Hamburg. Alt-Bürgermeister Ole von Beust wehrt sich gegen staatliche Bevormundung und fürchtet um Gesellschaft und Wirtschaft.
Ole von Beust regierte die Hansestadt von 2001 bis 2010. Im Gespräch mit dem Abendblatt wirft er einen Blick zurück auf seine Bürgermeisterzeit, er beschreibt seine Aufgabe in der Energiekommission und warnt die Große Koalition vor weiteren Reformen zulasten der Wirtschaft: „Nun ist genug.“
Hamburger Abendblatt: Sie sind Vorstandsmitglied im Bundesverband des CDU-Wirtschaftsrats geworden – eines der letzten Kompetenzzentren der Union in Sachen Wirtschaft. Warum hat die Partei – zumindest in den Augen von Unternehmern – so sehr an Wirtschaftskompetenz eingebüßt?
Ole von Beust: Sicher ist der wirtschaftspolitische Aspekt in der Union derzeit nicht prononciert genug. Traditionell wird die Union mit einer besonderen Wirtschaftskompetenz verbunden. Wir haben aber in den vergangenen Jahren mit Roland Koch und Friedrich Merz Politiker verloren, die das gelebt haben. Und in den Ländern hat die Union meist den Liberalen das Wirtschaftsressort überlassen. Hamburgs Wirtschaftssenator Gunnar Uldall war eher die Ausnahme denn die Regel.
Gründet der gute Ruf der Union also auf einem Missverständnis?
Beust: So weit würde ich nicht gehen. Früher wurden ja auch von der Kanzlerin deutlich wirtschaftsfreundlichere Positionen besetzt. Aber sie hat in ihrer Amtszeit, wie viele andere Politiker auch, gespürt, dass der Mainstream in Deutschland eine andere Politik will. Die Menschen wollen einen starken Staat, der sie umsorgt und der ihnen die Lebensrisiken abnimmt. Wenn die Menschen zwischen Freiheit auf der einen und Geborgenheit und Sicherheit auf der anderen Seite wählen müssten, würde sich die übergroße Mehrheit für Letzteres entscheiden. Wer eine Wahl gewinnen will, darf das nicht ignorieren. Als Kanzlerin muss sie für Mehrheiten sorgen.
Das hat Angela Merkel mit der Rente nach 45 Berufsjahren, dem Mindestlohn, der Mütterrente und der Energiewende ja reichlich getan ...
Beust: Ja. Aber in diesen Fragen stimmen ihr sicher 70 Prozent der Deutschen zu.
Aber nun ist gut?
Beust: Ja, nun ist gut. Wir steuern immer mehr in eine Gesellschaft, in der der Staat die Bürger freundlich bevormundet. Ich bin mein Leben lang Nichtraucher, aber es grenzt an Bevormundung, wenn Raucher auf Bahnsteigen unter freiem Himmel in eine gelb gekennzeichnete Zone gedrängt werden. Ein anderes Beispiel: Nach der Pleite der Energiegenossenschaft Prokon riefen viele sofort nach Hilfe für die Anleger durch den Staat und mehr Verbraucherrechte. Dabei stand in den Anlageprospekten deutlich drin, dass eine Rendite von sieben Prozent eben mit besonderen Risiken verbunden ist. Von Freiheit und Risiko schwenken wir immer stärker hin zum umsorgenden Staat – wir hoffen auf Vater Staat und „Mutti“, wenn Sie so wollen. Das ist auf die Dauer weder für das Klima in einer Gesellschaft gut noch für deren Wirtschaftskraft.
Früher galten Sie eher als Linker in der Union. Hat die Partei Sie links überholt?
Beust: Das ist keine Links-rechts-Frage. In Fragen von Chancengerechtigkeit bin ich sicher ein Linker geblieben, in Fragen der Bevormundung aber fühle ich mich als Liberaler – und bin zuletzt sicher auch wieder liberaler geworden.
Sie haben kürzlich eine neue Funktion übernommen. Mit Matthias Platzeck und Jürgen Trittin sollen sie in einer Kommission die Finanzierung des Atomausstiegs überprüfen. Das klingt nach einer Herkulesaufgabe.
Beust: Es geht weniger um die Details der Finanzierung als vielmehr um die Strukturierung der Finanzierung. Nach dem Atomgesetz sind die Bauherren der Kernkraftwerke auch verantwortlich für den Abbau der Anlagen und dessen Finanzierung. Dieser Rückbau muss aber auch bezahlt werden können. Hinzu kommen die Kosten der Zwischen- und Endlagerung. Haben die Unternehmen die Kraft, das zu leisten? Und wie soll das gehen? Die Hauptlast darf nicht beim Steuerzahler hängen bleiben, aber die Versorger müssen zugleich in ihrer wirtschaftlichen Substanz stark genug bleiben, um beispielsweise in regenerative Energien investieren zu können. Für die deutsche Wirtschaft ist es wichtig, auch deutsche Energieversorger zu haben.
Die Börse hegt Zweifel an der Überlebensfähigkeit der Versorger ...
Beust: An der Börse gibt es viele Gerüchte, welche die Gutachter aber schon widerlegen konnten. Natürlich gab es Irritationen, die Spekulanten natürlich gezielt nutzen. Immerhin geht es um Milliarden. Unsere Aufgabe aber ist wie gesagt eine andere: Der Steuerzahler muss gut wegkommen, aber wir dürfen den Versorgern nicht die Luft zum Atmen nehmen.
Haben Sie für die Kommission zugesagt, weil Sie einstmals mit dem Amt des Bundesumweltministers kokettiert haben?
Beust: Damit habe ich nie kokettiert, auch wenn Ihre Kollegen das oft geschrieben haben. Ich wollte nie Bundesumweltminister werden, weil mir dieses Amt viel zu technisch ist. Ich bin Jurist, kein Naturwissenschaftler. Da hätte mich das Entwicklungshilfeministerium viel mehr interessiert.
Rückblickend betrachtet – ist die politische Karriere des Ole von Beust eine unvollendete?
Beust: Nein. Das war eine tolle Zeit, die ich nicht missen möchte. Nun macht mir meine Aufgabe in der Beratungsbranche viel Freude – genauso wie die Tätigkeit in der Kommission.
Wie sehr schmerzt es den CDU-Politiker, dass die Union in Hamburg auf 16 Prozent abgestürzt ist?
Beust: Das schmerzt unglaublich, aber es spornt mich nicht an, zurückkehren zu wollen. Ich spüre, dass die CDU in Hamburg wieder auf einem guten Weg ist. Das Team arbeitet gut zusammen, der Fraktionschef macht seinen Job sehr geschickt. Die Union steht wieder für Kompetenz, Stück für Stück auch in Wirtschaftsfragen.
Auf Bundesebene sehen wir die CDU gerade auf Talfahrt – von über 40 Prozent binnen weniger Wochen auf derzeit rund 35 Prozent. Wohin geht die Reise?
Beust: Wenn wir in den kommenden drei Monaten an der Steuerung der Flüchtlingsströme scheitern, der Verteilung und Unterbringung der Menschen sowie bei ihrer Integration, wird es weiter runtergehen.
Von wem sollen denn die Lösungen kommen, eher von der Kanzlerin oder Innenminister Thomas de Maizière?
Beust: Von beiden. Ich finde aber völlig richtig, was de Maizière sagt. Wir brauchen Lenkung und Steuerung. Es herrscht bei vielen das Gefühl, dass es keine staatliche Steuerung mehr gibt. Vorübergehend bekommen sie 5000 oder auch 10.000 Flüchtlinge an einem Tag unter, nicht aber dauerhaft. Und wenn erkennbar ist, dass der Staat nicht reagiert, dann ertragen das die Menschen nicht. Und davon profitieren Scharfmacher am rechten Rand. Es gibt Menschen, die sich ernsthaft Sorgen machen, die muss man ernst nehmen. Und es gibt die, die ernsthaft bösartig sind und ihr fieses rechtsradikales Süppchen kochen – das ist widerlich.
Brauchen wir eine Obergrenze?
Beust: Es wäre klug zu sagen, wann eine politisch und organisatorisch verkraftbare Grenze erreicht ist. Auch wenn diese juristisch noch nichts bewirkt. Deshalb müssen wir auch über Rechtsänderungen nachdenken, auch im Asylrecht. Es kann doch nicht sein, dass jeder, der auf deutschem Boden das Wort „Asyl“ sagt, automatisch ein monatelanges Bleiberecht bekommt. Das sagt nur keiner ehrlich, weil das Asylrecht als unmittelbare Reaktion auf die Nazizeit geboren wurde, als es um die unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben durch staatliche Willkür ging. Ein zeitgemäßes Asylrecht muss als eine Komponente auch die Möglichkeiten der Aufnahmeländer berücksichtigen.
Im Sommer sind Sie der Kanzlerin in ihrer Flüchtlingspolitik beigesprungen, inzwischen schütteln immer mehr Parteimitglieder den Kopf ...
Beust: Die Kanzlerin konnte damals angesichts der erschreckenden Bilder nicht anders reagieren, als die Grenzen für die Flüchtlinge aus Ungarn zu öffnen. Damals ging es um erste Hilfe; aber jetzt müssen wir anders reagieren. Die Regierung muss Filter einbauen. Damit beginnt die Kanzlerin jetzt ja, etwa bei den Gesprächen in der Türkei oder mit der Rückkehr zum Dublinverfahren.
Wenn Sie durch Hamburg schlendern, worauf sind Sie dann besonders stolz?
Beust: Stolz ist ein sehr großes Wort. Sagen wir es so: Ich freue mich, wenn ich in der HafenCity bin, über die Weiterentwicklung dieses Stadtteils über die Elbe hinaus mit der Olympiabewerbung. Ich freue mich auch über die Gestaltung des Jungfernstiegs oder des Spielbudenplatzes. Auch die Kitapolitik haben wir sicher auf einen guten Weg gebracht. Und ich freue mich darüber, dass die Elbphilharmonie jetzt ohne Kräne dasteht.
Worüber ärgern Sie sich?
Beust: Zwei Dinge treiben mich um. Das ist einmal die falsche Weichenstellung bei der Planung der Elbphilharmonie, auch wenn die Idee gut war. Und mich ärgert, dass wir beim Wohnungsbau so spät umgeschwenkt sind. Man darf aber eines nicht vergessen: Als wir 2001 die Wahl gewannen, standen viele Wohnungen leer – da ging es erst einmal um die Modernisierung und die Verbesserung des Wohnumfelds.
Wie bewerten Sie mit Abstand die Schulreform?
Beust: Ich halte nach wie vor die Idee der Schulreform für richtig. Wir waren nur zu schnell und zu stringent. Heute fragen mich sogar Grüne, warum ich damals den Koalitionspartner nicht mehr gebremst habe. Ich habe mich von der Begeisterung anstecken lassen. Eine Politik etwa gegen die Interessen der humanistischen Gymnasien – auch wenn das nur wenige Schüler betraf –, war im Nachhinein Blödsinn. Wir hätten mit mehr Muße und einigen Ausnahmen eine gute Reform auf den Weg bringen sollen.
Gibt es manchmal Momente, in denen Sie Lust auf eine Rückkehr in die Politik bekommen?
Beust: Es gibt Themen, wo ich durchaus gerne steuern würde. Ich finde beispielsweise, dass wir außenpolitisch im Umgang mit Russland und der Türkei Fehler gemacht haben, wenn wir an die Geschichte dieser Länder unsere eigenen strengen Maßstäbe anlegen. Andere Kulturen gehen andere Wege.
Am Ende Ihrer Amtszeit hat Sie die permanente Öffentlichkeit gestört. Sind Sie froh, wieder Sie selbst sein zu dürfen?
Beust: Ja. Im Grunde meines Herzens bin ich ein introvertierter Mensch. Es war neun Jahre schön, auf der öffentlichen Bühne und im Mittelpunkt zu stehen – aber eigentlich entspricht das nur dem kleineren Teil meiner Persönlichkeit.
War das Amt dann am Ende ein Zufall? Es kommt ja eher selten vor, dass Introvertierte Bürgermeister werden ...
Beust: Ja, vielleicht. Natürlich hatte ich immer den politischen Ehrgeiz. Es kam aber sicher auch eine Kette von Zufällen zusammen. 1993 gab es Neuwahlen wegen der Wahlprüfungsbeschwerde, und ich als Justiziar galt als unbelastet. Das Ergebnis war dann so schlecht, dass kaum ein anderer Spitzenkandidat werden wollte. Und dann kam der Schill-Erfolg, auch das war ja nie Teil meiner Karriereplanung. Zufälle reihen sich an Zufälle, in denen ich mich wohl strategisch richtig verhalten habe. Einen Karriereplan aber gab es nicht.
Der mediale Druck hat in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich zugenommen. Würden Sie heute noch einmal eine politische Karriere einschlagen?
Beust: Mit meinem heutigen Wissen eher nicht, mit dem Wissen eines 15 Jahre jüngeren Politikers vielleicht. Die heutige öffentliche Debatte ist mir zu oberflächlich. Früher hieß es stets, anonyme Briefe schmeißt man weg. Heute wird aus anonymen Kommentaren der sogenannten Netzgemeinde eifrig zitiert. Was einige da etwa an rechtsradikalem Gedankengut äußern und welche Aufmerksamkeit sie bekommen, finde ich – mit Verlaub – ekelhaft.