Hamburg. 1965 eröffnete er sein erstes Geschäft in Hamburg – und scheiterte. Acht Filialen später will er seine Märkte gar nicht mehr betreten.

Die Kühltruhen sind tiefe Wannen. Wer etwas Gefrorenes möchte, muss sich weit nach unten bücken. Es gibt zwei mechanische Kassen. Für zwei Flaschen Apfelsaft berechnen die Mitarbeiter 88 Pfennige. Ein 500-Gramm-Glas Bienenhonig schlägt mit 1,28 Deutschen Mark (DM) zu Buche. Die Bananen hängen am Haken über der Fleischtheke. Das Gewicht von Kartoffeln und Tomaten wird mit einer Pendelwaage ermittelt.

„Wir hatten zwei Sorten Äpfel. Damit waren alle zufrieden, die Kunden fanden das Angebot gut“, sagt Dieter Niemerszein. Heute schüttelt der 76-Jährige in Erinnerung an die „mickrige“ Obstabteilung den Kopf. Aber: „Für die damalige Zeit war das ein moderner, überdurchschnittlich großer Supermarkt.“ Damals, das ist das Jahr 1965. Dieter Niemerszein hat sich am Hirtenstieg in Garstedt (heute Norderstedt) seinen Traum erfüllt. „Ich wollte mich immer selbstständig machen.“ Von der Einzelhandelskette Spar bekam er den Zuschlag für den 250 Quadratmeter großen Markt. Es war der Startschuss für seine Karriere als Kaufmann. Heute gehören ihm und seiner Familie acht Edeka-Märkte in Hamburg. „50 Jahre ist schon was. Da können wir stolz drauf sein.“

Seine Frau Erika holte ihn an die Elbe

Dass es den Ost-Berliner überhaupt in die Branche und an die Elbe verschlug, lag an einer Frau. 1959 kam er in die Hansestadt und verliebte sich in Erika. Eigentlich wollte der gelernte Hotelkaufmann in der Tourismusbranche arbeiten. Er war auf der Hotelfachschule in Heidelberg, arbeitete in Düsseldorf und Weiden in der Oberpfalz. Aber ständig den Ort wechseln wollte er dann doch nicht. „Mich hat diese Frau in Hamburg so gefesselt.“ Niemerszein heiratete seine Erika. Irgendwann habe er sich gesagt, ob er Gäste oder Kunden bediene, sei auch egal. Er wechselte in den Einzelhandel, arbeitete in der Kaufhalle am Rathausmarkt, stieg schnell zum Abteilungsleiter auf – bis ihn ein Fleischlieferant zum Schritt in die Selbstständigkeit ermutigte. 1964 meldete er sich bei der Spar-Zentrale in Schenefeld. „Ich habe da wohl einen guten Eindruck hinterlassen.“

Er eröffnete in Garstedt ein Geschäft, das allerdings nicht so gut lief. Zwischen 80.000 und 100.000 D-Mark Monatsumsatz reichten nicht aus, um den Supermarkt mit drei Angestellten wirtschaftlich zu betreiben. Als die Niemerszeins das Geschäft eröffneten, sei eine schnelle Bebauung der Umgebung geplant gewesen. Doch das passierte nicht, die Kundenfrequenz war zu niedrig. „Erika und ich waren beide unterfordert.“ Nach drei Jahren gaben sie den Laden auf. Unterm Strich stand ein Verlust von 16.000 D-Mark.

An der Osterstraße entsteht ein Gigant

Niemerszeins Ruf in der Spar-Zentrale hatte aber offenbar nicht gelitten. 1968 wurde ihm ein Flaggschiff angeboten, das Geschäft an der Osterstraße 120, Ecke Heußweg in Eimsbüttel. „Das war der größte Spar-Supermarkt in ganz Europa“, sagt Niemerszein. Er und sein neuer Geschäftspartner August Glasmeyer gingen das Risiko ein, nahmen einen 350.000-D-Mark-Kredit für Inventar und Wareneinkauf auf. Zwischen 10.000 und 15.000 Artikel standen auf gut 700 Quadratmetern. „Das war eine astronomische Größe“, sagt Niemerszein.

Am Eröffnungstag – Donnerstag, den 29. Februar 1968 – gab es einen wahren Ansturm. Immer wieder mussten die Türen geschlossen werden. Das ging drei Tage lang so. Vor allem Kaffee trugen die Kunden aus dem Laden. Und vier Flaschen Sekt für zehn Mark. Den Preis hat Niemerszein auch nach fast 48 Jahren sofort parat. „Das Geld haben wir in Tragetaschen in den Tresor gepackt.“ Erst am Sonntag hatten die Chefs Zeit zum Zählen. Sie hatten etwa 200.000 D-Mark umgesetzt.

„Ich habe immer zu meiner Frau gesagt: ,Wenn das nach der Norderstedt-Pleite mit diesem Laden wieder nicht klappt, wandern wir mit unserer Tochter Sabine nach Brasilien aus‘“, sagt Niemerszein. Er musste Deutschland nicht Auf Wiedersehen sagen. Bereits im zweiten Geschäftsjahr warf der Markt Gewinne ab, nach fünf statt der vorgesehenen sieben Jahren war der Kredit abgezahlt.

Die beiden Geschäftspartner expandierten. An der Hallerstraße kam die zweite Filiale hinzu. Es habe halt eine Aufbruchstimmung gegeben. Und in der machten die Jungunternehmer Fehler. „Wir haben viel Geld durch Fehlentscheidungen verloren.“ Die Spar-Zentrale drängte nach Schleswig-Holstein. Glasmeyer und Niemerszein waren dabei, übernahmen Geschäfte in Bordesholm, Wasbek und Bornhöved – und scheiterten. „Das lag an der Mentalität der Leute. Sie wollten nicht bei Hamburgern kaufen.“ Dabei wohnte Niemerszein damals genau so wie heute in Henstedt-Ulzburg.

Für die Entwicklung des Unternehmens waren aber auch diese Fehlschläge im Nachbarland wichtig. Denn im Gegenzug für den Schritt gen Norden, gab die Spar-Zentrale der Firma gute Standorte in Hamburg. Nach und nach machten sie in der Hansestadt neue Geschäfte auf. Einige Flops wie in Neuwiedenthal, Billstedt und ein Frisch-und-lecker-Laden in der Einkaufsmeile Hamburger Straße waren allerdings auch dabei. Sie erwiesen sich langfristig als nicht rentabel genug und wurden wieder geschlossen.

Stammhaus Osterstraße nach wie vor bester Markt

Mitte der 90er-Jahre führten Glasmeyer/Niemerszein acht Geschäfte – und trennten sich. Es war die Zeit für einen Generationswechsel, die Kinder beider Familien wollten eigene Wege gehen. Die Familie Glasmeyer bekam die Märkte in Pöseldorf und an der Waitzstraße sowie eine Ausgleichszahlung, die Familie Niemerszein behielt die sechs anderen Märkte.

Heute sind es wieder acht Filialen. An der Osterstraße wurde 2003 ein weiteres Geschäft eröffnet, nur wenige Hundert Meter neben dem Stammhaus. Lohnt sich das? Ja, sagt Niemerszein. Mitbewerber sollten verhindert werden, die Urfiliale entlastet werden. Auch heute werde an Weihnachten und Silvester wegen Überfüllung regelmäßig geschlossen. Die Treue der Kunden sei phänomenal, teilweise komme schon die Enkelgeneration. „Viele wohnen woanders, sagen aber, dass sie einmal im Monat hierher kommen müssen.“ Pro Woche kommen rund 26.000 Kunden, die Osterstraße 120 ist nach wie vor der beste Markt der Firma.

Vor zwei Jahren kam der bisher letzte Supermarkt hinzu. Wo früher an der Langen Reihe in St. Georg Tausend Töpfe seine Teile verkaufte, bietet nun Niemerszein auf 2000 Quadratmetern Produkte von Edeka an, auf deren Sortiment das Unternehmen nach dem Verkauf von Spar an den größten deutschen Lebensmittelhändler im Jahr 2006 umflaggte. „Das ist unsere Elbphilharmonie“, sagt Niemerszein in Anlehnung an die Strahlkraft des Objekts – und die roten Zahlen, die es noch schreibt. Langfristig ist er aber von dem Standort total überzeugt. „Für die Firma ist das ein enormer Sub­stanzgewinn“, sagt der Kaufmann.

Das Jahr der Filialeröffnung in St. Georg war für ihn der Zeitpunkt aus der operativen Führung auszuscheiden. Zwar denke er auch heute noch viel an die Firma, er wollte aber mehr Zeit für seine Hobbys Astronomie, Lesen und Joggen haben. Für Hund Socke, den bayrischen Mischling. Und natürlich für seine Ehefrau Erika, mit der zusammen er jahrzehntelang arbeitete und die Welt bereiste. Im Mai ist die Liebe seines Lebens dann gestorben. Niemerszein fällt es schwer, darüber zu reden, der Verlust wiegt schwer, die Erinnerung an die gemeinsame Arbeit im Laden ist schön und schmerzlich zugleich. Seit ihrem Tod hat er nie wieder eines seiner Geschäfte betreten. Für den Abendblatt-Fotografen machte er eine Ausnahme. An einem Sonntag, als der Laden geschlossen hatte. „Ich habe Erika viel zu verdanken. Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft.“

„Das alles“ ist in 50 Jahren zu einem mittelständischen Betrieb gewachsen. 85 Millionen Euro Umsatz erwartet das Unternehmen in diesem Jahr, unterm Strich wird ein Gewinn stehen. Die Höhe bleibt Firmengeheimnis. Zwei-, dreimal sei man in der Unternehmensgeschichte in den roten Zahlen gewesen, sagt Niemerszein. Wichtig ist ihm: „Wir haben immer eine gute Liquidität im Unternehmen gelassen. Ich brauche ohnehin wenig, ein schönes Auto ist mein einziger Luxus.“ Das glaubt man dem bodenständigen und bescheiden wirkenden Mann.

Zwei Märkte sollen modernisiert werden

Heute sind 460 Mitarbeiter auf 370 Vollzeitstellen bei dem zweitgrößten Hamburger Edeka-Händler beschäftigt. „Statistisch gesehen kauft jeder Hamburger bei uns dreimal im Jahr ein“, sagt Niemerszein über die mehr als fünf Millionen Kunden im Jahr. Inhaber sind neben Dieter Niemerszein Senior sein Sohn Dieter sowie Andrea und Volker Wiem, seine Tochter und sein Schwiegersohn. Die älteste Tochter Sabine habe sich gegen den Einstieg als Gesellschafterin entschieden. Einmal im Monat treffen sich die Eigentümer. „Ich meckere, kritisiere und schimpfe“, sagt der Seniorchef und lacht. Wichtige Zukunftsentscheidungen werden dort getroffen. 2016 sollen die Märkte am Mühlenkamp und an der Hallerstraße umgebaut und modernisiert werden. Auch über Neueröffnungen wird immer wieder gesprochen. „Bis zu zehn Objekte würden wir machen“, sagt Prokurist Frank Ebrecht. Konkret geplant ist derzeit aber nichts.

Der erste Spar-Markt
der Niemerszeins
am Hirtenstieg in Garstedt
Der erste Spar-Markt der Niemerszeins am Hirtenstieg in Garstedt © Niemerszein

Diskutiert wird auch über technische Innovationen wie Selbstscankassen (Niemerszein: „Das widerstrebt uns eigentlich.“) und elektronische Preisschilder, die es bisher in einer Filiale gibt. Dass damit die Preise mehrfach am Tag wechseln, erwartet Niemerszein nicht: „Es wäre tödlich, abends die Preise zu ändern.“ In den sozialen Netzwerken würde dies einen Shitstorm auslösen. Veränderungen erwartet er natürlich durch den Onlinehandel. Weniger bei Lebensmitteln, dafür mehr bei Windeln und Hundefutter. Er könne sich vorstellen, dass beide Produkte in zehn Jahren bei den meisten Supermärkten nicht mehr im Sortiment sind. Weil sie im Internethandel oder im Fachmarkt günstiger sind und dort gekauft werden.

Doppelt so viele Artikel wie vor 50 Jahren

Insgesamt sei der Kunde heute aufgeklärter und sehr viel anspruchsvoller als früher. Frischkäse allein reicht nicht mehr, es muss ihn auch noch mit Meerrettich, Kräutern, in verschiedenen Fettstufen und natürlich von verschiedenen Herstellern geben. Rund 30.000 Artikel gibt es mittlerweile in einem Supermarkt, mindestens doppelt so viel wie vor 50 Jahren. Zunehmend gefragt werden regionale Produkte, für die auch gern einmal etwas mehr Geld bezahlt wird. Niemerszein: „Der Kunde kauft Feinkost, ohne stark auf den Preis zu schauen – und achtet direkt danach auf jeden Cent bei Butter und Zucker.“ In manchen Märkten wird die Hälfte der Bons per EC-Karte bezahlt, während früher Scheine und Münzen in die Kassen kamen. Niemerszein: „Man zahlte bar. Das Geld brachten wir in Geldbomben zur Bank.“

Zwar habe sich in den vergangenen 50 Jahren die Größe eines Supermarktes deutlich erhöht, die Grundstruktur sich aber kaum verändert. Statt sich zu bücken, kann allerdings häufig auf Brusthöhe zu Pizza und Eis aus senkrecht stehenden Tiefkühlschränken gegriffen werden. Bananen hängen nicht mehr an der Fleischtheke. Es gibt mehr als zwei Sorten Äpfel. Und gewogen werden Gemüse und Obst nicht mehr auf Pendelwaagen, sondern vorm Bezahlen an der elektronischen statt der mechanischen Kasse. Die Erfolgsformel für ein florierendes Geschäft sei aber über die Jahrzehnte gleich geblieben, sagt Dieter Niemerszein: „Der Laden muss sauber, die Mitarbeiter freundlich und das Sortiment gut sein.“