Hamburg. Bei Beckerath riecht es nach geschmolzenem Metall und Holzspänen, nach Leim und Lot. Das Hamburger Unternehmen ist im Ausland gefragt.
Auf dem Tisch vor Song-Eun Kwak liegen Werkstücke aus Holz, die aussehen wie ein quadratischer Stempel. Alle haben die gleiche Form, doch ganz unterschiedliche Größen. „Das sind Spunde, sie werden noch mit Leder und Filz beklebt. Man braucht sie zum Stimmen der Pfeife“, sagt Kwak. Der Südkoreaner, der seit mehr als 20 Jahren in Hamburg lebt, baut mit an einem Instrument, dass sein Arbeitgeber, die Firma Beckerath Orgelbau in Tonndorf, noch in diesem Jahr in einem Kirchenneubau in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul installieren wird.
„Der Pastor der koreanischen Gemeinde in Hamburg ist mit dem Hauptpastor der Kirche in Seoul bekannt“, sagt Holger Redlich, Geschäftsführer und Teilhaber des Hamburger Handwerksbetriebs, der den Wettbewerb um den Auftrag gewann. Für Redlich ist ein Auftrag von der anderen Seite der Erdkugel Alltag – und für den Betrieb überlebenswichtig. „Von Aufträgen allein aus Deutschland oder Europa könnten wir nicht leben“, sagt Redlich.
Etwa 40 Orgelbauer soll es in ganz Deutschland geben
Inklusive der beiden Auszubildenden hat der Betrieb derzeit 18 festangestellte Mitarbeiter. Zwar gibt es mehr als ein halbes Dutzend weiterer Orgelbauer in der Hansestadt und deren näheren Umgebung. Doch Beckerath ist das größte davon und das einzige Unternehmen, dass auch große Orgel-Neubauten bewältigen kann.
Etwa 40 solcher Firmen, schätzt der Präsident des Bundes Deutscher Orgelbaumeister (BDO), Thomas Jann, gibt es in Deutschland noch. Die Zahl sei in den vergangenen Jahren gesunken, doch gebe es jetzt mehr kleine und Ein-Mann-Firmen. „Nicht die ganze Branche schwächelt“, sagt Jann, „die Lage ist regional sehr unterschiedlich.“ Und eine ganze Reihe deutscher Orgelbauer sei mittlerweile in Nord- und Osteuropa sowie in Asien tätig, wo noch eine größere Zahl von Neubauten in Auftrag gegeben werden.
In den Beckerath-Werkstätten an der Straße Rahlau riecht es nach geschmolzenem Metall und nach Holzspänen, nach Leim und Lot, im Radio läuft ein Klassiksender. Fast alle Teile der Orgel für Seoul werden hier per Hand gefertigt.
Auf einer Palette an der Wand lagern schwere Blöcke von Zinn und Blei, die geschmolzen und zu dünnen Blechen gegossen werden. Aus ihnen werden die Orgelpfeifen geformt. Song-Eun Kwak ist mit dem Bau hölzerner Pfeifen beschäftigt, und zwei Räume weiter entsteht aus Eschenholz das sogenannte Hauptwerk, in dem der Organist später vor den Manualen (Klaviaturen) sitzen wird. In Tonndorf wird die Orgel so weit wie möglich zusammengebaut, dann wieder in Einzelteile zerlegt und nach Südkorea verschifft.
Das ist Hamburgs größter Orgelbauer
Früher kamen viele junge Orgelbauer nach Hamburg um hier zu lernen
Viele der Arbeitstechniken sind dieselben wie 1949, als Rudolf von Beckerath die Firma in Hamburg gründete, viele der Werkzeuge und Formen stammen noch aus dieser Zeit. Beckerath, 1907 als Sohn einer Künstlerfamilie in Bayern geboren und in Hamburg aufgewachsen, hatte zunächst Maschinenbau studiert, dann aber auf Orgelbau umgesattelt. Schon Anfang der 1950er-Jahre bekam er die ersten Aufträge aus Nordamerika und schon bald war Beckerath Orgelbau bei Fachleuten weltweit ein klangvoller Name.
422 Instrumente hat das Unternehmen in seiner mehr als 65-jährigen Geschichte gebaut, die eine Hälfte steht in Deutschland, die andere im Ausland. Allein in den USA sind es 70. „Jedes Unternehmen hat seinen eigenen Klang und der von Beckerath ist sehr überzeugend. Die Gehäuse waren ihm weniger wichtig. Wir nennen sie manchmal liebevoll Kartoffelkisten“, sagt Redlich. Damals kamen angehende und junge Orgelbauer aus aller Welt nach Hamburg, um bei Beckerath zu lernen. Das führt dazu, dass der Betrieb heute in Japan kaum noch Geschäfte machen kann. „Die Japaner haben selbst viele gute Orgelbauer. Einige waren früher bei Beckerath. Und die führenden Unternehmen in den USA werden von Leuten geleitet, die eine Zeit lang in Hamburg gelernt haben.“
Ein Kardiologe aus den USA ist bis heute Hauptanteilseigner
Redlich selbst kam 1995 als junger Unternehmensberater in den Betrieb. Da war Gründer Rudolf von Beckerath schon fast 20 Jahre tot, und die besten Jahre des Unternehmens lagen bereits einige Zeit zurück.
Anfang der 1970er-Jahre hatte die Firma ihre Werkstätten noch an der Gluckstraße in Wandsbek und beschäftigte bis zu 40 Mitarbeiter. Selbst die konnten die Vielzahl der Neubauten kaum bewältigen, Beckerath kaufte Teile bei anderen Orgelbauern zu. Doch Mitte der 1990er-Jahre stand das Unternehmen vor dem Aus, es bekam einen neuen Besitzer, zog um nach Tonndorf. Viel besser wurde die Lage trotzdem nicht.
2001 gelang dann ein Befreiungsschlag: Der Musikliebhaber Whitney Reader, ein Kardiologe aus dem US-Bundesstaat Kansas, stieg als Hauptanteilseigner ein. Er ist es bis heute. Beckerath hatte für den Mediziner einst eine Orgel gebaut. Auf die Frage, ob sein Hamburger Handwerksbetrieb den Kardiologen aus Kansas zufriedenstellt, gibt der geschäftsführende Teilhaber Redlich lächelnd zwei Antworten: „Klanglich bestimmt, wirtschaftlich wohl weniger. Der Gewinn ist geringfügig.“
Je nachdem ob größere Aufträge abgerechnet werden, schwanke der Jahresumsatz zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Euro. Als nach der Finanzkrise 2008 lange Zeit gar keine Neubauaufträge eingingen und bei Beckerath kurzgearbeitet werden musste, sank der Erlös in den sechsstelligen Bereich, die Zahl der Mitarbeiter von 25 auf 18. Ein Teil davon ist fast ständig irgendwo in Deutschland und der Welt unterwegs. Das Unternehmen hat Wartungsverträge für mehr als 400 Instrumente, etwa alle 20 bis 30 Jahre muss eine Orgel grundlegend überholt werden. Das sichert einen gewissen Grundumsatz.
Den Auftrag für das Instrument in der Elbphilharmonie bekam eine andere Firma
Denn aus dem Orgelneubau in Deutschland ist die Luft schon seit Jahren raus. Etwas mehr als 30 Neubauten gab es 2014 laut einer Erhebung der Gesellschaft der Orgelfreunde. Beckerath stellte eine fertig, ein Jahr zuvor waren es drei gewesen. „Auftraggeber ist meistens die Kirche, und auch die muss ja verstärkt auf das Geld achten“, sagt Redlich. Um die 70 Prozent des Umsatzes erzielt Beckerath durch Aufträge aus dem Ausland.
In Hamburg hat der Betrieb zuletzt eine neue Orgel für den Raum der Stille in der Stiftung Alsterdorf gebaut. „Die letzte richtig große Orgel ist schon ein bisschen her“, sagt Redlich. An der Ausschreibung für das Instrument in der Elbphilharmonie durfte das Unternehmen zwar teilnehmen, den Auftrag aber bekam eine Firma aus Bonn.
Die Orgel für die Kirche im Seouler Stadtteil Hanshin kostet um die 500.000 Euro und gilt damit als kleinerer Neubau. Es ist die vierte Beckerath-Orgel in Südkorea. Dort, sagt der Geschäftsführer, gebe es noch einen größeren Markt für neue Instrumente.
Die enthalten heutzutage einen ordentlichen Teil Elektronik. Dass zur Orgel ein Touchscreen gehört, auf dem der Organist das Instrument vorab programmiert, ist keine Seltenheit mehr. Unlängst hat Beckerath eine Orgel in Braunschweig elektronisch aufgerüstet. Sie kann die auf ihr gespielten Stücke jetzt gleich aufnehmen. Für den Organisten ist das wichtig, denn er hört zumeist nicht, wie sein Spiel im Kirchenschiff klingt. Die Braunschweiger Orgel hat nun auch einen Münzautomaten. Wenn Kirchenbesucher Geld einwerfen, spielt die Orgel für sie. In der Gemeinde war das durchaus umstritten.
Die neue Orgel für Südkorea wiegt elf Tonnen und hat fast 3000 Pfeifen
Der Trend, die Instrumente elektronisch aufzurüsten, begann schon in den 1950er-Jahren. Und auch darin sieht Redlich einen Zukunftsmarkt für das Unternehmen. „Abenteuerlich“ sei manches, was da vor 50 oder 60 Jahren eingebaut wurde und nun tunlichst erneuert werden sollte. Bisweilen drohe gar Brandgefahr.
Die neue Orgel für Südkorea soll im April verschifft werden. Für den Aufbau des elf Tonnen schweren Instruments sind vier Wochen vorgesehen, dann folgt die Intonation der fast 3000 Pfeifen. Dafür schickt Beckerath seine versiertesten Orgelbauer um den halben Globus. Sie machen die Feinarbeit an Holz und Metall – und hoffentlich keine Fehler, sonst ist die Pfeife verdorben. Die fast vierjährige Ausbildung zum Orgelbauer genügt nicht für diese verantwortungsvolle Aufgabe. „Man muss schon zehn Jahre von erfahrenen Kollegen gelernt haben, um das zu können“, sagt Redlich. Die speziellen Fähigkeiten seiner Mitarbeiter sind das größte Kapital des Unternehmens. Das Personal zu reduzieren ist deshalb keine Option. „Wenn wir uns personell weiter verkleinern würden“, sagt der Geschäftsführer, „könnten wir keine neuen Orgeln mehr bauen.“