Hamburg. Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt über den kuriosesten und spannendsten Fall der Woche.

Ein bisschen schien es einem Beobachter so, „als ginge es um Mord oder Totschlag“. Wie ein Mann in wildem Spurt wegrannte und zwei andere entschlossen hinter ihm hersetzten – bei dieser Hatz dachte der Zeuge gleich an ein Kapitalverbrechen. Doch Waffen oder gar Blutrausch hatten mit dieser Verfolgungsjagd rein gar nichts zu tun. Vielmehr ging es um einen schnöden Ladendiebstahl – und nicht einmal um besonders wertvolles Stehlgut. Ein Mann hatte schlichtweg gegen den ganz großen Hunger etwas Nahrhaftes zu sich nehmen wollen.

Im Endeffek ist er ein junger Mann mit hängenden Schultern

Viel Lärm um Banales also? Es hätte bei einer wenig dramatischen Straftat bleiben können, wenn Sandro P. (Name geändert) nicht nur einen leeren Magen behalten, sondern auch einen kühlen Kopf bewahrt und sich ruhig verhalten hätte, nachdem er erwischt worden war. Stattdessen entschloss sich der 23-Jährige zur Flucht und scherte sich dabei offenbar wenig um Gesundheit anderer. Einfach um sich einer Festnahme zu entziehen? Oder aber um seine Beute zu sichern, was ein schwereres Delikt wäre?

Der junge Mann, der nun mit hängenden Schultern und eher furchtsamem Blick vor dem Richter sitzt, hat so gar nichts gemein mit einem rücksichtslosen Straftäter, wie er sich laut Anklage gebärdete. Demnach hatte er nach dem Diebstahl zweier Protein-Shakes in einem Supermarkt einen Ladendetektiv weggestoßen und versucht, seinem Verfolger einen Faustschlag zu verpassen. Schließlich soll er ihn bei der Rangelei noch mit dem Knie in der Bauchgegend verletzt haben.

„Es war doch nur, weil ich Schulden hatte“, setzt der athletisch gebaute Angeklagte nun seine Verteidigungs­rede an. Lange Zeit habe er beruflich nichts Festes gehabt, das als Fundament für ein solides Leben dienen könnte. Schließlich war da ja auch noch die Mutter, die ihren Sohn finanziell unterstützte. Doch als er wieder mal eine Ausbildung abbrach, habe sie einen „Riesenstress gemacht“ und ihm den Geldhahn zugedreht. „Das konnte ich auch total nachvollziehen“, zeigt sich der 23-Jährige ganz einsichtig.

Der 23-Jährige ist einsichtig: Weglaufen sei „total blöd gewesen“

„Nun stand ich ohne Geld da, habe mich erst mit Reserven durchgeschlagen, aber dann hatte ich nichts mehr, kein Geld, kein Essen.“ Also habe er sich entschieden, die Protein-Shakes zu stehlen. „Ich wusste aus meiner Zeit als Kraftsportler, dass das eine Zeit lang den Magen füllt.“ Eine Flasche Speiseöl habe er aber bezahlt, betont Sandro P. „Ich wollte mir auch noch Pfann­kuchen machen.“ Diebesgut und Einkauf verstaute er in seinem Rucksack, den er sich auf den Rücken schnallte, um flugs das Weite zu suchen.

Tatsächlich kam er kaum bis zur Tür des Supermarkts, als ihn ein Ladendetektiv stellte. „Er holte mich ein, es gab ein Gerangel, aber ich habe es geschafft, da rauszukommen.“ Im Spurt versuchte er zu entwischen, hatte aber sofort den nächsten Verfolger auf den Fersen: einen Polizeibeamten. Dass er versucht habe zu fliehen, sei „total blöd gewesen“, lautet die späte Erkenntnis des Diebes. „Immerhin befanden wir uns genau gegenüber einer Polizeiwache.“ Allerdings sei er ein „fitter Typ. Ich bin der Meinung, dass ich einem Polizisten weglaufen könnte, wenn ich wollte“, ist der Angeklagte überzeugt. „Ich habe mich aber ergeben.“

Den Ladendetektiv hat er mit einem Kniestoß außer Gefecht gesetzt

Das hätte er schon vorher tun sollen. Denn durch seine heftige Gegenwehr blieb dem Ladendetektiv seinerzeit buchstäblich die Luft weg. Der Dieb habe ihn zu Boden geschubst, erzählt der 37-Jährige als Zeuge. Dann sei der Mann weggerannt, er habe ihn aber einholen können und wollte ihn fixieren. „Da wollte er mich schlagen und treten, traf mich mit dem Knie im Bauch, sodass ich keine Luft mehr bekam.“ Dann sei der Dieb weggelaufen. Der Angeklagte habe ein Tempo vorgelegt, dass man glauben musste, es habe eine Leiche gegeben, ergänzt ein anderer Zeuge. Die Rangelei zuvor sei „ziemlich heftig“ gewesen. „Der Mann schlug wild um sich. Er wollte weg.“

Am Ende hat sich Sandro P. mit seiner Lust nach zwei Protein-Shakes 1200 Euro aufgehalst, die der Amtsrichter für den Diebstahl als Geldstrafe verhängt. Dass der Angeklagte nicht die Absicht hatte, dem Detektiv zu schaden, sei „klar. Aber gleichwohl haben Sie seine Verletzungen in Kauf genommen. Es war eine relativ massive Gewaltanwendung. Viel besser wäre es gewesen, sich zu ergeben!“