweiter Reihe wichtig sind die Symphoniker ebenso wie das Ensemble Resonanz. Jeffrey Tates Orchester darf, erst recht als Residenzorchester der Laeiszhalle, den Anschluss und das Rampenlicht für Sponsoren und Mäzene nicht verpassen. Das Ensemble Resonanz soll unterdessen zum Markenbotschafter für den Kleinen Saal der Elbphilharmonie werden. Für die emsigen Streicher ist das eine große Chance, da sie dann neben ihrem eigenen resonanzraum im Medienbunker eine zweite Spitzen-Adresse bespielen. Standbein, Spielbein quasi. Dazu kommt die Hamburger Camerata mit eigenen Konzertreihen und vielen populären Kinder- und Kirchenkonzerten.

    Die klassischeren Angebote der „Pro Arte“-Reihen werden wahrscheinlich passgerecht in Lieben-Seutters Gesamtstrategie eingemeindet. Das juristische Kriegsbeil – wegen angeblicher Marktverzerrung durch Subventionen – ist längst wieder vergraben und verjährt. Beide Seiten profitieren voneinander, das Geld der Stadt senkt durch Kooperationen letztlich die Kartenpreise. Da kann man also nicht mehr meckern. Nächste Testrunde für die kommende, notwendige Harmonie rund ums Thema Elbphilharmonie ist das „Internationale Musikfest“, das in einigen Wochen beginnt und anders als die beiden Vorläufer-Durchgänge eine programmatische Handschrift erkennen lässt, die mehr ist als das bloße Einzäunen eines Konzertangebots im Terminkalender. Geht es so weiter mit der Elbphiharmonie-Programmatik, wäre auch ohne Beethovens Neunte ein Schiller-Zitat aus der „Ode an die Freude“ angebracht: „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt.“