Hamburg. Während andere Standorte viele Stellen verlieren, expandiert der Konzern in der Hansestadt. Nord-Chef über die Gründe und Pläne.

Michael Westhagemann, 58, ist Niederlassungsleiter von Siemens in Hamburg mit 2200 Mitarbeitern und verantwortet das Wind-Onshore-Geschäft für Deutschland. Ebenso leitet er auch den Industrieverband Hamburg (IVH) sowie das Cluster Erneuerbare Energien in der Stadt. Der Informatiker ist gebürtiger Münsterländer, wohnt in St. Georg und träumt von Olympia in Hamburg. Ein Gespräch über moderne Windmühlen, deren Gegner und eine Reise mit dem Goggomobil nach München.

Abendblatt: Hätten Sie – ganz persönlich – vor zwanzig Jahren geglaubt, dass wir uns komplett von der Atomkraft verabschieden?

Michael Westhagemann: Nein, das hätte ich niemals für möglich gehalten. Es ist unglaublich, dass wir es geschafft haben, bis heute schon über die Hälfte der Kernkraftwerke abzuschalten. Die deutschen Ingenieure scheinen nicht schlecht zu sein. (lacht)

Und die durch regenerative Quellen erzeugte Energie erweist sich immer stärker als seriöse Alternative.

Westhagemann: Ja, wir sehen heute in Schleswig-Holstein rein rechnerisch schon eine Überversorgung. Das Land kann sich komplett aus Strom versorgen, der durch die Windräder an Land und aus Solarenergie gewonnen wird. Und dabei habe ich die Offshore-Anlagen noch gar nicht mitgerechnet.

Sie sind mit Siemens der weltweit größte Anbieter von Offshore-Anlagen, das Geschäft mit den riesigen Windparks in der Nord- und Ostsee steuert der Konzern von Hamburg aus. Mit Erfolg?

Westhagemann: Kritiker haben früher stark bezweifelt, dass wir die Windkraft auf See wirklich als eine Stromquelle nutzen können. Bis heute ist es uns gelungen, gut drei Gigawatt durchgängige Stromproduktion auf dem Meer zu erzeugen. Das entspricht der Leistung von drei Atomkraftwerken. Unser Ziel war es in Deutschland bisher, bis 2020 eine Leistung von 6,5 Gigawatt aus Offshore-Anlagen zu gewinnen, also dem Output von sechs Kernkraftwerken entsprechend. Ich glaube, dass wir diese Marke schon ein, zwei Jahre früher erreichen.

Allerdings haben Experten errechnet, dass zuletzt Strom im Wert von zehn Millionen Euro „vernichtet“ werden musste. Der fortschreitende Bau von Windkraftanlagen in den nördlichen Bundesländern übersteigt die Netzkapazität und kann daher nicht in den Süden transportiert werden, wo der Strom benötigt wird.

Westhagemann: Das ist in der Tat eine Herkulesaufgabe. Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) hat gerade auch – mit Blick auf die Haltung zum Netzausbau in Bayern – eine Anzeige geschaltet, in der er Unternehmer aus Bayern zum Umzug nach Niedersachsen auffordert. Im Prinzip keine schlechte Idee. Wir benötigen den Netzausbau, um die Energie dorthin zu transportieren, wo sie benötigt wird.

Aus dem einst von vielen Menschen belächelten Windkraftgeschäft ist heute ein Jobmotor geworden. Siemens will 1000 Jobs in einem neuen Werk für Windkraftanlagen in Cuxhaven schaffen. Wird auch Hamburg als weltweite Zen­trale des Windenergiegeschäftes von Siemens davon profitieren?

Westhagemann: Ja, bei Siemens selber werden zentrale Dienste wie Arbeitssicherheit, Personal oder Ausbildung bald auch für Cuxhaven aus Hamburg gesteuert. Und in der Stadt werden sich industrielle Dienstleister ansiedeln.

Kürzlich hat Ihr Vorstandschef Joe Kaeser ein Kostensparprogramm angekündigt, das gefühlt zehnte in zehn Jahren. Schließlich hat sich Siemens komplett aus dem Geschäft mit der Atomkraft verabschiedet. Dafür werden Kapazitäten im Markt der regenerativen Energien aufgebaut. Gehen dabei unter dem Strich Arbeitsplätze bei Siemens in Hamburg verloren?

Westhagemann: Bei dem neuen Programm sind fast ausschließlich unsere internen Verwaltungsstrukturen betroffen, also vor allem in Erlangen, Nürnberg und München. In Hamburg sind nur eine Handvoll Stellen berührt.

Vor fünf Jahren arbeiteten für Siemens in Hamburg 1200 Menschen, nun beschäftigen Sie 2200 Mitarbeiter. Wie viele werden es bis Ende des Jahres sein?

Westhagemann: Wir planen, in Hamburg mittelfristig noch einmal rund 150 zusätzliche Fachkräfte einzustellen. Im Bereich der Energietechnik, im Vertrieb und im Service.

Siemens kommt bei Windanlagen an Land gerade einmal auf einen Marktanteil von 1,7 Prozent, während Sie das Geschäft auf See schon länger dominieren. Sie stehen hier als Chef des Bereichs On­shore-Windkraft in Deutschland stark unter Druck.

Westhagemann: Ja, das wollen wir ändern. Ich habe mich gegenüber unseren Vorständen dazu verpflichtet, im Rahmen unseres Programms „Vision 2020“, in den nächsten fünf Jahren im On­shore-Geschäft einen Marktanteil von bis zu 30 Prozent zu erreichen. Einfach wird das nicht, weil viele der Wettbewerber in diesem Markt auch unsere Kunden sind. Dies ist eine große Herausforderung für das gesamte Team.

Außerdem regt sich Widerstand in der Bevölkerung gegen die wenig romantischen „Windmühlen“ unserer Zeit.

Westhagemann: Es gibt mehr und mehr Proteste, das stimmt. Gleichzeitig steht der Plan, jedes Jahr 2,5 Gigawatt Leistung neu onshore zu installieren.

Die Gegenwehr dürfte kaum abebben, denn die Anlagen werden immer gigantischer.

Westhagemann: Ja, wir haben kürzlich einen Turm von mehr als 140 Metern Höhe errichtet. Das Problem ist die Kosten-Nutzen-Relation. Die Einspeisevergütung, also der Ertrag aus dem Geschäft, wird sinken. Da müssen Sie entscheiden, welche Maschinen Sie sinnvoll einsetzen können. Installation und Wartung sind bei großen und kleinen Anlagen ähnlich teuer. Der Output ist bei größeren Windrädern aber höher, und wir wandern vom Norden in den Süden, somit insbesondere von den Stark- in die Schwachwindzonen.

Die Energiewende erfordert Milliardeninvestitionen. Wie entwickelt sich der Strompreis für die Verbraucher?

Westhagemann: Nach meiner Einschätzung wird der Strom auch in Zukunft nicht teurer, aber ich bin kein Hellseher.

Was versprechen Sie sich von NEW 4.0, der Hamburger und Schleswig-Holsteiner Initiative für die Energiewende und die Digitalisierung der Wirtschaft?

Westhagemann: Wir bewerben uns beim Bund als Hamburg und Schleswig-Holstein auf ein Förderprogramm – „Schaufenster Intelligente Energie“ mit Schwerpunkt Wind. Das Fördervolumen beträgt 80 Millionen Euro. Die Idee: Schleswig-Holstein als Erzeugerregion und Hamburg als Verbraucherregion mit ihren energieintensiven Unternehmen so umzustellen, dass auch tatsächlich die Energie aus Schleswig-Holstein genutzt werden kann. Dazu wollen wir die Netze, die Speicherkapazitäten und intelligente Marktplätze ausbauen. Mehr als 50 Unternehmen haben bereits signalisiert, die gleiche Summe von 80 Millionen Euro, die zusätzlich zu der Förderung von der Wirtschaft investiert werden sollen, für die Idee auszugeben. Dieses Projekt würde Hamburg sogar bei der Bewerbung um Olympia helfen.

Inwiefern?

Westhagemann: Wir könnten uns das Motto „Erste Olympische Spiele mit grünem Strom“ auf die Fahnen schreiben. Dann würde die Energiewende auch endlich in den Köpfen der Menschen ankommen.

Sie stimmen also für Olympische Spiele in Hamburg?

Westhagemann: Ja, als ich als Jugendlicher 1972 von Olympia in München hörte, wollte ich unbedingt hin. Daraus wurde aber nichts. Als Einziger aus unserer Familie leistete sich mein Patenonkel die Reise, er fuhr aus unserer Heimat Beckum mit dem Goggomobil nach Bayern und wurde unser persönlicher „Korrespondent“ für Olympia. Die Begeisterung hält bis heute an.