Hamburg. Ein Intellektueller, der leidenschaftlich die Welt bereiste: Der Fernsehmoderator und Publizist Roger Willemsen ist an Krebs gestorben.

Orte in mehr als 80 Ländern habe er bereist, sagte Roger Willemsen einmal in einem Interview. Die gängigen waren dabei. Aber auch Timbuktu oder das russische Kamtschatka. Er war auf dem Himalaja, in Patagonien, am Nordpol. Und immer wieder in Afghanistan, dem Land, das ihm am Herzen lag wie kein zweites.

Roger Willemsen ist gereist, er hat gesehen, er hat mit den Menschen gesprochen. Dann hat er nachgedacht. Und dann hat er ein Buch darüber geschrieben. Über das, was er erlebt hat. Über die Differenz und das Allgemeine. Über das Menschsein.

Witzig, sarkastisch, klug: 10 Stilblüten von Willemsen

Die Bücher, die in verlässlicher und bewundernswerter Regelmäßigkeit erschienen, tragen Titel wie „Die Enden der Welt“ und handeln von den nicht nur geografischen Kontrasten und davon, wie selbst im größten Unterschied alles eins ist. Sie heißen zum Beispiel „Momentum“ und erkunden die Macht des Augenblicks. Oder „Das Hohe Haus“: Ein Jahr lang ging Willemsen in den Bundestag und wohnte den Parlamentssitzungen bei. Es war sein Projekt für 2013. Im Frühjahr 2014 erschien dann sein Protokoll. So sieht sie aus, die Demokratie. Sie erfordert von allen vor allem Sitzfleisch. Auch vom Chronisten, der wissen will, wie die Regeln unserer Gesellschaft entstehen.

Schreiben war Willemsens große Leidenschaft

Auch der einjährige Politikausflug war eine Reise, so wie bei Willemsen, einem der maßgeblichen Intellektuellen seiner Generation, im Grunde alles eine Reise war – er saß meist gleichzeitig in Passagierflugzeugen und Gedankenfliegern. Damit wurde der 1955 als Sohn eines Kunsthistorikers in Bonn geborene Schriftsteller zum Bestsellerautor, der seinen Lesern erklärte, wie es woanders ist. Und der ihnen zeigte, dass Neugier eine der wichtigsten Antriebe im Leben ist, dass der Rausch, etwas Neues zu sehen, nie endet.

Roger Willemsen – ein Leben im Überblick

Kindheit und Jugend

Willemsen wurde am 15. August 1955 in Bonn geboren. Nach dem Abitur 1976 studierte er Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, unter anderem in Florenz und Wien.

Karriere-Anfänge

Willemsen arbeitete wissenschaftlich in München, war drei Jahre als Journalist für Zeitungen und Radiosender in London und arbeitete als freier Schriftsteller und Übersetzer; 1991 begann er, beim Bezahlsender Premiere (heute Sky) zu arbeiten.

Im Fernsehen

Auf die Live-Talkshow "0137" bei Premiere, für die er unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, folgte die ZDF-Reihe "Willemsens Woche".Außerdem moderierte er unter anderem „Nachtkultur mit Willemsen“ im WDR, das ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ und die Porträtreihe „Willemsens Zeitgenossen“, ebenfalls im Zweiten.Im Radio war er seit Anfang des Jahrtausends besonders im WDR zu hören.

Als Autor

Willemsen war über seine Karriere hinweg als Autor von Sachbüchern und Literatur tätig, zuletzt erschien 2015 "Das Hohe Haus" in der er ein Jahr als Zuhörer im Deutschen Bundestag Revue passieren lässt.

Auszeichnungen

Roger Willemsen erhielt neben dem Grimme-Preis für "0137" den Bayerischen Fernsehpreis, den Prix Pantheon und zuletzt im vergangenen Jahr den Deutschen Hörbuchpreis

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Auch wenn die ersten Bücher des promovierten Literaturwissenschaftlers bereits in den 80er-Jahren erschienen, spielte sich eine erste Karriere vor allem in einem anderen Medium ab. Der Grimme-Preisträger Willemsen reüssierte seit den 90er-Jahren erst beim Bezahlsender Premiere („0137“) und dann im ZDF („Willemsens Woche“, „Willemsens Zeitgenossen“) als Moderator anspruchsvoller TV-Sendungen.

Moderatorenkollegen: Anke Engelke und Roger Willemsen
Moderatorenkollegen: Anke Engelke und Roger Willemsen © picture alliance / dpa | Horst Galuschka

Seine große Leidenschaft jedoch, der Ort, an dem er zu sich und zur Welt fand, war das Schreiben. Er, der frühere Schulversager – Willemsen blieb zwei Mal sitzen –, erkannte früh das Formulieren und Zu-Papier-Bringen des Gedachten und Gesehenen als eine seiner Stärken. Die ersten Romanvorhaben scheiterten allerdings schmählich. Was für das Fernsehen ein Glück war und den brillanten Essayisten Willemsen wohl erst möglich gemacht hat. Der Urknacks seines mit Bucherfolgen und Preisehrungen gespickten Lebens sei der frühe Tod des Vaters gewesen, schrieb Willemsen in seinem 2008 erschienen Buch „Der Knacks“, in der er der bestimmenden Kraft nachspürte, die unser Leben ausmacht – dem Wendepunkt, in dem man eine Richtung ein- und eine andere ausschlägt.

Willemsen, der universelle Welterklärer

Auf seine charakteristisch feinfühlige Weise wurde Willemsen zum universellen Welterklärer, der seine Sicht der Dinge selbstbewusst kundtat. Hier, das merkte man bei seinen Lesungen, will einer mit der Welt und ihren Vorkommnissen ins Gespräch kommen.

Willemsen mit Thomas Gottschalk auf dem ZDF-Sofa
Willemsen mit Thomas Gottschalk auf dem ZDF-Sofa © IMAGO | teutopress

Es gibt ein mehr oder weniger berühmtes Foto des Roger Willemsen, das den in so vielerlei Weise Interessierten mit Block und Stift zeigt. Ein Bein über das andere geschlagen, sitzt Willemsen zwei Jungs gegenüber, er lächelt sie an. Es ist der zugewandte Blick, der auf praktisch alles fallen konnte: auf die Musik, im NDR moderierte er die Sendung „Roger Willemsen legt auf – Klassik trifft Jazz“. Auf die Literatur, im Schweizer Fernsehen moderierte er die Sendung „Literaturclub“.

Im Falle der Kinder, denen er sich mit der freundlichen Neugier des Zugereisten und dem Streben nach Erkenntnisgewinn näherte, handelte es sich um junge Afghanen. Vor zehn Jahren reiste Willemsen in das von einem Vierteljahrhundert Krieg versehrte Land. Es entstand die Reisereportage „Afghanische Reise“ und der Wunsch, sich zu engagieren: Willemsen wurde unter anderem Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins.

Mit Dieter Hildebrandt verband ihn der spöttische Humor
Mit Dieter Hildebrandt verband ihn der spöttische Humor © picture-alliance/ dpa | Arno Burgi

Wie so manche seiner Zunft war auch dieser Journalist nicht frei von Eitelkeit, das brachte der Beruf womöglich mit sich. Aber manchmal ließ er auch einfach nur andere zu Wort kommen und bezog damit unmissverständlich Stellung: 2007 erschien sein Interviewband „Hier spricht Guantánamo: Interviews mit Ex-Häftlingen“.

„Ein Kämpfer für die Menschen“

Die Fremde war es, die sein Welterfassungssystem zum Glühen brachte. Was er suchte? Er sagte es vor knapp vier Jahren im Abendblatt-Interview: „Einen guten Satz. Eine spezifische Erregung. Ich hänge am Situativen, an Atmosphären, an schrägen Konstellationen zwischen Leuten. Ankommen ist gar nicht erwünscht.“ Irgendwann sei das Fremde so eine Art Textil, das sich um einen lege wie ein Mantel, „das Geräusch, der Geruch, die Verdichtung, die vielen Menschen“.

Im August 2015 hörte Roger Willemsen auf, den Globus im Dienste der Fremd- und Selbsterkenntnis zu bereisen. Er beendete das Großprojekt „Weltauslegung“. Weil er, der einst in Bonn, Florenz, München und Wien Germanistik und Philosophie studierte, an Krebs erkrankt war, wie er der Öffentlichkeit mitteilte, ein paar Tage vorher hatte er seinen 60. Geburtstag gefeiert. Der großgewachsene Wahl-Hanseat mit der Hornbrille sagte alle Termine ab und zog sich zurück, um seinen letzten Kampf zu kämpfen.

Diese Persönlichkeiten sind 2016 gestorben:

Am Sonntag nun ist der humanistische Globetrotter in seinem Haus in Wentorf gestorben. Er sei ein „Kämpfer für die Menschen“ gewesen, würdigte ihn sein Stammverlag S. Fischer. So ist es, und nicht nur deshalb wird er fehlen.

Video: Roger Willemsen bei Harald Schmidt