Eppendorf . Abendblatt-Serie Teil 3: Die spannendsten Kriminalfälle des Hamburger Professors Klaus Püschel. Heute: der Störtebeker-Kopf.
Die Klinge des Richtschwerts beschreibt einen blitzenden Bogen. Mit Wucht schlägt der Henker zu, ein Kopf fällt in den Sand des Hamburger Grasbrooks. Scharfrichter Rosenfeld hat sein grausiges Handwerk an einem Freibeuter vollstreckt. Nun tritt er einen Schritt beiseite, und seine Schergen schleppen den nächsten Delinquenten heran. Diese schreckliche Szene wiederholt sich, wieder und wieder, bis alle Verbrecher hingerichtet sind.
Fast ein halbes Jahrtausend nach diesen Enthauptungen von Freibeutern kommt es zu einer sensationellen Entdeckung: Bei Erdarbeiten auf dem Grasbrook, dem ehemaligen mittelalterlichen Hinrichtungsplatz, werden im Jahr 1878 zwei Schädel entdeckt. Es ist ein gruseliger Anblick, etwas unheimlich: Lange schmiedeeiserne Nägel ragen senkrecht aus den menschlichen Überresten nach oben, wie kantige Griffe, auf denen die Schädel aufgespießt sind. Der spektakuläre Fund lässt damals für viele nur einen Schluss zu: Bei den Überresten müsse es sich um Piraten handeln – womöglich sogar um den Schädel des legendären Freibeuters Klaus Störtebeker, von dem Quellen sagen, dass er dort im Jahr 1400 mit seinen Leuten enthauptet wurde.
„Bis heute ist die schauerliche Faszination der Totenschädel ungebrochen“, sagt Prof. Dr. Klaus Püschel. „Der sogenannte Störtebeker-Schädel gehört ganz sicher zu den prominentesten Fällen in meiner Laufbahn als Rechtsmediziner.“ Klaus Störtebeker, der Legende nach ein großer Kämpfer mit Herz für die Armen, Führer der „Likedeeler“ oder auch „Vitalienbrüder“, mit großem Aktionsradius in Ostsee und Nordsee, heldenhaften Taten an vielen Plätzen und Einsatz für die Kameraden bis zum letzten Körperzucken.
Schnittstelle zwischen Legende, Fiktion und Realität
„Auch wenn wir inzwischen aus jüngsten Forschungsergebnissen von Historikern wissen, dass es den Störtebeker aus den Heldengeschichten so nicht gab“, erklärt Püschel. Nach gut 120 Jahren, in denen die knöchernen Reste nahezu unangetastet ihre Geheimnisse für sich behielten, hat der Rechtsmediziner sich mit anderen Wissenschaftlern im Jahr 1999 daran gesetzt, das Rätsel um die Entdeckung zu lösen. „Die Schädelfunde vom Grasbrook bilden eine Schnittstelle zwischen Legende, Fiktion und wissenschaftlicher Realität“, sagt Püschel. „Die Schädel schienen uns förmlich aus ihren dunklen Augenhöhlen anzusehen, geheimnisumwittert und herausfordernd. Wir brannten darauf, ihrer Geschichte auf den Grund zu gehen. Natürlich sind wir mit diesem sensationellen Fund überaus vorsichtig und auch mit besonderer Ehrfurcht umgegangen.“
Sehr schnell kommen die Forscher bei ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass jedenfalls der besser erhaltene der Funde „einem besonderen Menschen gehört haben muss“. Als Beweis dafür sehen sie ein „einzigartiges Loch“ in der Schädeldecke an. Daraus lasse sich schließen, dass bei der Hinrichtung Wert darauf gelegt wurde, dass das Skelettteil als Abschreckung gut erhalten bleibt. Diese Sonderbehandlung komme nur für herausgehobene Persönlichkeiten wie Störtebeker infrage. „Zu jener Zeit um 1400 wurden nur Seeräuber auf dem Grasbrook enthauptet. Die abgeschlagenen Köpfe hat man zur Abschreckung auf Holzblöcke genagelt“, erklärt Püschel.
Doch zunächst einmal mussten grundlegende Fragen beantwortet werden. Stammten die beiden Schädel, die von einem Henker mit einem Richtschwert von den Körpern geschlagen worden waren, wirklich aus der Zeit Störtebekers – jenem Kaperführer, der laut Quellen seit 1394 mit Godeke Michels und Klaus Scheid als Seeräuber aktiv war? „Wer Klaus Störtebeker war, muss doch gar nicht groß erklärt werden. Jedenfalls könnte man das meinen“, so Püschel. „Beinahe jedes Kind hat die Geschichte von diesem berühmt-berüchtigten Piraten gehört. Er war bei Kämpfen mutig und in seinen Taten voll von Edelmut, denn wie Robin Hood raubte er den Reichen, gab von der Beute den Armen.“
Zur genauen Datierung der Schädel wandten die Forscher die sogenannte Radiocarbon-Methode an, die auf der Halbwertszeit eines bestimmten Kohlenstoffs basiert. „Die Schädel vom Grasbrook konnten mit dieser Methode mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Zeit zwischen 1380 und 1450 festgelegt werden – und damit genau in die Zeit der Hinrichtung von Störtebeker und seinen Mannen“, erklärt Püschel. „Das elektrisiert einen Hamburger Lokalpatrioten durchaus.“
Aber waren die beiden Menschen auch im passenden Alter? Wichtig für dessen Bestimmung sind die Wachstumszonen und der Verknöcherungsgrad der Schädelnähte. Mehrere Untersuchungen ergaben, dass einer der beiden Männer im Alter zwischen 25 und 35, der andere zwischen 35 und 45 zu Tode kam. Püschel: „Auch diese Erkenntnis unterstützte die These, dass es sich um Seeräuber im besten Mannesalter handelte.“ Allerdings konnten die Forscher bei der Untersuchung der Nagelung an den beiden Schädeln entscheidende Unterschiede feststellen:
Während der nur fragmentarisch enthaltene Schädel eine nahezu quadratische Perforation, passend zu der kantigen Form eines Nagels, aufweist, wurde der zweite offenbar in ungewöhnlicher Weise für die Nagelung vorbereitet. So konnten die Forscher unter anderem vier parallel verlaufende Knochenscharten direkt vor der Perforation feststellen.
„Das sind eindeutig Spuren einer Klinge“, erklärt Püschel. „Diese wurde schräg von oben im Sinne von Probierhieben in den Schädel getrieben.“ Danach erfolgte der entscheidende Einschlag, um die Perforation des Schädeldachs vorzubereiten. Mithilfe dieser Behandlung konnte der Nagel schließlich in den Schädel geschlagen werden, ohne diesen weiter zu zerstören. „Diese sorgfältige Vorbereitung ließ man bewusst einer außerordentlich herausgehobenen Persönlichkeit unter den Seeräubern zukommen“, sagt der Rechtsmediziner. „Man wollte, dass der Schädel dieses Mannes bei der Nagelung nicht zerbirst, sondern als abschreckendes Beispiel möglichst lange am Hafeneingang prangt und gut erhalten bleibt. Er sollte auf keinen Fall durch die Nagelung kaputt gehen. Er scheint als Schädeltrophäe für eine längerfristige Präparation sorgfältig bearbeitet worden zu sein.“ Dies belege, dass es sich um einen der Anführer der Seeräuber gehandelt haben müsse.
Das Leben Klaus Störtebekers ist ein Buch mit vielen leeren Seiten
Weitere Untersuchungen ergaben, dass es sich bei dem auf so besondere Weise behandelten Schädel um den eines kräftigen Mannes handelt, der mehrere Jahre vor seinem Tod an seiner rechten hinteren Stirn eine Verwundung davontrug, die offenbar von einer Klingenwaffe herrührte. Zudem hatte der Mann den oberen linken Schneidezahn eingebüßt, vermutlich bei einem Schlag ins Gesicht. Das würde zu der Darstellung passen, nach der Störtebeker bereits vor Beginn seiner Piratenkarriere in eine heftige Schlägerei in Wismar verwickelt gewesen sein soll. „Somit würden alle wissenschaftlichen Befunde bei dem einen am Grasbrook gefundenen Schädel passen: ein kräftiger Haudegen und sehr wahrscheinlich eine herausragende Persönlichkeit unter den Seeräubern – wie eben der legendäre Klaus Störtebeker“, erklärt der Rechtsmediziner.
Mit Hilfe einer Gesichtsweichteilrekonstruktion, einer für Identifizierungszwecke entwickelten Untersuchungsmethode der Kriminalistik und der Rechtsmedizin, wurde das Aussehen des Freibeuters dann rekonstruiert. Der „Kopf des Störtebekers“ erhielt sein wahres Gesicht. „Durch die von uns und vielen anderen renommierten Wissenschaftlern durchgeführten Untersuchungen ist die archäologische Einzigartigkeit dieses Schädels im Museum für Hamburgische Geschichte jetzt festgeschrieben.“
Und wie sieht es mit der Legende aus, dass Störtebeker noch nach seiner Enthauptung an elf seiner Kameraden vorbeimarschiert sein soll, um ihnen die Hinrichtung zu ersparen? „Das ist ganz gewiss eine erfundene Geschichte“, sagt Püschel. Der Vergleich, dass etwa Hühner nach Abschlagen des Kopfes noch herumfliegen können, greife hier nicht. „Als Mediziner muss man da wohl entschieden sagen: Durch das Durchtrennen des Rückenmarks resultiert ein sogenannter spinaler Schock, der zum sofortigen Tonusverlust der Muskulatur und damit zum Umstürzen führt. Der Mensch ist halt kein Huhn.“