Die Bilder geflohener junger Männer erinnern Herbert Mühlroth an seine eigene Jugend. Er selbst musste seine Heimat Rumänien verlassen.
Herbert Mühlroth war gerade 18 Jahre alt geworden, als er in Temeswar gemustert wurde, der drittgrößten Stadt Rumäniens und dem gesellschaftlich-kulturellen Zentrum der Banater Schwaben, neben den Siebenbürger Sachsen die größte deutsche Volksgruppe des Landes.
Er war ein schlaksiger Gymnasiast, der in der Kleinstadt Hatzfeld, rumänisch Jimbolia, 40 Kilometer westlich von Temeswar und nur fünf Kilometer von der Grenze zu Jugoslawien, zweisprachig, also rumänisch und deutsch, aufgewachsen war – im „totalitären Himmelreich Nicolae Ceauşescus“, in dem die deutschen Minderheiten ständigen Drangsalierungen ausgesetzt waren – außer sie sangen das Loblied auf den Sozialismus lauter als die Rumänen selbst.
Mit 15 Jahren dachte Mühlroth das erste Mal konkret an eine Flucht
Nachdem Mühlroth als Kind sämtliche Stationen der staatlich verordneten Manipulation durchlaufen und es bis zum „Pionierführer“ gebracht hatte, sorgte der Vater durch behutsame Aufklärung dafür, dass die Welt des kleinen, glühenden Kommunisten in seinem Haus binnen kurzer Zeit zerbrach. „Er sagte mir noch nicht einmal, dass die Rumänen lügen würden. Er meinte nur: ‚Du musst einfach darauf achten, dass es bei dieser Sache noch eine zweite Seite gibt!‘“, sagt Mühlroth heute, der sich wenig später von seiner Gruppe als Pionierführer abwählen ließ, indem er jedem in seinem Trupp dafür ein Eis versprach.
Er war 13, als er sich dazu entschloss, jetzt lieber ein guter Handballtorwart zu werden. Tatsächlich schaffte er es in die rumänische Landesauswahl seiner Altersklasse. Zwei Jahre später dachte er jedoch schon zum ersten Mal konkret an eine Flucht, und nun, mit 18, stand er in Unterhosen vor zwei Offizieren, die gelangweilt in seinen Unterlagen blätterten. „Sie wollten wissen, was ich nach der Schule machen möchte. Ich antwortete, dass ich studieren möchte, erinnert sich Mühlroth. Beide Offiziere hätten daraufhin jedoch nur gelacht. „‚Dafür hast du dich durch dein Verhalten ja nicht gerade empfohlen!‘, sagte dann einer der beiden, ‚weißt du was? Der Kanal wartet auf dich!‘“, erzählt Herbert Mühlroth.
Gemeint war der Donau-Schwarzmeer-Kanal, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger per Hand von Zwangsarbeitern, politischen Häftlingen und Strafbataillonen ausgeschachtet wurde, und der damals das „Soldatengrab“ Ceauşescus genannt wurde. Heute schätzt man, dass rund zehn bis 15 Prozent der Kanalarbeiterinnen und -arbeiter starben. „Ich wusste also ganz genau, was mich dort erwarten würde“, sagt Mühlroth. Aber der entscheidende Auslöser für den lebensgefährlichen Plan, abzuhauen, war letztlich die Hatzfelder „Kirchweih“ im Jahre 1980, die von über 60 deutschstämmigen Mädchen und Jungen trotz strengen Verbots durch die Partei erstmals wieder gefeiert wurde. „Dieses Erlebnis festigte meine innere Haltung: Man muss sich wehren, man darf nicht alles hinnehmen, nur weil der Staat das von uns erwartete. Dadurch gewann ich den Mut, Nein zu sagen zu einem totalitären System, das mir die Luft zum Atmen abschnürte.“
In einem Buch hat Mülroth seine Geschichte niedergeschrieben
33 Jahre später sitzen wir im provisorischen Wintergarten eines etwa 120 Jahre altes Bauernhauses in Düchelsdorf, einem Nest im Kreis Herzogtum Lauenburg in der Nähe des Elbe-Lübeck-Kanals. Seit gut fünf Jahren renovieren Mühlroth und seine Frau Gudrun das Erbe ihres Großvaters, zumeist in Eigenleistung, und sie wollen „in ungefähr zehn Jahren komplett fertig werden.“ Seine Frau arbeitet bei einem Immobilienverwalter im Büro, Mühlroth, der in Heidelberg und Berlin Germanistik, Romanistik und Philosophie studierte, ist heute als Publizist tätig sowie als Übersetzer und Dolmetscher, häufig auch bei Gerichtsverhandlungen.
Er zeigt uns ein kleines Büchlein, das er im vergangenen Jahr veröffentlicht hat. Es heißt „Eine Eisenbahn in meinem Traum“, und darin erzählt er die Geschichte der Flucht aus seiner Heimat, die er 1982 gemeinsam mit zwei Schulfreunden gewagt hatte, ein Jahr vor seinem Abitur.
Nach dreimonatigen Vorbereitungen in aller Heimlichkeit enterten die drei jungen Männer einen zwischen Rumänien und dem damaligen Jugoslawien regelmäßig verkehrenden Güterzug. Nachdem sie die Grenze überquert hatten, sprangen sie wieder ab und gingen zu Fuß weiter Richtung Norden. Nach gut 50 Kilometern Fußmarsch wurden sie von der Miliz aufgegriffen, stundenlang in Handschellen verhört und schließlich von einem Schnellrichter zu 20 Tagen Haft in Zrenjanin verurteilt – wegen des illegalen Grenzübertritts. „Die Chancen, zurückgeschickt zu werden, standen 50 zu 50“, sagt Mühlroth, „zumindest wurde das bei uns im Grenzgebiet so immer wieder kolportiert.“ Sie bekamen grauenvolles Essen, einen Blecheimer für die Notdurft, schimmelige Matratzen und löcherige Pferdedecken, auch aus den geringsten Anlässen setzte es Schläge mit dem Gummiknüppel. „Wir wussten, was uns erwarten würde, wenn sie uns nach Rumänien abschieben würden. Deshalb versuchten wir, in unserer Zelle zu trainieren, weil wir meinten, im Falle eines Falles die Misshandlungen der Rumänen besser wegstecken zu können“, sagt Mühlroth. „Aber das Schlimmste war, mir die ganze Zeit vorzustellen zu müssen, was unsere Eltern durchmachen mussten, denn wir hatten sie ja aus Sicherheitsgründen nicht in meinen Plan eingeweiht.“
32 Jahre lang trug er diese Geschichte mit sich herum, bevor er sie aufschrieb. „Früher hätte ich es einfach nicht gekonnt“, sagt er, „jeder, der aus Rumänien geflohen ist, wird bestätigen, dass diese Flucht über die grüne Grenze nach Jugoslawien oder auch Bulgarien immer ein traumatisches Erlebnis darstellt, über das man erst nach langer Zeit oder auch gar nicht hinwegkommt – selbst dann, wenn sie letzten Endes erfolgreich verlaufen ist.“ Er mag sich deshalb gar nicht vorstellen, wie sich die heutigen Flüchtlinge aus Syrien oder dem Irak fühlen, aber „er könne es sehr gut nachvollziehen.“
„Das Essen wird immer die Verbindung zu meiner Heimat bleiben“
Nach 20 Tagen öffneten sich die Gefängnistüren. Sie wurden nach Padinska Skela in ein Flüchtlingsauffanglager gebracht und von dort, nach weiteren sieben Tagen, vom Roten Kreuz zur Deutschen Botschaft nach Belgrad. Das bedeutete für sie die Freiheit: Einen Monat, nachdem die drei Freunde auf den fahrenden Zug aufgesprungen waren, kamen sie im Grenzdurchgangslager Nürnberg an, konnten endlich frische Kleidung anziehen – und ihren Eltern mitteilen, dass sie es nach Deutschland geschafft hatten.
Danach trennten sich ihre Wege. Einer ging nach Gießen, der andere nach Australien. „Ich hatte nach meiner Flucht noch gut ein ganzes Jahr lang Albträume“, sagt Mühlroth, wissend, dass es einfach nur Glück war, dass die Jugoslawen sie nicht zurückgeschickt hatten. Von seinem australischen Freund weiß er durch Briefe und spätere E-Mails, dass der sich bis heute mit den seelischen Folgen seiner Flucht herumschlagen muss.
Später macht uns Herbert Mühlroth ein rumänisches Mittagessen. Es gibt scharfen Salată cu telemea und Mititei, Schafskäsesalat und gegrillte Hackfleischröllchen. „Das Essen“, sagt Mühlroth lächelnd, während er das Fleisch auf dem Rost wendet, „wird immer die Verbindung zu meiner Heimat bleiben. Vermutlich auch die einzige.“
Er begann freiwillig die Bibliothek in einer Flüchtlingsunterbringung aufzubauen
Ein paar Jahre später, als er bereits studierte, sollte es ihm gelingen, mithilfe des einflussreichen Vaters einer Kommilitonin sowie des Roten Kreuzes, seine Eltern aus Rumänien herauszuholen, ohne das damals eigentlich fällige Kopfgeld von 8000 Mark pro Ausreisendem an Rumänien bezahlen zu müssen. Damals, in den 80er-Jahren, kamen jedes Jahr Hunderttausende Deutschstämmige aus dem Osten in die Heimat „ihrer Väter“ zurück. Sie reisten offiziell aus, wurden freigekauft oder flüchteten. Sie alle kamen als Deutsche zu Deutschen, beherrschten zumeist auch ihre Sprache, besaßen häufig eine recht gute Bildungsgrundlage – doch die meisten blieben erst einmal Fremde.
Mühlroth erging es nicht anders. Er wurde in ein Übergangswohnheim nach Lahr verfrachtet und dazu verdonnert, nichts zu tun. Deshalb begann er freiwillig, die Bibliothek der Unterbringung aufzubauen. „Ich verspürte ein Gefühl der tiefen Einsamkeit. Ich war allein in einer fremden Umgebung, in einem mir völlig fremden Land.“ Dann lernte er die deutsche Bürokratie kennen und einmal auch den Bundesnachrichtendienst. „Mein ganzes Leben wurde penibel bis aufs Geringste untersucht. Bloß keine Lücke offenlassen. Diese Behandlung empfand ich mit meinem neu gelernten Wortschatz, als ‚ätzend‘. Immerhin war aber die Gegend traumhaft schön“, sagt Mühlroth. Die Nächte jedoch seien schrecklich gewesen, da er sich sein kleines Zimmer mit einem Flüchtling aus Siebenbürgen und einem polnischen Aussiedler teilen musste, die beide entsetzlich schnarchten. Die Luft sei zum Schneiden gewesen, „fast so schlimm wie in der jugoslawischen Zelle“. Und wenn er in Lahr die Menschen über die „ausländischen Deutschen“ sprechen hörte, so wurden die je nach ihrer Herkunft als „Russkis“, „Polacken“ oder „Balkanesen“ bezeichnet. Ausländerfeindlichkeit habe er persönlich jedoch nur ganz selten erfahren. Heute, mit der riesigen Flüchtlingswelle, sei die Situation für die Menschen um ein Vielfaches schlimmer, sagt er.
Ein Zeitungsartikel veränderte sein Leben
Herbert Mühlroths großes Glück war, dass im Stuttgarter und Freiburger Raum einige Verwandte sowie ehemalige Hatzfelder lebten, die ihm im Gegensatz zu den Behörden bei den ersten Schritte in sein neues Leben behilflich waren. „Am 15. September 1982 fing die Schule in Stuttgart an. Ich hatte ein kleines Zimmer für diese Zeit gemietet. In der Klasse des Zeppelin-Gymnasiums waren etwa 20 Spätaussiedler, ein paar Flüchtlinge aus dem Banat und aus Siebenbürgen und eine Schülerin aus der DDR. In dieser Zeit bekam ich von der Otto-Benecke-Stiftung ein Stipendium, das ich neben dem spärlichen BAföG gut gebrauchen konnte“, erzählt Herbert Mühlroth.
Er begann wieder mit dem Handballsport. Mit dem TSV Zuffenhausen wählte er den Stuttgarter Handballverein aus, der damals in der höchsten Liga spielte. Als dann eines Tages in der „Stuttgarter Zeitung“ ein Artikel über den „talentierten Torwart und Flüchtling aus dem Banat“ erschien, erfuhr ein gewisser Martin Mühlroth, der fünf Jahre zuvor aus Rumänien über die Donau nach Jugoslawien in die Freiheit hinübergeschwommen war, dass sich nun ein weiterer Hatzfelder in Deutschland aufhielt. „In dieser Zeit kümmerten sich zwei Familien, die Stoffels und die Mühlroths, um mich. Von ihnen wurde ich warmherzig aufgenommen – wie ein eigener Sohn. Wir stellten fest, dass sein Sohn und ich Cousins dritten Grades waren. Durch diese Unterstützung ist mir die Integration letztlich sehr leicht gefallen.“
Ein Nachbar der Stoffels, ein amerikanischer Arzt, habe ihm damals einen Satz mit auf den Weg gegeben, der bis heute sein Leben bestimmen würde: „Er sagte, Freiheit sei die Freiheit, wählen zu können. Insofern war ich in Rumänien vor meiner Flucht wohl doch nicht ganz unfrei, denn ich habe mir diese Freiheit einfach genommen zu wählen – zwischen einem Leben in Freiheit oder einem Leben in einer Diktatur.“