Rahlstedt . Vor 14.000 Jahren lag das heutige Rahlstedt unter Gletschern. Jetzt suchen Archäologen auf der geplanten S-4-Trasse nach Relikten.
Der Archäologe Matthias Lindemann greift zu einer Tüte und schüttet den Inhalt auf ein Blatt Papier. Was Laien für bloße Steine halten, bringt Experten wie ihn ins Entzücken: „Das hier“, sagt er, „ist eine Feuersteinklinge. Sie ist zwischen 10.000 und 14.000 Jahre alt und wurde von Menschenhand geschaffen.“ Grabungsleiter Lindemann hat sie mit seinem Team vor wenigen Tagen östlich des Stellmoorer Tunneltals gefunden, in nicht mal 20 Zentimetern Tiefe. Die daumengroße Klinge ist federleicht – und messerscharf.
Noch bis zum Herbst erkunden Experten des Archäologischen Museums Hamburg (Helms-Museum) das Stellmoor-Ahrensburger Tunneltal. Wo in Hamburgs Nordosten die Grenze zu Schleswig-Holstein verläuft, breitete sich vor rund 20.000 Jahren eine dicke Eis- und Gletscherlandschaft aus. Eine Gletscherzunge schob sich fast bis zum Zentrum des heutigen Stadtteils Rahlstedt.
Trotz der Minusgrade lebten auf den Permafrostböden der letzten Eiszeit auch Menschen. Sie jagten vor allem Rentiere, Schneehasen und Vögel und ernährten sich von Fleisch, Fisch und Pflanzen. Um sich vor Kälte und Nässe zu schützen, trugen sie Leder- und Fellkleidung. Von ihrer Gestalt her waren sie den heutigen Menschen absolut ähnlich. „Wir haben es beim Aussehen mit modernen Menschen zu tun, sie wären in der U-Bahn nicht als Eiszeitmenschen zu erkennen“, sagt der Kulturhistoriker Lothar Altringer.
Archäologen aus Hamburg und Schleswig-Holstein wollen nun weitere Puzzleteile über das Leben der Eiszeitjäger zusammensetzen. „Wir“, sagt Lindemann, „graben nicht nach Schätzen, sondern suchen Zusammenhänge und Informationen.“
Die Forschungsreise in die eiskalte Altsteinzeit bezahlt die Deutsche Bahn. Das Unternehmen plant ein Milliardenprojekt – den Bau der Linie S 4. Sie soll in gut zehn Jahren zwischen Hamburg und Bad Oldesloe Fahrt aufnehmen. Vorher aber sind am Trassenverlauf Umweltstudien nötig. Bevor die Naturschützer ein Wort mitreden, sind jetzt die Archäologen dran.
Das kleine Camp der Hamburger Archäologen steht unter der sieben Millionen Euro teuren Brücke, die das Tunneltal durchtrennt. Von hier aus begeben sich die Experten auf Spurensuche. Zum einen orientieren sich Grabungsleiter Lindemann und Grabungstechnikerin Marlen Kröger an wissenschaftlichen Karten. Und zum anderen verlassen sie sich auf ihre Intuition. „Ich versuche, mich in die Lage der Rentierjäger von damals hineinzuversetzen“, sagt Lindemann. Anhand geologischer Gegebenheiten und der Gewässerlage wird nach möglichen Lagerstätten Ausschau gehalten. Allein auf dem hamburgischen Gebiet des Tunneltals werden 33 Flurstücke in den Gemarkungen Meiendorf und Oldenfelde unter die Lupe genommen.
Hier wurden schon die ältesten Pfeile der Menschheitsgeschichte entdeckt
Spuren der Eiszeitjäger gibt es im sieben Kilometer langen Tunneltal fast überall. Wer 50 Zentimeter tief gräbt, landet bereits mitten in der Eiszeit. Bearbeitete Feuersteine, das Stahl der Eiszeit, werden dort ebenso zu finden sein wie Pfeilspitzen aus Stein. Was diese Vorfahren vor 12.000 bis 15.000 Jahren der Nachwelt hinterlassen haben, sind die Abfälle und der „Müll“ ihres Alltags. Lindemann ist vom reichen archäologischen Erbe begeistert: „Die Produktionsabfälle liegen wie ein Schleier über dem Tunneltal.“
Von welchem kulturgeschichtlichen Kaliber das bis zu 600 Meter breite Tal ist, hatte in den 1930er-Jahren der Ahrensburger Hobby-Archäologe Alfred Rust (1900–1983) entdeckt. 2000 Knochen und 111 Rentiergeweihe konnte er mit seinem Team bergen. Außerdem fand er heraus, dass es im Tunneltal zwei Kulturen gab: Die nicht ganz so hoch entwickelten Nomaden der Hamburger „Kultur“ (vor 14.000 bis 15.000 Jahren) und die höher entwickelten Jäger der „Ahrenburger Kultur“ (vor 12.000 Jahren). Sie nutzten bereits Pfeil und Bogen. Mehr noch: Im Tunneltal fand Rust die ältesten Pfeile der Menschheitsgeschichte. Über den Verlauf der Ausgrabung informierten sich am Donnerstag der Rahlstedter Bürgerschaftsabgeordnete Ole Thorben Buschhüter und der Stormarner Landtagsabgeordnete Tobias von Pein. Die beiden SPD-Politiker zeigten sich erstaunt, dass sie sich auf so geschichtsträchtigem Gebiet befinden.
Buschhüter erwartet nun weitere Informationen über die Siedlungs- und Entwicklungsgeschichte der Region und hofft darauf, dass besondere Funde dokumentiert und „bestenfalls gesichert“ werden. Danach geht die Umweltverträglichkeitsstudie mit anderen Experten in die nächste Runde, bevor dort in gut zehn Jahren die S 4 fährt.