Die Hansestadt war beliebtes Ziel der Stasi. Infiltriert wurden unter anderem die Senatskanzlei und die Bürgerschaft.
Ex-Manager Johannes Koppe brachte Kernkraftgegner am liebsten mit einer Drohung in Rage: „Ohne Atomstrom gehen in Hamburg die Lichter aus“, prophezeite der frühere Planungsreferent für Kernenergie der Hamburgischen Electricitäts-Werke AG in den 1970er-Jahren. Sein Buch „Zum besseren Verständnis der Kernenergie. 66 Fragen. 66 Antworten“ avancierte zum Standardwerk der Nuklearindustrie und diente den Anti-AKW-Aktivisten als ideologische Vorlage ihres Widerstands.
Doch der Atomlobbyist, schreibt sein Biograf Uwe Markus, führte in Wahrheit ein Doppelleben. Bis 1979 lieferte der Physiker seine Erkenntnisse über den Aufbau des neuen Wirtschaftszweiges in der Bundesrepublik direkt an die „Hauptverwaltung Aufklärung“ der DDR. Was Koppe da preisgab, bescherte der DDR einen wirtschaftlichen Nutzen von etwa drei Milliarden D-Mark, schreibt Markus in dem Buch „Kerngeschäft“.
Um sich der westdeutschen Justiz zu entziehen, floh der plötzlich enttarnte Spion 1979 von Eilbek nach Ost-Berlin. Heute bekennt der Rentner: „Ich war Mitarbeiter des erfolgreichsten Nachrichtendienstes der Welt.“ Juristisch belangt wurde er im wiedervereinigten Deutschland nie.
Koppe war nicht der einzige Hamburger, der während der Zeit des Kalten Krieges für die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des Ministeriums für Staatssicherheit arbeitete. Wie der Politologe Helmut Müller-Enbergs recherchierte, gab es insgesamt 78 Spione, die in der Hansestadt für den DDR-Auslandsnachrichtendienst tätig waren. Noch im Dezember 1988 hatte die Stasi-Hauptverwaltung 23 „Objekt-Quellen“ in Hamburg. Dazu kamen in all den Jahren weitere 24 Hamburger, die mutmaßlich ohne deren Wissen von einem DDR-Geheimdienstler abgeschöpft wurden.
„Hamburger Politiker als DDR-Spione im Kalten Krieg“ – so heißt eine neue Ausstellung an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr. Sie wird an diesem Dienstag eröffnet und will mit der kritischen Aufarbeitung einen Beitrag zum 25. Jubiläum der deutschen Wiedervereinigung leisten. Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in der ehemaligen DDR, gehört zu den Gästen bei der Eröffnung. Er sagt: „Die Mechanismen, die wirkten und so Menschen gegeneinander in Stellung brachten, sie sind mehr als nur Erinnerung oder gar Anklage. Sie sind Lehrstunde für heute, sie zeigen, wie Ideologie Menschlichkeit beiseiteräumt.“
Es ist der 23. August 1954, als das Hamburger Abendblatt berichtet, dass sich der Hamburger CDU-Bundestagsabgeordnete Karlfranz Schmidt-Wittmack in das „sowjetische Besatzungsgebiet“ abgesetzt hat. Seit 1948 ist Schmidt-Wittmack, ein überzeugter Kommunist, für die Parteiaufklärung der KPD und später für die Stasi tätig. Der Mitbegründer der Jungen Union in Hamburg und Kontrahent von Achim-Helge Freiherr von Beust schafft es zum CDU-Vorsitzenden im Bezirk Nord, Bürgerschaftsabgeordneten (1949–1953) und zum Mitglied des Deutschen Bundestages. Unter dem Decknamen „Timm“ und „Weilich“ spähte er CDU, Bürgerschaft, Bundestag und Nato aus.
Überraschenderweise setzt er sich im August 1954 in die DDR ab. Dort wird er zur „sowjetzonalen Propagandafigur“ (Abendblatt) und steigt später bis zum Vizepräsidenten der DDR-Außenhandelskammer auf. Im Westen ermittelt die Bundesanwaltschaft gegen ihn. Am 4. Juni 1959 meldet das Abendblatt: „Der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete Schmidt-Wittmack aus Hamburg arbeitete für den Nachrichtendienst der Zone. Er ist am 20. August 1954 nicht von sich aus in die Zone verschwunden, sondern von östlichen Auftraggebern ,abberufen‘ worden.“ Kein Hamburger Spion, resümieren Historiker heute, hat weltweit so großes Aufsehen erregt wie er. Schmidt-Wittmack starb 1987 in Ost-Berlin.
Kurator der Ausstellung an der Bundeswehr-Universität in Wandsbek ist der Historiker Helmut Stubbe da Luz. Der 600 Seiten umfassende Begleitband bietet eine systematische Gesamtschau und beleuchtet beispielhaft die Spionagetätigkeit von zehn Hamburger Politikern im Kalten Krieg. Dazu gehören unter anderem der Ex-CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Gerd Löffler (alias „Händler“), Kurt Wandsen. (alias „Maurer“, „Becker“, „Hülse“) und die ehemalige SPD-Mitarbeiterin und Bürgerschaftsabgeordnete Ruth Polte („Blumenfeld“), die direkte Kontakte zu Helmut Schmidt und Hans Apel hatte.
Die Hamburger DDR-Spione wurden von der Stasi-Zentrale in Rostock aus gesteuert und infiltrierten die Senatskanzlei, US-Generalkonsulat, Bürgerschaft, Forschungseinrichtungen, die Werft Blohm + Voss oder die Wasserschutzpolizei. „Hamburg war für den SED-Staat vor allem auch als Wirtschaftsstandort und Drehscheibe des maritimen Handels von größtem Interesse“, heißt es in dem Ausstellungsband. Weil DDR-Seeleute den Hamburg-Landgang zur Flucht nutzten, versuchte die Stasi, beliebte Seemannstreffpunkte wie „Harrys Hafenbasar“ zu überwachen und dort inoffizielle Mitarbeiter (IM) aus der Bundesrepublik anzuwerben.
Wie eine Auswertung der Stasi-Unterlagen durch den Historiker Georg Herbstritt ergab, bildete Geld allein nicht das Hauptmotiv für die konspirative Tätigkeit. Im Ausstellungskatalog wird der frühere CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Gerd Löffler (1978–1990) als „Friedens-Kundschafter“ bezeichnet. Offenbar zählt auch er zu den Überzeugungstätern, als er sich 1974 schriftlich verpflichtet, für die Militäraufklärung der NVA im Westen zu arbeiten. Erst 1990 wird er enttarnt, und BKA-Beamte durchsuchen sein Abgeordnetenbüro.
Danach beginnt ein wahrer Krimi: Löffler wird mit Kaution aus der U-Haft entlassen, setzt sich aber nach Österreich ab. Die dortigen Behörden geben ihm den Status eines politisch Verfolgten und verhindern so die Auslieferung. Deutsche Beamten greifen Löffler 1994 auf österreichischem Gebiet auf und verhaften ihn in Bayern. Der Ex-Abgeordnete wird wegen des Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit angeklagt. Er soll seinen Auftraggebern eine „Fülle von Unterlagen“, vor allem aus den Bereichen Datenverarbeitung, EDV-Technologie, Elektronik sowie Umweltschutz geliefert haben, heißt es in der Anklage. 1994 dann das Urteil: 30 Monate Haft. Inzwischen lebt der Ex-Spion wieder in Österreich.
Löffler habe sich in der Folge als Kundschafter des Friedens dargestellt, als Opfer, sagt Oberstleutnant i.G. Wolfgang Schulenberg, der über die Karriere dieses „Top-Spions“ und angeblichen „Opfers der deutsch-deutschen Wiedervereinigung“ promoviert hat.
Wie Stasi-Chef Erich Mielke einst tönte, bildete die Westarbeit des MfS einen „Beitrag zur Unterstützung der Politik der DDR gegenüber der BRD“. Noch 1989 arbeiten nach Angaben des Historikers Georg Herbstritt 3000 westdeutsche IM für die Stasi-Aufklärungsabteilung. Während auf 100.000 BRD-Bürger umgerechnet gerade mal fünf IM kommen, sind es in der DDR 1000 IM auf 100.000 Bürger.
Senatorin Traute Müller trat zurück – ihr Lebensgefährte arbeitete für die Stasi
Der Auslandsnachrichtendienst der DDR nimmt vor allem Nordrhein-Westfalen ins Visier, schließlich befindet sich dort mit Bonn die Bundeshauptstadt. 25 Prozent der inoffiziellen Ressourcen sind in NRW eingesetzt, sagt Helmut Müller-Enbergs. In Hamburg waren es nur fünf Prozent.
Die Ausstellung beleuchtet auch Motive und Agententätigkeit von Ruth Polte (alias „Blumenfeld“), ehemalige Sekretärin im Kurt-Schumacher-Haus und SPD-Bürgerschaftsabgeordnete.
Bevor sie 1960 nach Hamburg kommt, lebt sie in der DDR und verbüßt eine Haftstrafe im Zuchthaus – wegen angeblicher Beihilfe zum Staatsverrat. Nach der Freilassung wird sie offenbar zur Agententätigkeit gezwungen; die Historiker nennen sie in der Ausstellung das „zermürbte Stasi-Opfer“. 1996 verurteilt das Hanseatische Oberlandesgericht Ruth Polte zu neun Monaten auf Bewährung. Das Verratsmaterial sei allerdings, so der Vorsitzende Richter, von „geringem nachrichtendienstlichen Wert“ gewesen. „Blumenfeld“ liefert vor allem Parteitagsprotokolle der Hamburger SPD, Briefe von Abgeordneten an Bürger und Stimmungsberichte über die Partei.
Kontakte unterhält sie zu einem weiteren DDR-Spion, den NS-Widerstandskämpfer Kurt Willi Wand sen. Der Kommunist und Buchhändler auf St. Pauli betreute nicht nur Ruth Polte als Agentin, sondern auch seinen Sohn Kurt Willi Wand jun. Dessen Liaison zu Traute Müller, Senatorin für Stadtentwicklung, wird 1993 zum Politikum in der Hansestadt. Damals erfährt die SPD-Politikerin, dass ihr Lebenspartner 20 Jahre für die Stasi gearbeitet hat. Sie tritt von ihrem Amt zurück und sagt: „Nachdem mich die deutsch-deutsche Geschichte auch persönlich so eingeholt hat, kann ich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“
Die Ausstellung an der Helmut-Schmidt-Universität ist noch bis Ende März 2016 zu sehen. Sie geht der Frage nach, ob Spionage die „Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel oder politische Kriminalität“ ist. Und sie fragt schließlich im Blick auf die Gegenwart: „Spionage wird laufend variiert und verändert, wann wird sie enden?“