Psychologe Ahmad Mansour war radikaler Islamist und betreut jetzt Familien von radikalisierten Jugendlichen. Gespräch in Uni Hamburg.
Ahmad Mansour, 40, ist arabischer Israeli und lebt seit 2004 in Berlin. Er ist Diplom-Psychologe, hat zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Salafismus und Antisemitismus vorgelegt und arbeitet für Projekte gegen Extremimus. Für seine Arbeit erhielt er den Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz, und er ist diesjähriger Preisträger des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg für Zeitgeschichte und Politik.
Ahmad Mansour ist einer, der sich einmischt. Ein Mittler zwischen den Kulturen. Am heutigen Dienstag spricht Ahmad Mansour auf Einladung des ZONTA-Clubs Hamburg-Alster in der Universität Hamburg (siehe Infokasten) über sein Buch „Generation Allah – warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen“.
Hamburger Abendblatt: Nach den Vorfällen an Silvester in Köln und in Hamburg stellen sich viele die Frage, ob jetzt jede deutsche Frau Angst haben muss vor arabischen Jugendlichen?
Ahmad Mansour: So pauschal kann man das natürlich nicht mit Ja beantworten. Aber wir alle sollten uns Gedanken machen, dass unter uns Menschen leben, die ganz andere Werte haben als wir. Und das ist eine Gruppe, die von Jahr zu Jahr größer wird. Das hat aber nicht erst mit den Flüchtlingen angefangen, die derzeit nach Deutschland kommen. Das sind zwei unterschiedliche Themen, und es wäre gefährlich, die zusammenzubringen. Ich rede über Zustände in Deutschland, die hier seit Jahren bekannt sind. Und es geht mir darum, diese jungen Menschen zu erreichen.
Der Titel Ihres Buches „Generation Allah“ legt nahe, dass es sich um das Problem mit einer ganzen Generation handelt.
Mansour: Ich rede deshalb von einem Generationsproblem, weil ich weg will von der engen Diskussion über die wenigen Jugendlichen, die sich dem sogenannten „Islamischen Staat“ anschließen. Das ist nur die Spitze des Eisberges. Ich würde gerne über diejenigen reden, die zu uns gehören. Die auf unsere Schulen gehen und trotzdem die Werte dieser Gesellschaft teilweise ablehnen. Es geht ja um zahlreiche Probleme. Das ist nicht nur der Umgang mit der Sexualität. Das sind Verschwörungstheorien, Antisemitismus und patriarchalische Strukturen. Das sind Jugendliche, die ihre Religion als ein Tabu verstehen, das man nicht hinterfragen darf. Und andere, die Menschen abwerten, weil sie eine andere Meinung haben. Das ist nicht jeder, aber das Problem hat eine riesige Dimension.
Die aufgeregte Debatte in Deutschland bewegt sich seit Wochen zwischen der Pauschalisierung und der Verharmlosung des Problems.
Mansour: Genau. Und die gesellschaftliche Aufgabe besteht deshalb darin, die Probleme anzusprechen, ohne in dieser aufgeheizten Debatte, die mehr und mehr einem Zwei-Fronten-Krieg gleicht, nur eine Seite zu bedienen. Und das ist nicht einfach, weil die Debatten viel zu oberflächlich sind und nur noch Schwarz-weiß-Bilder gezeichnet werden.
Aber es bleibt ein Dilemma, weil wir nicht genau wissen, über wie viele Jugendliche wir genau reden.
Mansour: Richtig. Aber wenn man in die Schulen geht, weiß man das. Wenn man in den Moscheen ist, weiß man das. Wenn man in den entsprechenden Kreisen verkehrt, weiß man das. Aber darüber wird nicht offen gesprochen. Die Themen werden tabuisiert. Und das merke ich vor allem in Hamburg. Die Probleme in den Schulen sind da, die Generation Allah ist vorhanden.
Können Sie das an einigen Beispielen festmachen?
Mansour: Nehmen Sie nur den Schwimmunterricht. Es gibt in Hamburg sehr viele Mädchen, die nicht am Schwimmunterricht teilnehmen. In der Statistik tauchen die aber nicht auf, weil manche Schulleitungen und Politiker kein Interesse daran haben, dieses Problem anzusprechen. Das würde die Schule vielleicht in ein schlechtes Licht rücken. Aber die Dimension dieses Problems ist groß. Es gibt Schulen, an denen fast kein Mädchen muslimischer Herkunft am Schwimmunterricht teilnimmt. Und das dürfen wir nicht tolerieren. Das hat nichts mit Religionsfreiheit zu tun. Sondern es hat damit zu tun, dass unsere Gesellschaft es in Kauf nimmt, dass diese Mädchen weniger lernen.
Oder nehmen Sie den Antisemitismus. Es gibt engagierte Lehrer, die das Thema im Unterricht ansprechen und dann plötzlich merken, wie verbreitet „Jude“ als Schimpfwort geworden ist. Wir können jetzt noch drei, vier Jahre darüber reden, ob es diese Probleme gibt und wie groß die Dimension ist. Aber das Einzige, was dabei passiert, ist, dass wir viel Zeit verlieren. Zeit, um nach Lösungen zu suchen. Und Konzepte zu entwickeln, um diese Jugendlichen zu erreichen. Jugendliche, die diese Gesellschaft und die Demokratie ablehnen, die Macht durch Unterdrückung ausüben und auf ein überzogenes Ehrempfinden pochen.
Wie sehen diese Konzepte aus? In Berlin gibt es zum Beispiel seit 2007 das Gleichberechtigungs-Projekt „Heroes“, in dem sich junge Männer mit Migrationshintergrund aus sozialen Milieus mit patriarchalen Strukturen für die Gleichberechtigung und Menschenrechte einsetzen und gegen Unterdrückung und Antisemitismus kämpfen. In Hamburg sollten die „Heroes“ auch an den Start gehen.
Mansour: Noch ist die Finanzierung aber nicht da. Heroes ist nur eins von mehreren Projekten, an dem ich beteiligt bin. Dort geht es vor allem um die Gleichberechtigung der Geschlechter. In kleinen Gruppen werden über mehrere Monate Themen wie Identität, Rechte von Frauen und Gewalt in Familien diskutiert. Die Jugendlichen entwickeln selbst Rollenspiele. Nach zehn Monaten erhalten sie ein Zertifikat und können dann mit uns zusammen Workshops in Schulklassen halten.
Es geht Ihnen aber nicht nur um Projekte.
Mansour: Nein, denn das reicht nicht aus, um diese Jugendlichen zu gewinnen. Sie gehören ja zu Deutschland. Und wenn wir sie ausgrenzen, dann gehen sie zu den Islamisten. Es gibt punktuell auch in Hamburg gute Projekte, aber diese im Grunde neue gesellschaftliche Thematik muss im Schulsystem verankert werden. Es geht mir um einen anderen, flächendeckenden Schulunterricht. Wir müssen die Lehrer schon in der Ausbildung verstärkt in die Lage versetzen, auf diese Anforderungen zu reagieren. Wir müssen Aufklärungsarbeit bei den Eltern leisten. Wir brauchen ein Fach „Werteunterricht“. Wir müssen kritisches Denken fordern und fördern. Und wir müssen im Unterricht über aktuelle politische Themen reden. Das wollen die Jugendlichen. Wenn die Schulen das nicht tun, gehen die Jugendlichen ins Internet und landen bei Extremisten und Antisemiten. Es reicht eben nicht mehr, einmal im Jahr in der Schule einen Projekttag über kritisches Denken zu veranstalten. Das muss Teil des Lehrplans werden.
Mit welchen konkreten Problemen kommen die Lehrer zu Ihnen und bitten um Unterstützung?
Mansour: Sie kommen, weil sie überfordert sind. Sie kommen, weil sie sich weiterbilden wollen. Sie rufen an, weil sie mit zwei Schülern in der Klasse nicht klarkommen, die sich radikalisiert haben, die anfangen zu missionieren oder Videos von fragwürdigen Predigern versenden. Schüler, die im Unterricht sitzen und sagen, von einer Frau würden sie sich nichts sagen lassen. Schülerinnen, die nicht auf Klassenfahrten mitkommen wollen. Die Lehrer fragen, wie sie reagieren sollen, wenn Mädchen den Schwimmunterricht verweigern? Sie fragen, wie sie reagieren sollen, wenn Jugendliche haufenweise während des Ramadans im Unterricht umkippen, weil sie nichts getrunken und nichts gegessen haben? Diese Probleme haben sich in den letzten Jahren verstärkt. Da ist ganz viel Verunsicherung und Nicht-Wissen, wie man mit diesen Jugendlichen umgeht. Und es zeigt, dass die Schule mit ihren Lehrplänen und ihrer Lehrerausbildung nicht vorbereitet ist auf diese unterschiedlichen Herausforderungen. Wenn wir diese Konzepte jetzt entwickeln, können sie für uns auch in Zukunft bei jungen Flüchtlingen hilfreich sein.
Was raten Sie diesen Lehrern konkret, wenn Schwimmunterricht und Klassenfahrten verweigert werden oder Schüler während des Ramadan nicht genug Flüssigkeit zu sich nehmen?
Mansour: Das ist immer unterschiedlich, und jeder Fall liegt anders. Wir versuchen natürlich, mit den Eltern zu sprechen und fragen, welche Ängste sie haben. Ist das die Religion oder ist das Tradition? Welche Erziehungsmethoden sind gut und welche können schädlich sein? Das ist nicht leicht, und da muss man sehr sensibel vorgehen. Es ist mühsam und langfristig. Das ist eine Jahrhundertaufgabe. Und wir brauchen die Unterstützung der Politik, wenn Eltern zum Beispiel sagen, sie wollen nicht, dass ihre Kinder am Biologie- oder Musikunterricht teilnehmen. Da brauchen wir bei allen Beteiligten ein größeres Bewusstsein, dass es um unsere Werte geht, die wir vermitteln und nach denen wir leben wollen.
Wie groß ist das Problem nach Ihrer Einschätzung in Hamburg?
Mansour: Hamburg ist betroffen von Salafismus. Hier gab es Silvester auch Übergriffe, hier sind teilweise Parallelgesellschaften entstanden. An den Schulen ist Antisemitismus verbreitet, das sagen mir Lehrer und beklagen sich, dass sie nicht immer die Unterstützung von der Schulleitung bekommen, wenn sie das Problem ansprechen.
Sind Sie in Hamburg mit der Politik im Gespräch?
Mansour: Ja, ich habe mit den Grünen und der CDU Gespräche geführt und auch mit Bürgermeister Olaf Scholz gesprochen. Er hat mir zugehört und kennt meine Einstellung.