Hamburg. Helmut Schmidt starb am Dienstag in Hamburg-Langenhorn im Alter von 96 Jahren. Rückschau auf das Leben eines ungewöhnlichen Politikers.

Es war nicht mehr wie sonst in Hamburg, wenn das Leben seinen gewohnten Gang nimmt. Als sich heute die Nachricht vom Tod Helmut Schmidts herumsprach, verharrten viele Menschen für einen Moment und gedachten eines wahrhaftig großen Hanseaten – in Langenhorn, rund ums Rathaus und anderswo in der Stadt.

Es war ein segensreiches, beeindruckendes Dasein, das lange währte. Dennoch schmerzt die Gewissheit: Hamburg ist um eine herausragende Persönlichkeit ärmer. Trotz der Trauer dominiert Einigkeit: Die Heimatstadt des Bundeskanzlers a.D. hat allen Grund zur Dankbarkeit. Und wie schon im Falle anderer namhafter Zeitgenossen werden Vorbereitungen für einen Abschied mit Würde getroffen.

Die Bürger schätzten ihren "Schmidt Schnauze"

Wenn die Glocken von St. Michaelis zum letzten Geleit läuten, wird sich die politische Welt vor einem Menschen und Staatsmann verneigen, der sich selbst vor allem als leitender Angestellter der Bundesrepublik Deutschland begriff. Die da oben hegten Respekt, die Bürger schätzten ihren „Schmidt Schnauze“. Sie mochten ihn, ganz einfach. Auch weil er bis zum Ende auf dem Boden blieb, Rückgrat wahrte und ein anständiger Mann war. Durch und durch.

Helmut Schmidt wurde 96 Jahre alt. Er war Senior, aber niemals Greis. Er hatte eine scharfe Zunge und konnte in jüngeren Jahren durchaus flegelhaft sein, aber er achtete den Gegner. Und selbst bei seinen wortgewaltigsten Reden s-tolperte er so wunderbar über den s-pitzen S-tein. Mit der Heimat im Tonfall und im Herzen die Welt umfassen – auch auf diesem Gebiet war der gebürtige Barmbeker Spitzenklasse. Hinzu kam ein Geschenk des Himmels: Helmut Schmidt blieb sich selbst treu. Bis zum letzten Atemzug. Und er bewies: Charisma kann man nicht kaufen. Natürlich kennt ein Pragmatiker wie Schmidt das Schicksal und wusste, was eines Tages kommen musste.

Mit Vertrauten wurde der Inhalt der Trauerfeier abgesprochen

Nun ist es so weit. Eine Menge ist vorbereitet. Nicht nur die Grabstelle in Ohlsdorf, in der auch Ehefrau Hannelore nach ihrem Tod am 21. Oktober 2010 bestattet wurde. Mit Vertrauten wurde der Inhalt der Trauerfeier abgesprochen, doch soll dies noch ein kleines Geheimnis bleiben. Nicht nur Tochter Susanne Kennedy-Schmidt, die in der englischen Grafschaft Kent wohnt, weiß, was zu tun ist. Die Erbschaft ist gleichfalls bis ins Detail geregelt. Die Loki-und-Helmut-Schmidt-Stiftung ist hervorragend ausgestattet. Der frühere Kanzler verdiente gut mit seinen Büchern und Vorträgen. Da er jedoch selbst ein bescheidenes Leben führte, auf Luxus und Pomp aus Prinzip verzichtete, ist ein ansehnliches Vermögen zusammengekommen.

Die Stiftung, so ist es Helmut Schmidts Letzter Wille, wird nicht nur das Archiv im Anbau des Privathauses am Neubergerweg am Leben erhalten. Zum Vermächtnis zählt der Wunsch, das berühmte Doppelhaus in Langenhorn als Museum fortzuführen. Peter Schulz, der 2013 verstorbene, ehemalige Hamburger Bürgermeister und Freund der Schmidts, hatte den Auftrag, es in eine Art Museum zu verwandeln. Wo einst die Staatsoberhäupter der Welt einkehrten, um große Politik zu machen, dürfen sich fortan die Hamburger und auswärtige Besucher ein Bild machen vom Lebensumfeld eines Mannes, der auf manche arrogant wirkte, der indes seine Nase niemals hoch trug. „Warum sollte ich?“, pflegte er bei entsprechenden Nachfragen so herrlich kiebig zu knurren. Und warum, Herr Schmidt, behielten Sie lebenslang Bodenhaftung? „Wat mutt, dat mutt“, sagte er dann. Typisch. Was auch für die Anrede galt. Bundeskanzler verbat er sich. „Herr Schmidt“, so sollte es sein und nicht anders. Während es um politische Koryphäen vergangener Jahrzehnte wie Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher oder Walter Scheel immer ruhiger wurde, behielt Helmut Schmidts Wort Gewicht.

Helmut Schmidt – der „ewige Kanzler“

Nicht jeder war angetan über die von ihm mit Gespür, Strategie und Selbstwertgefühl inszenierten „Festspiele“. Der Großteil der Nation spitzte die Ohren, wenn der Grande aus der Hansestadt seine Meinung kundtat. Sogar als er 2011 seinen Parteifreund Peer Steinbrück „Zug um Zug“ als Kanzlerkandidaten in Stellung bringen wollte, zeigte er die Klasse eines Meisters. Gut fand das nicht jeder – aber jeder nahm ihn ernst. Letztlich bekannten auch die politischen Gegner: Schmidt war schlau. Nicht immer unbedingt weise, auf keinen Fall wortkarg, in jedem Fall beredt und von Grundsätzen geleitet. Unbeugsam, bisweilen besserwisserisch, stets intelligent. Der „ewige Kanzler“ hieß es. Und da war was dran. Vielleicht mochten ihn die Hamburger auch deswegen so, weil er Weltökonom und gleichzeitig Hanseat war. Weil er es verstand, sich sowohl mit Pfeffersäcken als auch mit Sozis zu verstehen. Der Mann konnte polarisieren, aber auch Brücken bauen. Dabei dachte, sagte und tat er, was er wollte.

Viele werden jetzt voller Wehmut an Zeiten zurückdenken, in denen ein Freigeist mit weißem Haar im Fernsehstudio saß, sich eine Filterzigarette anzündete, genüsslich inhalierte, den Qualm schweifen ließ – und dann das Wort ergriff. Bevor er den Schnupftabak nahm. Wie sagte sein Freund und Weggefährte Henry Kissinger bei Schmidts 90. Geburtstag am 23. Dezember 2008 so treffend: „Kettenrauchen und Cola-Trinken sind anscheinend Schlüssel zur Langlebigkeit.“ Sei’s drum.

Politorakel aus Langenhorn

Wer das Politorakel daheim in Langenhorn besuchte, stieß auf einen sanften, bedächtigen und warmherzigen Menschen. „Altersmilde“ nannte er diese Charakterzüge selbst. Auch wenn das Hören immer schwerer fiel und zum Schluss nur noch mit massiver technischer Hilfe gelang, setzte sich der Hausherr im Wohnzimmer mit Vorliebe an den schwarzen Flügel und ließ die Finger tanzen. „Das ist keine Frage der Ohren, sondern des Gefühls“, meinte er.

Der frühere christdemokratische Bürgermeister Ole von Beust erzählte einmal von einem kleinen Geheimnis des Sozialdemokraten Schmidt. Die Schwerhörigkeit habe durchaus ihre Vorteile und sei eigentlich gar kein Problem, habe dieser verraten. Viel schwerer falle es, bei den Reden anderer Politiker ein schlaues Gesicht zu machen – auch wenn man kein Wort verstehe. Welch Gnade, die Dinge aus diesem Blickwinkel zu betrachten. Auch den Stock, den Gehwagen oder seinen Rollstuhl benutzte Schmidt mit Gelassenheit. „Werdet ihr erst mal über 90“, sagte er bei einem Besuch. Schenkte sich Tee ein, nahm reichlich Zucker und griff zum versilberten Zigarettendöschen. Dann erzählte er von früher. Keinesfalls langatmig, sondern fesselnd und von einem erstaunlichen Gedächtnis geprägt. Selbst Details hatte er noch nach Jahrzehnten in bester Erinnerung.

Im Kontrast dazu faszinierte ihn die Weltpolitik fast bis zum letzten Tag. Noch im Frühsommer 2012, mit 93 Jahren, unternahm der betagte Kanzler eine strapaziöse Chinareise, die ihn auch über Singapur führte. Geradezu preußische Disziplin war ein Grundpfeiler eines ganz besonderen Lebens. Es passt ins Bild eines großen Hamburgers, dass er sich unmittelbar nach dem Tod seiner Ehefrau Loki wieder in sein eher karges Dienstzimmer im „Zeit“-Verlag am Speersort in der Innenstadt fahren ließ. Bücher von ihm und über ihn gibt es viele, eine Autobiografie jedoch nicht. „Wenn jemand über sein eigenes Leben schreibt, ist er der Versuchung ausgesetzt, sich ein bisschen schöner zu malen, als er in Wirklichkeit ist“, sagte Schmidt einmal. „Deswegen halte ich von Autobiografien nicht sehr viel. Die letzte, die ich sorgfältig studiert habe, war die von Bismarck.“ Und da war der Mann 20 Jahre alt.

Ein Jahrhundert voller Höhen und Tiefen

Später, viel später, sinnierte er auch über die Wirkung seiner Worte auf die Nachwelt: „Das, was man eines Tages vermutlich über dich denken, sagen oder schreiben wird, darf das, was du heute zu tun hast, nicht beeinflussen.“ Auch an dieses Prinzip hat sich Helmut Schmidt gehalten. Was unter dem Strich bleibt, ist die Erinnerung an ein Jahrhundert voller Höhen und Tiefen. Was hat dieser Mann nicht alles erleben müssen und dürfen? Praktisch immer im Dienst, wie die Uhr von Kurt Körber, so gefiel es ihm.

Unvergessen ist ein Besuch in seinem Privathaus in Langenhorn. Da saß der Kanzler a.D. im Trainingsanzug und mit Sportlatschen, paffte wie ein Schlot und strahlte eine Gelassenheit und Würde aus, von der andere nur träumen können. Dann deutete er auf einen goldfarbenen Kasten im zweiten Regalfach von unten, direkt neben seinem Schreibtisch. Eine Uhr stand darin, ein Geschenk des weit vor Schmidt verstorbenen Industriellen und Mäzens Kurt Körber. Das gute Stück ist alt und geht auf die Sekunde pünktlich. Nach wie vor. Ein kleines Wunderwerk aus Genf, das mit einem gasgefüllten Metallzylinder arbeitet. Die Kunstfertigkeit begeisterte ihn wie ein kleines Kind, ebenso die Mechanik und die Zuverlässigkeit. Praktisch immer im Dienst, das gefiel ihm. Diese Präzisionsuhr im Hause Schmidt wird weiterticken. Und sie ist wahrlich nicht das Einzige, das bleibt.