Das Buch mit Photochromen, einer Vorform der Farbfotografie, zeigt beeindruckende Bilder aus Deutschland um 1900.
Der Andrang war groß vor dem Stand des Schweizers Romedo Guler (1836-1909), der in Davos als Schreiner begonnen hatte, sich aber später in St. Moritz und Zürich mit einem eigenen Fotoatelier einen Namen machte. Anfang Mai 1889 hatte er auf der Pariser Weltausstellung seinen ganz großen Auftritt. Fasziniert betrachteten die Besucher seine Fotos der verschneiten Waldlandschaften der Zürcher Umgebung, weniger aufgrund ihrer künstlerischen Qualität, sondern vielmehr weil sie neben dem Weiß des Schnees zarte Farben aufwiesen. Die „Fotografien mit naturgetreuer Farbwiedergabe“ wurden in Paris prämiert und traten in den folgenden Jahren ihren Siegeszug durch Europa und Nordamerika an.
Handkolorierte Schwarz-Weiß-Bilder hatte es schon seit der Frühzeit der Fotografie gegeben, doch handelte es sich dabei um ein aufwendiges, manuelles Verfahren, das keine massenhafte Verbreitung zuließ. Das war bei dem Photochromverfahren des Hans Jakob Schmid, der als Chefingenieur die Zürcher Firma Orell Füssli & Co. leitete, ganz anders. Mit dieser Technologie, die sich Schmid 1888 patentieren ließ, war es nämlich möglich, von Schwarz-Weiß-Negativen serienmäßig Farbabzüge herzustellen. Welche enorme Wirkung man damit erzielen konnte, zeigte der Erfolg, den Guler 1889 in Paris feiern konnte. Um nun „die Kunst des Photochromdrucks der ganzen Welt zugänglich zu machen“, gründeten bald darauf die Brüder Heinrich und Paul Wild die Firma Photochrom Zürich als Tochterunternehmen von Orell Füssli.
Da sich auch einige weitere Unternehmen mit ähnlichen Verfahren auf dem europäischen und amerikanischen Markt etablierten, erlebte diese Vorgängertechnologie der Farbfotografie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine enorme Blüte.
Prachtband zeigt Hamburg um 1900
Vor allem das Fremdenverkehrsgewerbe nutzte Photochrome für Werbebilder von berühmten Ferienorten, die gern auch als Panoramabilder oder Großformate gedruckt wurden. Auch für die Werbestrategien von Hotels und Überseereedereien spielten die farbigen Fotos eine wichtige Rolle. Ihren eigentlichen Durchbruch schafften die Photochrome jedoch erst mit der massenhaften Verbreitung der Ansichtspostkarten seit den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Bald waren Tausende von Motiven im Umlauf, die nicht nur touristische Ziele wie die mondänen Badeorte an der Nordsee, populäre Gegenden in den Alpen oder am Rhein zeigten, sondern auch Städte wie Berlin, München, Dresden, Köln und natürlich Hamburg.
Der Grafikdesigner, Fotograf und Sammler Marc Walter, die Autorin Sabine Arqué und die Kunsthistorikerin Karin Lelonek haben aus der kaum überschaubaren Fülle der Motive etwa 800 Bilder zusammengestellt, die jetzt im Taschen Verlag unter dem Titel „Deutschland um 1900. Ein Porträt in Farbe“ als Prachtband erschienen sind.
Berlin und Umgebung, Nord- und Ostsee, Elbe und Rhein, Bayern und Mitteldeutschland sind die Ziele dieser nostalgischen Deutschlandreise, die uns ein Land vor Augen führen, das so aussieht, als habe es sich für den Fotografen besonders herausgeputzt. Wir sehen gotische Dome, prächtige Schlösser, romantische Fachwerkhäuser, aber auch Aussichtstürme, gemütliche Gaststätten und pittoreske Landschaften. Obwohl auch die technischen Errungenschaften der industriellen Revolution – die Dampfschiffe, Lokomotiven und Bahnhöfe – wirkungsvoll ins Bild gerückt werden, wirkt dieses Land auf merkwürdige Weise still. Die Menschen sitzen in Gartenlokalen, erholen sich am Ostseestrand oder winken mit weißen Taschentüchern mächtigen Dampfschiffen hinterher, nur arbeiten muss offenbar keiner. Eine verhaltene Sonntagsstimmung liegt über diesem Land, das in seiner zarten Farbigkeit real und doch fast ein wenig entrückt wirkt.
Diese Harmonie wird nicht durch die Unrast in Fabriken oder die schreiende Armut jener Zeit gestört. Und so finden sich zum Beispiel unter den zahlreichen Hamburg-Ansichten dieses Bandes wunderbare Panoramabilder des Hafens, der damals noch von einem Mastenwald geprägt wird, pittoreske Motive von Fachwerkhäusern an den Fleeten und die Flaneure auf dem Jungfernstieg, aber keine Bilder von Fabrikarbeitern oder gar vom Elend in den Gängevierteln. Das Deutschland dieser faszinierenden Farbbilder aus der Zeit um 1900 ist in Feierlaune und wirkt oft ein wenig verträumt. Es ist ein opulenter und farbiger Abgesang an das Kaiserreich, das wenige Jahre später im Geschützdonner des Ersten Weltkriegs unterging, sich hier aber noch einmal so inszeniert hat, wie es gern in Erinnerung bleiben wollte: als die vermeintlich gute alte Zeit.