Hamburg. Die Leipzig-Finalisten für die Auszeichnung im Bereich Bellestristik lesen im Literaturhaus . Unter ihnen: Heinz Strunk.

Zu den edelsten Unternehmungen der Lesesaison zählt jedes Frühjahr die „Leipzig“-Veranstaltung im Literaturhaus. Mit ihr gelingt es Literaturhauschef Rainer Moritz stets, die Belletristik-Finalisten des Preises der Leipziger Buchmesse zur gemeinsamen Lesung an den Schwanenwik zu holen. Es ist also nach Maßgabe der Leipziger Jury das Top-Quintett der literarischen Frühsaison, das sich den Hamburger Literaturinteressierten vorstellt. Jeder der fünf Shortlister hofft auf die am 17. März vergebene und mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung; in den vergangenen beiden Jahren gewannen der Wahlhamburger Saša Stanišić und der gebürtige Hamburger Jan Wagner.

Die Finalrunde 2016 ist eine grundsätzlich erfreuliche Angelegenheit. Sie ist überraschend und zeugt von unabhängigem Geist. Zuzutrauen wäre es der Jury allemal, mit Marion Poschmann, Jahrgang 1969, nach Wagner erneut eine Lyrikerin auszuzeichnen. Die Wortsetzerin aus Berlin hat ihrem neuen Gedichtband den Titel „Geliehene Landschaften“ (Suhrkamp, 19,95 Euro) gegeben, der Begriff ist der ostasiatischen Gartenkunst entlehnt und meint den Landschaftsgesamtzusammenhang einer Gartenanlage – schließlich gehören etwa die Berge im Hintergrund auch dazu.

Lyrikerin Marion Poschmann
Lyrikerin Marion Poschmann © picture alliance / dpa-Zentralbi | dpa Picture-Alliance / Arno Burgi

Die Siegerin Poschmann als verstetigte PR-Aktion für die oft unterschätzte Lyrik-Disziplin, warum nicht? „Das All bestand diesmal aus eingeschmolzenem Altglas/und unbeschädigten Mädchen auf Ponys,/die zähneknirschend durch eine Art Grießbrei ritten,/beschirmt von der Beinahe-Windstille,/aus der sich ein Zittern schälte, ein Hitzefries/friesischer Provenienz. Das war die norddeutsche Ebene,/das war das Flachland wie auf einer Briefmarke,/rieslingfarben mit schrilleren Auswirkungen von Schatten“ – eine Feier des Wortes im freien Rhythmus.

Nis-Momme Stockmann, 1981 auf Föhr geboren, ist ein gefeierter Dramatiker – und der jüngste auf der Leipzig-Liste. Derzeit ist sein Musical „Amerikanisches Detektivinstitut Lasso“ am Staatsschauspiel Hannover zu sehen. Es dreht sich um den Hannoveraner Jünglingsmörder Fritz Haarmann. Stockmanns Prosa-Debüt „Der Fuchs“ (Rowohlt, 24,95 Euro) verfügt ebenfalls über ein mörderisches Personal und erinnert in seiner fiebrigen Provinz-Tristesse an Jan Brandts „Gegen die Welt“. Weil Stockmann aber nicht dasselbe Buch schreiben wollte, ist sein 700-Seiter eine postmoderne Version des Norddeutschland-Panoramas – angesiedelt zwischen Schätzing und Setz, mit typografischen Spielereien, aber ohne literarische Begrenzung.

Der Held Finn Schliemann hat sich vor der apokalyptischen Flut auf ein Dach gerettet und unternimmt von da einen Trip in die Geschichte seiner Jugend. Wer bin ich? Warum bin ich der, der ich geworden bin, so gar nicht heldenhaft? Und was haben babylonische Gottheiten mit einem herrenlosen Arm am Deich zu tun? Überbordend, fordernd, aufregend, manchmal zu viel des Guten – klassisches Debüt!

Der nächste Theater-Arbeiter auf der Liste ist Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen. Kein Dramatiker wird derzeit so oft gespielt, und sein erster Roman schafft es gleich in die enge Auswahl. Verdient? Jedenfalls nicht unbedingt unverdient. „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ (S. Fischer, 19,99 Euro) hat nichts mit Füchsen zu tun, aber mit einem Wolf, der aus dem Osten nach Berlin einreist.

Theater-Arbeiter Roland Schimmelpfennig
Theater-Arbeiter Roland Schimmelpfennig © Pressebild.de/Bertold Fabricius | Pressebild.de/Bertold Fabricius

Dort ist er ein flüchtiger Besucher, nicht anders als die Menschen selbst: die jugendlichen Ausreißer aus dem brandenburgischem Kaff, die Säufer und Junkies, die Polen, die Deutschen, die Menschen in den Spätis und die davor, die in Prenzlauer Berg und die in Grunewald, die frustrierten Künstler und die erfolgreichen. Jedes volle Haus wird bald ein leeres sein. Eine szenische Collage, zusammengefügt in dürrer Prosa, die zum Beispiel an Angelika Klüssendorf erinnert, und inhaltlich etwas an Ambition missen lässt.

Der – man ist geneigt zu sagen: obligatorische – Hamburger auf der Liste ist Heinz Strunk. Sollte eigentlich keinen überraschen, tut es aber doch, weil große Tragikomiker auf einschlägigen Kurzlisten renommierter Preise bislang Mangelware waren.

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Strunks Literarisierung der Hamburger Honka-Morde in „Der goldene Handschuh“ (Rowohlt, 19,95 Euro) ist ein makaberer Spaß, den man freilich auch ganz unter Abschaltung aller Komik-Knöpfe lesen kann. „Der goldene Handschuh“ ist die lakonische Studie eines biografischen Unglücks. Mit allen Explizitäten und Hässlichkeiten, die dazu gehören. Kiezkaschemmen-Elend und Elbchaussee-Snobismus, in der Jämmerlichkeit des Mannseins sind alle gleich. Der „Schmiersuff“ verbindet, jene Trostreichung aus dem Flaschenregal. Und die Verachtung des Lebens, die Unzulänglichkeit vor den Frauen, der Selbstekel.

Unser klarer Favorit (was nichts über die Qualität der anderen Titel aussagt): Guntram Vespers massives Deutschland-Panorama „Frohburg“ (Schöffling, 34 Euro), das von den Kriegen des 20. Jahrhunderts, von den Russen und der DDR erzählt wie Johnsons „Jahrestage“ und von den Bedingungen und Voraussetzungen des eigenen Lebens wie Kurzeck.

Guntram Vesper ist für sein massives Deutschland-Panorama „Frohburg“ nominiert
Guntram Vesper ist für sein massives Deutschland-Panorama „Frohburg“ nominiert © Volker Poland c/o Schffling & Co. | Volker Poland c/o Schffling & Co.

Der 1941 geborene Vesper, seit Jahrzehnten Göttinger – die Familie reiste 1957 aus – und von Hause aus Lyriker, entblättert in einer sagenhaft dichten Erzählung die Geschichte seiner Familie, die des sächsischen Ortes Frohburg, dem er entstammt – und dem er die tiefste Erlebnisschichtung seines Lebens verdankt. „Frohburg“ berichtet von der Verschränkung der Generationen und den Umwälzungen der Historie. Geschichten, Erzählungen, Mythen, Erfahrungen sind ineinander verwoben, verschachtelt in üppigen Textblöcken, und am Ende entsteht: ein Lebenswerk, der kunstvoll hergerichtete Steinbruch einer Biografie, in Wirklichkeit natürlich kein Roman, aber riesige Literatur, die den Aufschrei des narzisstischen Erzähler-Ichs nicht scheut (das Kempowski-Gebashe!).

Preis der Leipziger Buchmesse Lesung der Finalisten 2.3., 20.00, Literaturhaus (Bus 6), Schwanenwik 38, Tickets 12, ermäßigt 8 Euro. Moderation: Ulrike Sárkány und Rainer Moritz