Das Hamburger Nein zu Olympia mag überraschend sein, dabei passt es ins Bild. Die Mehrheit tickt anders als die Elite. Eine Polemik.
Das gibt’s nur einmal.“ Zumindest für Kinder klingt das nach einem Versprechen. Wenn die Welt noch jung, frisch und unverbaut erscheint, geht von diesen vier Worten ein unfassbarer Reiz aus, ein Versprechen, eine Verheißung. Für die Mehrheit der Hamburger, das wissen wir seit Sonntag Abend, ist das Einmalige eher eine Bedrohung, eine Fährnis, eine Strapaze.
Wer wagt gewinnt, hieß es früher. Der Spruch taugt für die Mottenkiste der Geschichte. Wer wagt, verliert, lautet das Motto der Gegenwart. So gefällt’s den Deutschen im 21. Jahrhundert besser. Nur ob man damit zu den Gewinnern zählen wird, darf bezweifelt werden.
Nun hat die Abstimmungsentscheidung eines jeden Hamburgers – ob Ja, ob Nein – jeden Respekt verdient. Es gab im Vorfeld viele berechtigte Sorgen und Ängste. Wie sollen wir die Spiele finanzieren, wenn sich nicht einmal die Stadt und der Bund einigen können? Rücken wir unsere schöne Hansestadt in das Fadenkreuz der Terroristen? Und was ist angesichts von Skandalen und Skandälchen eigentlich von der guten Idee eines Festes der Jugend geblieben?
Eines kann man der Stadt nicht vorwerfen – sie hat diese Frage mit Verve diskutiert: In Kirchengemeinden, Sportverbänden, auf Wochenmärkten und Schulhöfen wurde debattiert und gestritten, Tonnen von Papier bedruckt, endlos Worte gewechselt, Masterpläne präsentiert, Erklärungen unterzeichnet.
Die Befürworter hatten so viel auf ihrer Seite und haben doch verloren
Wie nie zuvor haben die Olympia-Befürworter das Gespräch mit den Gegnern gesucht, sich beraten und überzeugen lassen, nachgebessert. Olympische Spiele 2024 sollten nicht eine fixe Idee von oben bleiben, sondern alle in der Stadt mitnehmen. Viele fragen sich nun, was sie falsch gemacht haben.
Lange war die Begeisterung unübersehbar: 20.000 Hamburger hatten im Februar an der Binnenalster demonstriert, dass sie Feuer und Flamme für die Spiele sind. 10.000 Menschen bildeten im November im Stadtpark die olympischen Ringe nach. Damals schafften es nur eine Handvoll Gegner dorthin. Jede NOlympia-Demonstration blieb eine überschaubare Veranstaltung. Ja, es gelang Gegnern nicht einmal, die notwendigen 10.000 Unterschriften zu sammeln, um ihre Sichtweise der Dinge ins Informationsheft zum Referendum zu bringen. Aus Fairness durften die Kritiker dann doch zu Wort kommen – und entschieden sich für einen Comic.
Alle Umfragen sagten ein klares Ja voraus. Die Befürworter wähnten die Argumente, das Engagement und die Aktionen auf ihrer Seite. Natürlich fürchteten viele den Einfluss schlechter Nachrichten wie die Anschläge in Paris oder die DFB-Affäre während der Abstimmung. Aber sie können das Nein kaum erklären. Die Ergebnisse der Briefwahl und der Abstimmung an den Urnen decken sich. Das deutet daraufhin: Am Ende ging es vielleicht weniger um Argumente oder Ängste, als vielmehr um das Signal: So nicht! Fast auf die Nachkommastelle deckt sich das Ergebnis aus Hamburg mit dem aus München. Die Bewerbung um die Olympische Winterspiele 2022 scheiterte dort bei vier Referenden in der Landeshauptstadt, in Garmisch-Partenkirchen sowie den Landkreisen Traunstein und Berchtesgaden. Obwohl auch die Münchener Umfragen zuvor stets eine Mehrheit für die Spiele voraussagten, votierten im November 2013 überraschend 52 Prozent dagegen, nur 48 Prozent noch dafür. Deutschland ist Neinsagerland.
Ein „Nein“ holte sich der Hamburger SPD-Senat schon beim Rückkauf der Netze ab, Schwarz-Grün bei der Abstimmung über die Primarschule. Offenbar hat – bei allen berechtigten Argumenten – ein Nein eine fast erotische Note: Mit einem Kreuz kann man es der großen Politik mal richtig zeigen, mit einem Federstrich ein bisschen Robin Hood, Luther und Che Guevara in einem sein. Und gleichsam auch mit einem altem Vorurteil aufräumen, der Deutsche würde zu allem Ja und Amen sagen. Weit gefehlt. Er sagt zu allem lieber: Nein.
Internationale Pressestimmen zum Referendum
Le Monde (Frankreich)
Das ist die zweite Niederlage einer deutschen Olympia-Bewerbung innerhalb von nur zwei Jahren. Zuvor hatten schon die Münchner gegen die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2022 gestimmt. Im März hatte das Olympische Komitee Hamburg Berlin vorgezogen, weil sie in der Hansestadt mehr Unterstützung erhofften als in der Metropole.
L'Equipe (Frankreich)
Paris hat einen Gegner weniger im Rennen um die Ausrichtung der Olympischen Spiele von 2014. Bleiben nur noch Los Angeles, Rom und Budapest.
Le Figaro.fr (Frankreich)
Das ist eine Schmach für den Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland Alfons Hörmann. Noch vergangene Woche hat er auf den entscheidenden Elan des deutschen Sports auf allen Ebenen beharrt.
La Stampa (Italien)
Rom verliert eine Rivalin für die Spiele 2024. Und es gibt da nichts zu feiern. (...) Vier Städte bleiben im Rennen: Rom, Paris, Los Angeles und Budapest. Und es bleibt die Gewissheit, dass Olympische Spiele im Augenblick nicht all zu sehr geschätzt werden.
La Repubblica (Italien)
Hamburg 2024 ist bei den Bürgern durchgefallen. Es bleiben noch drei Gegner für Rom im Rennen um die Olympischen Spiele 2024.
Corriere della Sera (Italien)
Für Deutschland ist es der zweite ins Leere laufende Olympiaversuch der letzten zwei Jahre.
Lidove noviny (Tschechien)
Für Olympia in London hatte die britische Regierung rund neun Milliarden Euro ausgegeben. Hamburgs Organisatoren rechneten damit, dass ihre Spiele gut zwei Milliarden Euro weniger kosten würden. Die Kritiker des Olympia-Konzepts verwiesen indes darauf, dass das Londoner Budget in einem Punkt um ein Vielfaches höher war, nämlich der Sicherheit. Dabei dürfte ihre Bedeutung nach den Ereignissen von Paris noch erheblich zunehmen.
Hannoversche Allgemeine
Eine der wohlhabendsten Städte des Kontinents traut sich also nicht zu, ein Sportfest für die Welt auszurichten. Es wird nun womöglich wieder in den USA oder gar in einer jener Diktaturen stattfinden, die weder auf ihre Bevölkerung noch auf die Umwelt irgendeine Rücksicht nehmen. Die intelligente, sanfte und die Stadt schonende Planung aus Hamburg kommt hingegen nicht zum Zug. Auch das haben die Wähler gestern mitentschieden. Trotz des fast schon trotzigen Positiv-Votums aus dem kleinen Kiel trägt dieser Sonntagabend eine traurige Botschaft in die Welt: Mit Deutschland ist bei großen, weltumspannenden Sportereignissen erst einmal nicht mehr zu rechen. Wie schade. Wie klein.
Weser Kurier (Bremen)
München wollte nicht, und Hamburg will nun auch nicht. Nach der anfänglichen Euphorie für die Olympia-Bewerbung im Jahr 2024 ist das eine faustdicke Überraschung. Und das Nein ist noch eines: sehr schade. Nicht nur, weil Sport-Deutschland damit das Signal sendet, kein Ort mehr für weltverbindende Sport-Großveranstaltungen sein zu wollen. Nein, schade ist es auch, weil offensichtlich die Terror-Attentate von Paris und das später abgesagte Fußball-Länderspiel gegen die Niederlande ihre Wirkung entfalten konnten. Man könnte auch sagen: Die Terroristen haben auch in Hamburg geschafft, was sie wollten - Angst verbreiten. Die ehemalige Hockey-Nationalspielerin Britta Becker nannte das Votum "ein bisschen mutlos". Ein bisschen? Sicher, der Sport und auch die Politik dürfen sich nach dem Votum auch an die eigene Nase fassen. Ob Fifa-Korruptionsskandal, das angeblich gekaufte Fußball-Sommermärchen, flächendeckendes Doping in der russischen Leichtathletik - nicht gerade Themen, die eine Stimmung der Sportbegeisterung in der Bevölkerung erzeugen können. Und die Politik? Sie trug zur Verunsicherung bei, weil bis zum Ende nicht klar war, welche Kosten denn nun auf die Hamburger zukommen und wie viel der Bund übernehmen würde. Das war dilettantisch vorbereitet, sowohl von Bürgermeister Olaf Scholz als auch von "Sportminister" Thomas de Maizière. Nun denn, die Bürger haben gesprochen. Hamburg wird sein Tor zur Welt nicht aufmachen, und Bremen darf seinen Schlüssel zum Tor nicht umdrehen. Schade, aber immerhin basiert das Nein auf einem Referendum. Wenigstens was.
Landeszeitung (Lüneburg)
Das Referendum war auch eine Abstimmung über die Frage: Passen milliardenteure Großveranstaltungen und Demokratien noch zusammen? Die Antwort: nein. Zumindest passen sie nicht so zusammen, wie es sich die Weltsportverbände, allen voran IOC und FIFA, vorstellen. Von Korruptionsvorwürfen rund um die Vergaben der Groß-Events einmal abgesehen, sorgen die Dreistigkeit und Selbstherrlichkeit der Sportfunktionäre für Olympia-Verdruss. Die Forderung nach Steuerbefreiungen, mit der sich die Verbände wie selbstverständlich über das Gesetz des jeweiligen Landes erheben, und die das Abwälzen der Kostenübernahme auf die veranstaltende Stadt sind da nur zwei Stichworte. So etwas lassen sich die Menschen, die in diesen unruhigen Zeiten andere Themen bewegen, nicht mehr gefallen.
Dithmarscher Landeszeitung (Heide)
Der Zeitpunkt des Referendums war unglücklich. Seit den Attentaten von Paris spielen Sicherheitsbedenken eine viel größere Rolle... Die Megaveranstaltung ist leider gestorben. Aus den Trümmern der Bewerbung lässt sich aber vielleicht noch etwas Brauchbares für den Sport, die Infrastruktur und die Zusammenarbeit von Hamburgern und Schleswig-Holsteinern zusammenbasteln.
Berliner Zeitung
Für den deutschen Sport ist das Ergebnis verheerend. Einmal mehr ist es den Verbänden und ihren Funktionären nicht gelungen, ihrem anspruchsvollen und gewiss auch kostspieligen Vorhaben zu der nötigen demokratischen Legitimation zu verhelfen. Im Falle Hamburgs mögen die Gründe vielfältig sein. Die weiterhin als große Belastung empfundene Flüchtlingssituation und die akute Terrorgefahr haben den Stimmungspegel zuletzt nicht in Richtung Olympia ausschlagen lassen. Am Ende haben es die Olympia-Befürworte nicht vermocht, die Befürchtungen der Skeptiker zu zerstreuen. Ein olympisches Sommermärchen wird es nicht geben. Nicht in Hamburg, und auf absehbare Zeit wohl auch in keiner anderen deutschen Stadt.
Stuttgarter Nachrichten
Allen optimistischen Prognosen zum Trotz: Hamburgs Bürger haben den olympischen Traum in der Elbe versenkt. Aus und vorbei. Das ist schade, aber kein Weltuntergang. Und der Sport wäre ein schlechter Verlierer, würde er die Ursachen seines Scheiterns nicht in erster Linie bei sich selbst suchen. Natürlich drückt der Flüchtlingsstrom auf die Stimmung, die Terroranschläge von Paris schüren diffuse Ängste. Aber das eindeutige Nein der Hansestadt zu einer Olympia-Bewerbung hat tieferliegende Gründe. Die Welt des Spitzensports hat zunehmend Probleme, sich zu legitimieren.
Rheinische Post (Düsseldorf)
Hamburg will Olympia nicht. Es gab reichlich gute Gründe, der Bewerbung um die Spiele 2024 ablehnend gegenüberzustehen: die Milliardenkosten, die wachsende Terrorgefahr, die Ungewissheit angesichts der Flüchtlingsproblematik, die Korruption bei großen Sportverbänden, dazu die speziellen Hamburger Erfahrungen mit dem Großprojekt Elbphilharmonie. Alles richtig, aber alles zu kurz gedacht. Die Bürger haben es verpasst, ein Zeichen für Optimismus und Schaffenskraft zu setzen. Von einer kraftvollen Bewerbung hätten Impulse ausgehen können, die ins ganze Land hätten ausstrahlen können - und zwar weit über den Sport hinaus. Olympia hätte ein Leuchtturm-Projekt für Deutschland werden können, so wie es London 2012 in Großbritannien war. Auf absehbare Zeit wird es keine deutsche Bewerbung mehr geben können, nachdem die Bayern vor zwei Jahren einen Anlauf auf die Winterspiele 2022 gestoppt haben. Dabei wäre damals eine Kandidatur angesichts der schwachen internationalen Konkurrenz wie ein Elfmeter ohne Torwart gewesen. In Sachen Olympia ist Deutschland zu zaghaft. Schade.
Westfalen Post (Hagen)
Es ist ein Nein. Die Bürger in Hamburg wollen die Olympischen Spiele 2024 nicht. Es ist ein Nein zu den Chancen, denn die hatte es ja auch gegeben: Stadtentwicklung zum Vorzugstarif zum Beispiel. Aber die Menschen wollen es nicht. Nicht die Baustellen, nicht die Umstände, nicht die Kosten. Hamburg liegt damit auf einer Linie mit München, das hinsichtlich der Winterspiele 2022 schon dankend abgelehnt hatte. Das bedeutet: Die Menschen in Deutschland sehen es nicht mehr ein, warum Milliarden ausgegeben werden sollten für ein zweiwöchiges Sport-Ereignis, wenn Geld überall sonst fehlt: Bei der Bildung, bei der Integration, in der Infrastruktur. Wer will es den Menschen verdenken? Gerade in einer Zeit, in der so deutlich wie nie zu Tage tritt, wie intransparent, gierig und schmierig der Sport, seine Verbände und Organisationen sein können. Es ist ein kluges Nein dem unkalkulierbaren Milliarden-Wahnsinn in unübersichtlichen Zeiten. Aber es ist damit indirekt auch ein Nein dem Sport. Denn Deutschland wird eine Großveranstaltung dieser Art in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr aus nächster Nähe zu Gesicht bekommen. Für die Förderung des Sports und seine Vielfalt in Deutschland war das Hamburger Referendum eine Niederlage.
Schwäbische Zeitung (Ravensburg)
Olympische Winterspiele in Peking? Schon wieder in China? Nein, das darf nicht sein! Eine Fußball-WM in Katar? Geht gar nicht! Igittigitt! Es wurde und wird in Deutschland viel geschimpft über die Vergabe von Sportveranstaltungen an Länder, deren Machthaber mit Demokratie wenig bis gar nichts am Hut haben. An Länder, deren Klima nur bedingt für die betroffenen Spitzensportler geeignet ist. Genau wie die Münchner vor zwei Jahren haben am Sonntag nun auch die Hamburger Bürger gegen die Bewerbung ihrer Stadt um Olympische Spiele gestimmt. Das ist ebenso nachvollziehbar wie ärgerlich. Natürlich ging nach den Terroranschlägen von Paris die Angst um, dass auch Olympia an der Elbe zum Ziel von Anschlägen werden könnte. Natürlich hat der Dopingskandal um die russischen Leichtathleten ein schlechtes Licht auf eine olympische Kernsportart geworfen. Natürlich leidet der Spitzensport unter den Korruptionsaffären, die ans Licht kommen. Und auch, wenn der aktuellste Skandal aus dem Bereich des Fußball stammt, dürfte die Sommermärchen-Affäre der Sargnagel für Hamburgs Bewerbung gewesen sein. Wie gesagt: Es gibt Gründe, gegen Olympia zu sein. Und dennoch: Alles abzulehnen, was zunächst eine größere Investition erfordert, ist der falsche Weg. So schnell dürfte es keine deutschen Bewerbungen um Olympia oder Fußballturniere mehr geben. Doch soll Deutschland zum Land der Bedenkenträger werden? Darf gar nicht mehr groß gebaut und gedacht werden? Gegen jede Startbahn wird gekämpft, gegen jeden Bahnhof und demnächst, polemisch gesagt, gegen jede Bushaltestelle. Und immer, auch bei Olympia, wird dieses fürchterlich destruktive und zukunftsfeindliche "Es gibt Wichtigeres zu tun"-Argument ins Feld geführt. Doch sich heute zu verweigern, bedeutet eben auch, in der Zukunft nicht mehr vorne dabei zu sein. Anstatt zu beweisen, dass Deutschland es besser machen würde als andere, lässt man es halt sein. Zur Demokratie gehört, eine Mehrheitsentscheidung zu respektieren. Traurig ist sie trotzdem.
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Sogar bei der Abstimmung zu Sommerspielen in der Hansestadt, die man vor wenigen Wochen und eingedenk der Umfragen für unverlierbar gehalten hatte. Wer würde gegen den Aufstieg Hamburgs zur Weltstadt stimmen, gegen die Finanzierung der lang ersehnten Infrastruktur auf Kosten des Bundes, gegen massiven Wohnungsbau, gegen die Entwicklung eines behindertengerechten Stadtteils, gegen den Sprung über die Elbe, gegen ein internationales Fest für Sportler aus aller Welt? Bei den Berlinern hegte man Zweifel, in der Bürgerstadt Hamburg eben nicht – gerade deshalb hatte sich der Deutsche Olympische Sportbund im Frühjahr für die Hansestadt als Bewerber entschieden.
Was für ein Missverständnis! Und was für eine Botschaft für das Land!
Was kann hierzulande eigentlich noch vom Bürger abgesegnet werden, fragen nun viele. Das ist die entscheidende Botschaft des 29. September. Und diese Botschaft muss Deutschland Sorgen bereiten.
Im Votum der Hamburger bricht sich ein Gefühl Bahn, das vielen Enttäuschungen und leeren Versprechungen geschuldet ist: Alles soll so bleiben, wie es ist! Keine Experimente, bitte! Wir wollen kein besseres Morgen mehr, sondern lieber ein gemütliches Heute. Das Biedermeier ist zurück. Eine tiefe Skepsis herrscht gegen alles, was Zukunft verheißen kann. Ja, sie ist uns in unserer Gegenwartsfixierung fremd geworden. In dieser Weltsicht ist das Morgen ein Dunkel, jede Utopie der Dystopie gewichen. Olympische Spiele 2024 waren für viele Gegner Science-Fiction, ein Horrorgemälde aus Terrorgefahr, Gentrifizierung und Ausnahmezustand. Welche Ironie, dass die Protagonisten des Nein – allen voran die Linke – schon das Hier und Heute ganz schrecklich findet. Nur der Wandel schreckt sie offenbar noch mehr.
Diese Unfähig- oder Unwilligkeit zum Morgen könnte sich in Deutschland in den kommenden Jahren noch verstärken: Es ist kein Zufall, dass eine zukunftsverzagte Gesellschaft so wenige Kinder hat. Und je weiter sich die Demografie verändert, desto wichtiger das Heute wird, umso nebensächlicher das Morgen. Ein Treiber des Fortschritts war stets die Hoffnung, dass es den Kindern einmal besser gehen soll. Doch was treibt eine Gesellschaft, in der viele keine Kinder mehr haben? Immer mehr Besitzstandswahrer treffen dann auf immer weniger Reformer.
Olympia-Referendum: Der Tag der Entscheidung
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Diese Zukunftsvergessenheit schlägt massiv auf die Politik durch – gerade in Kommunen, die Bürger- und Volksentscheide verbindlich gemacht haben. Unsere Volksvertreter dürfen uns zwar noch auf ein paar Nebenkriegsschauplätzen vertreten, bei den großen Fragen etwa zur Stadtentwicklung aber entscheidet das Volk. Und das eben ganz anders als seine Vertreter: 2010 stimmten 100 Prozent der Parlamentarier in der Hamburger Bürgerschaft für die Einführung der Primarschule, 54,5 Prozent des Volks votierte dann dagegen. Den Rückkauf der Netze 2013 wünschte nur eine Minderheit von nicht einmal 20 Prozent der Bürgerschaft, aber 51 Prozent der Bürger. Für Olympia waren sogar – abgesehen von der Linkspartei und der AfD – 85 Prozent der Volksvertreter. Im Volk dachten nur 48,6 Prozent genauso.
Ein Korrektiv der Parlamente durch Volksentscheide ist klug und sinnvoll, ein Imperativ unterspült aber mittelfristig unsere repräsentative Demokratie. Schon jetzt schmälert die direkte Demokratie die Attraktivität der parlamentarischen Arbeit, weil es weniger zu entscheiden gibt. Immer weniger Menschen stellen sich der aufreibenden inhaltlichen und parteiinternen Arbeit in den Parlamenten. Wer nur ein Thema hat, kann schneller und zielgerichteter dieses Thema beackern und über eine Volksinitiative, ein Volksbegehren bis hin zum Volksentscheid zum Ziel gelangen. Wer geht da noch in die Politik?
Manchmal – das zeigt der Entscheid – muss man gar nicht viel tun. Das Referendum war eine Idee des Senats, die Gegner von NOlympia blieben bei allem Engagement Einzelner in der Debatte eher unscheinbar, während Befürworter wie die Gebrüder Braun die Stadt eindrucksvoll mitgerissen haben oder die Ottos viel Geld in die Hand genommen haben. Sie haben viel gegeben und ein Nein bekommen.
Deutlicher kann man Menschen, die sich für ihre Vaterstadt und das Gemeinwohl einsetzen, nicht abwatschen. Ob sie noch einmal Feuer und Flamme für eine Sache sein werden? Ob sie sich beim nächsten Mal einbringen und investieren werden oder lieber dorthin gehen, wo man Risiken wagt?
Auch die Politik in Stadt und Land wird ihre Lehren aus Hamburg 2015 ziehen. Großprojekte sind seit diesem Sonntag politisch offenbar nahezu unmöglich. Das gilt für Großinvestitionen im Allgemeinen und für Olympia im Besonderen. Was für eine bittere Ironie der Geschichte: Da schickt sich ein Deutscher in Person von Thomas Bach an, das verkrustete IOC aufzubrechen und bekommt mit der Hamburger Bewerbung eine Blaupause für seine Reform. Und dann lehnen die Deutschen sie ab, eben weil das IOC so verkrustet ist. Olympische Spiele werden in Deutschland auf Sicht unmöglich sein. Fortan steht jede Großveranstaltung jenseits des Straßenfestes, jede Großinvestition jenseits eines Spaßbades unter Generalverdacht.
Auch wo keine Volksabstimmung droht: Wer Sympathiepunkte und Stimmen sammeln möchte, unterlässt am besten alles, was größer ist als das kleinste Karo. Mit dieser Politik hätte man sich nicht nur eine Elbphilharmonie gespart, sondern in der Vergangenheit eben auch die HafenCity, die Universität, den Hafen.
Mit dieser Handlungsrichtlinie der Politik steuert der Staat aber mittelfristig in den Stillstand und langfristig in den Untergang. Von Erich Fried stammt der schöne Satz „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt“. Dieser Satz, der heute den Mehltau in Deutschland beschreibt, hatte Fried einst auf das Wettrüsten bezogen.
Apropos Wettrüsten: Der von fast jedem Deutschen so geschätzte Altkanzler Helmut Schmidt hatte in fester Überzeugung gegen das Volk und die Partei entschlossen, an der Nato-Nachrüstung festzuhalten. Er verlor das Kanzleramt, seine Partei, seine politischen Freunde – doch die Geschichte gab ihm recht. Damals gab es auch keine Referenden. Und noch etwas schrieb der Hamburger den Deutschen ins Stammbuch: „Je mehr direkte Entscheidungen durch das ganze Volk, um so unregierbarer das Land.“
Doch der Geist ist aus der Flasche – und kehrt dorthin nicht wieder zurück. Bislang mögen die Ergebnisse der Referenden mit dem Rückkauf der Netze, der Ablehnung von Schulreform und Olympia noch überschaubar scheinen, doch das kann sich ändern. Was, wenn plötzlich angesichts einer sich radikalisierenden Gesellschaft das Volk ganz andere Fragen entscheiden darf: Beim Zuzug von Migranten, der Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften oder dem Bau von Moscheen etwa darf man das „Nein“ schon einplanen.
Auf die „Elite“ darf man nicht hoffen – die Abstimmungen über Olympische Spiele in München und Hamburg haben gezeigt, dass kein Bündnis breit genug sein kann: Sportler, Künstler, die Wirtschaft und die breite parlamentarische Mehrheit warben eindringlich für ein Ja und kassierten ein krachendes Nein.
Viel mehr Konfliktpotenzial birgt das tiefe Misstrauen gegen die „Elite“
Wer sich im Internet, in sozialen Netzwerken und Foren umtut, ahnt warum: Hier werden mitunter Befürworter diskreditiert, abstruse Verschwörungstheorien konstruiert und Lappalien zum Spitzenthema aufgebauscht. Oft geht es nicht um Argumente, sondern um Vermutungen, nicht um Fakten, sondern Halbwissen, nicht um Austausch, sondern Unterstellungen. Da wird allen Ernstes bei der Frage nach Olympia eifrig diskutiert, warum es während der Spiele besondere Fahrspuren für das IOC gibt. Damit korrupte Funktionäre schneller in den Puff kommen? Oder damit Sportler und Medienvertreter rechtzeitig zu den Kämpfen gelangen?
Diese verkürzte und zugespitzte Sicht auf die Dinge, die nun offenbar in einer Mehrheit gegen die Spiele mündete, muss alle nachdenklich stimmen, egal ob sie für oder gegen Olympische Spiele sind. Das tiefe Misstrauen gegen die „Elite“, gegen politische Entscheidungen und wirtschaftliche Interessen birgt viel mehr Konfliktpotenzial als die bloße Frage nach Olympia.
Sommerspiele gibt es nur einmal. die kommen auf Jahrzehnte nicht mehr nach Deutschland! Aber die nächste Volksabstimmung, die kommt bestimmt.
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