Der Hamburger Schauspieler Benjamin Piwko spielt am Sonntag im „Tatort: Totenstille“ an der Seite von Devid Striesow.

Benjamin Piwko liest seinem Gegenüber jedes Wort von den Lippen ab. Für den 35-Jährigen ist diese Fähigkeit eine Selbstverständlichkeit, denn Piwko ist gehörlos. Lippenlesen und Gebärdensprache sind seine Form der Kommunikation. „Ich bin ein visueller Mensch“, sagt er. „Meinen Augen entgeht nichts, vor allem, wenn es um die Körpersprache geht.“ Mit Körpersprache kennt der Hamburger sich aus. In Altona ist er Kampfsporttrainer in seinem eigenen Dojo. An diesem Sonntag wird Piwko in ganz Deutschland bekannt sein: Im „Tatort: Totenstille“ spielt er an der Seite von Devid Striesow eine Hauptrolle – einen Gehörlosen namens Ben.

Beim Interview in einem Café im Phoenixhof sprudelt es aus Piwko nur so heraus. Denn der groß gewachsene Mann kann auch sprechen. Er formt Laute und Silben wie jeder andere. Er fragt, ob man einen Kaffee wolle, beginnt das Gespräch mit etwas Smalltalk zum Warmwerden und sucht bei der Begrüßung auch losen Körperkontakt mit einer leichten, freundschaftlich wirkenden Berührung an der Schulter.

Genau wie Piwko sich auf die Lippen des Gegenübers konzentriert, muss man auch seinen Mund genau beobachten, um ihn zu verstehen. Doch die Kommunikation hakt zu keiner Zeit. Nur einmal fragt Piwko nach und bittet, eine Frage zu wiederholen. Obwohl er einräumt, dass so ein Gespräch für ihn anstrengend sei, weil er sich stark konzentrieren müsse, ist der athletische Mann freundlich und bestens gelaunt. Und zu erzählen hat er eine Menge.

Für die Rolle im aktuellen „Tatort“ wurde Piwko zu einem Casting eingeladen. Vor ein paar Jahren hat er schon einmal in einem „Tatort“ mit Robert Atzorn mitgewirkt, außerdem ist er als Kampfsportler mit seinem Konzept des WBF-Trainings international bekannt. Das ist ein Mix aus Boxen, Kung-Fu und Selbstverteidigung. Piwko bekam die Rolle und drehte im vergangenen Jahr in Saarbrücken. „Die Dreharbeiten waren toll, weil es so harmonisch zuging. Herausfordernd waren vor allem die verschiedenen Emotionen. Zum Beispiel vor der Kamera zu weinen“, erzählt er. Seine dunklen Augen leuchten, Piwko strahlt bei der Erinnerung an die Zeit am Set. Ein Gebärdendolmetscher war zwar auch dabei, aber meistens funktionierte die Kommunikation zwischen ihm und den Kollegen im Team ohne Übersetzer. Vor allem von Devid Striesow und dessen kollegialem Feedback schwärmt Piwko.

Als Baby verlor Piwko sein Gehör durch eine verschleppte Virusinfektion

In „Totenstille“ spielt er einen jungen Mann, der über seine Fähigkeit des Lippenlesens mitbekommt, dass der verheiratete Ingenieur Weilhammer (Martin Geuer) die Leiche einer Frau verschwinden lassen muss. Er erpresst den Mann und gerät immer tiefer in einen Strudel von Gewaltverbrechen, deren Zeuge er wird. In einer Szene ist sein Entsetzen so groß, dass er seine Wut und seine Trauer herausschreit – für einen Gehörlosen eine enorme Anstrengung. „Danach tat mir der Kehlkopf ganz schön weh“, sagt er und lacht. Ohne Scheu stellt er in dem Café die Szene nach, klopft sich auf den breiten Brustkorb und stößt laute gutturale Töne aus, die an den berühmten Tarzanschrei erinnern und in dem hohen Gebäude stark hallen. Besonders aufgeregt war er vor der Kamera nicht: „Für mich fühlt es sich natürlich an, mich über meinen Körper auszudrücken. Ich liebe es, in Rollen zu schlüpfen und jemand anderes zu sein.“

Bereits als Baby hat er sein Gehör durch eine verschleppte Virusinfektion verloren. Seitdem ist es still um ihn herum. Im Alter von zwei Jahren kam er in eine Gehörlosenschule und hat dort sprechen gelernt, ohne die Möglichkeit sich selbst zu hören. Mit 14 lernte er Gebärdensprache. Schon mit sechs Jahren begann er mit Kampfsport. Judo, Aikodo, Kickboxen, Boxen. Darüber entwickelte der gehandicapte Junge Selbstbewusstsein und Disziplin. Wenn man Benjamin Piwko heute gegenübersitzt, strahlt er Ruhe aus. Es ist zu sehen, dass er sich seiner sicher ist. Das hat auch das „Tatort“-Team in Saarbrücken und vor allem Striesow überzeugt. „Er will in Zukunft wieder mit mir arbeiten“, sagt der Jungschauspieler.

Benjamin Piwko hofft, dass er durch die Rolle in „Totenstille“ einige Vorurteile gegenüber Gehörlosen abbauen kann, denn er hat auch Unverständnis und Zurückweisung erlebt. „Jeder Mensch hat auf seine Art ein Handicap. Warum reden wir von ,normalen‘ und ,behinderten‘ Menschen? Schöner ist es doch, zusammen zu kommen, ohne dass jemand ausgeschlossen wird.“ Ausgeschlossen fühlt Piwko sich manchmal im Kino. „Es laufen leider zu wenig Filme mit Untertiteln. Zum Glück gibt es in Hamburg das Abaton.“ Wenn der „Tatort“ gezeigt wird, kann Piwko den Film ohne Mühe anschauen: In der Mediathek der ARD läuft „Totenstille“ mit Untertiteln.

„Tatort: Totenstille“ So 24.1., 20.15, ARD