Hamburg. Der Syrer Berj Baghdee Sar wundert sich, dass viele Deutsche erst jetzt Anteil nehmen. In seiner Heimat ist der Terror längst allgegenwärtig.
Plötzlich war bei Facebook alles blau, weiß und rot. Alle änderten plötzlich ihr Profilbild. Und erst habe ich mich gefragt: warum? Beziehungsweise, warum „nur“ in diesem Fall? Auch im Libanon gab es einen Anschlag, und in meiner Heimat Syrien ist das, was in Paris geschehen ist, Alltag. Viele meiner Landsleute konnten das nicht verstehen und haben zum Zeichen jetzt auch ihr Profil geändert, in Rot, Weiß, Schwarz und zwei grüne Sterne: die syrische Flagge.
Weil ich die Deutschen verstehen wollte, habe ich öffentlich bei Facebook gefragt, warum gerade in diesem Fall alle ihr Profilbild ändern. Und ich bekam viele Antworten, und eigentlich ist es ganz einfach: Denn jetzt haben die Menschen hier eine ganz konkrete Angst, weil das Böse nicht mehr (scheinbar) weit weg ist, sondern direkt nebenan. Es ist eine Angst, die lähmt, weil sie nicht mehr diffus ist, sondern konkret. Und ich weiß, wovon ich spreche.
Und die Ängste, die die Menschen hier haben, haben sie meiner Meinung nach zu Recht. Sie haben Angst davor, dass die Grundwerte der Gesellschaft, in der sie leben, angegriffen werden. So, wie es gerade in Paris geschehen ist. Es geht um mehr als einen Zuwachs an Ladendiebstählen und Autoaufbrüchen. Es geht nicht um Kleinkriminalität. Es geht um Menschenrechte, das Grundgesetz, Freiheit und Gleichheit. Werte, wegen derer auch wir Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Werte, die es in weiten Teilen unserer Heimat – sei es Syrien oder Irak – nicht mehr gibt.
Grund dafür ist der Islamische Staat. Wenn es gelingt, ihn zu besiegen, dann wird es auch keine Debatte mehr um Obergrenzen, Zäune und Mauern geben. Es ist die einzige dauerhafte Lösung. Einfach, weil dann gar keine Flüchtlinge mehr aus den genannten Regionen kommen würden. Und ich glaube auch, dass es möglich ist, den IS zu besiegen. Aber dafür muss ganz Europa kooperieren und Geschlossenheit zeigen, was bisher leider nicht so war. Das heißt auch, dass alle Länder gleichermaßen Flüchtlinge aufnehmen müssen.
Und es muss sofort Schluss sein mit dem Waffenexport. Niemand kann kontrollieren, in welche Hände sie gelangen. Ich weiß aus Erfahrung leider, dass es oft die falschen sind.
Außerdem muss die Grenze zwischen der Türkei und Syrien durchgängig kontrolliert werden. Diese 800 Kilometer lange Linie ist essenziell für die Lage in Syrien. Fast alle IS-Kämpfer gelangen über diese Grenze in die Türkei. Außerdem braucht es – so hart es ist – Bodentruppen unter internationaler Führung, am besten mit Uno-Mandat. Und – für viele Menschen sicher ebenso hart: Die Europäischen Regierungen müssen mit Baschar al-Assad sprechen. Ohne ihn geht nichts. Was genau ich von Assad halte, möchte ich hier nicht schreiben. Aber: Im Vergleich zum Islamischen Staat ist er das kleinere Übel.
Auf Deutschland gesehen, brauchen wir statt Diskussionen um Obergrenzen erst einmal einen starken Staat, der konsequent registriert, diejenigen ausweist, die kein Asylrecht haben und auch diejenigen, die sich nicht an die Regeln halten und die kriminell werden.
Wenn wir unsere Werte hier verteidigen wollen, dann können wir das ganz sicher nicht in unendlicher Toleranz und Verständnis tun. Dafür fehlt uns die Zeit, und dafür sind es einfach zu viele Flüchtlinge – und der Preis ist zu hoch. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn das Böse Oberhand gewinnt. Deswegen bin ich ja hier, und das wünsche ich keinem, und ich will es nicht noch mal erleben. Und deshalb muss Deutschland handeln. Jetzt.
Berj Baghdee Sar ist freier Mitarbeiter des Abendblatts. Er stammt aus der syrischen Hauptstadt Damaskus, wo er als Wirtschaftsprüfer bei einer Bank arbeitete, bevor er 2014 floh. Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Redakteurin Juliane Kmieciak.