Hamburg. Von Januar bis Mai gab es 127 schwere Kollisionen in Hamburg. Verkehrsbetriebe beklagen „Moralverfall“.
Die zehn und elf Jahre alten Kinder toben vergnügt zwischen den Sitzreihen. Sie fahren von einem Schulausflug heim, als der Aufprall kommt. Die Front des Busses der Linie M3 schiebt sich am Deichtorplatz auf das Heck eines VW Golf – ein mächtiger Ruck schleudert die Fahrgäste auf den Flur, sie erleiden Prellungen und Schürfwunden. Kurzzeitig steigt ein Polizeihubschrauber auf. Vier Rettungswagen bringen 18 Kinder in ein Krankenhaus, einige zeigen Symptome eines Schocks. Offenbar war die Fahrerin des Golf bei 28 Grad Außentemperatur und Sonne unachtsam, wechselte plötzlich die Fahrspur.
Der Vorfall ist nur der jüngste einer Serie von Unfällen zwischen Bussen, Autos, Fahrradfahrern und Fußgängern in Hamburg. Nach Polizeiangaben ereigneten sich allein von Januar bis Mai dieses Jahres 723 Unfälle mit Busbeteiligung – 127 Kollisionen endeten mit Verletzten. Statistisch kommt es seit Jahresbeginn nahezu jeden Tag zu einem schweren Unfall. Die Bilanz: Ein Toter, der im Brasselweg (Niendorf) frontal von einem Bus erfasst wurde, 16 Schwer- und 204 Leichtverletzte in fünf Monaten.
Im gesamten Jahr 2014 hatten die Behörden noch 407 Menschen registriert, die bei Busunfällen verletzt wurden. Das entspricht einem Rückgang gegenüber 2013 von fast 14 Prozent. Allerdings lassen die neuen Zahlen aus den ersten fünf Monaten des Jahres vermuten, dass es 2015 wieder deutlich mehr werden.
Die Verkehrsbetriebe beraten bei morgendlichen Sitzungen derzeit immer wieder über die Gründe. „Wenn Regen oder Schnee fällt, fahren die Autofahrer langsam und umsichtig“, sagt Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum. Wärme und Sonne führten dagegen zu Fehlern, die Busfahrer auch mit Geschick nicht ausgleichen könnten. Zwar trugen die Busfahrer nach Polizeiangaben bis Ende Mai 2015 für 60 Prozent der Unfälle (inklusive kleiner Blechschäden) die Hauptschuld. Hochbahn-Sprecher Kreienbaum hält diese Statistik aber für irreführend: „Nach unserer Statistik ist bei schweren Unfällen der Busfahrer nur in einem von zehn Fällen der Hauptversursacher.“ In jüngster Zeit wurden schwere Unfälle tatsächlich durch andere Verkehrsteilnehmer verursacht:
Am 1. Juni gerät ein Mercedes an der Luruper Haupstraße nach einem Spurwechsel ins Schleudern und wird von einem HVV-Bus gerammt. Nur wenige Stunden später rammt ein Bus einen VW an der Stresemannstraße. 19 Menschen werden verletzt.
Am 13. Juni bleibt ein Radfahrer am Sandkamp (Horn) auf der Straße stehen. Bei der Notbremsung des Linienbusses werden fünf Menschen verletzt. Der Radfahrer flüchtet.
Am 2. Juli werden vier Menschen, davon zwei Kinder, beim Zusammenstoß zwischen einem Bus und einem Pkw auf der Blücherstraße verletzt.
Laut Martin Beckmann von den Verkehrsbetrieben Hamburg-Holstein (VHH) wird in den Einzelfällen ein „deutlicher Niedergang der Verkehrsmoral“ sichtbar. Der ADAC teilt diese Einschätzung: „Natürlich machen auch Busfahrer schwere Fehler, die zu Unfällen führen. Die große Problematik ist aber das Schneiden der Busse durch Autofahrer, das Wenden über mehrere Busspuren, um einen Parkplatz zu bekommen“, sagt Christian Hieff, Sprecher des Automobilclubs in Hamburg. Jüngst seien die Beschwerden von Mitgliedern über das Verhalten von Autofahrern deutlich angestiegen.
Der verkehrspolitische Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion, Dennis Thering, sieht ebenfalls deutliche Defizite. Staus, Baustellen und die zeitraubende Parkplatzsuche zehrten an den Nerven der Autofahrer, was zu „mehr Unachtsamkeit und Aggressivität im Straßenverkehr“ führe. „Dadurch entstehen auch Situationen, in denen Busse übersehen oder an ungeeigneten Stellen überholt werden, wodurch die Zahl der Unfälle steigt.“ Passagiere im ÖPNV beklagen sich allerdings auch darüber, dass etwa Busfahrer mit hoher Geschwindigkeit zum Unfallrisiko beitragen.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gehen die meisten von den Busfahrern verursachten Unfälle auf Abstandsfehler sowie Fehler beim Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren zurück. Es folgen Fehler beim Ein- und Anfahren (12,2 Prozent) und zu hohe Geschwindigkeit (8,6 Prozent). Zwar ist die Zahl der Bus-Unfälle mit Verletzten seit 1992 bundesweit rückläufig – aber die Kollisionen fielen gleichzeitig schwerer aus. So stieg die Gesamtzahl der Verletzten im selben Zeitraum um fast ein Viertel auf 9078 Verunglückte, weitere 82 Menschen starben.
Dennoch: „Der Bus ist das sicherste Verkehrsmittel“, sagt Professor Michael Schreckenberg. Ausgerechnet der technische Fortschritt habe das Busfahren aber etwas unsicherer gemacht, so der Verkehrsforscher der Universität Duisburg-Essen. So beschleunigten Busse viel schneller als früher. „Viele Autofahrer denken noch, dass sie sich noch schnell vor einen Bus setzen können, schätzen dann aber die Geschwindigkeit der Busse falsch ein, so kommt es dann häufig zu Unfällen.“
Ein weitere Faktor: Die Motorisierung der Busse sei in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent stärker geworden. Und viel leiser, etwa durch den Einbau von Elektro-Motoren. „Autofahrer nehmen Busse nicht mehr so deutlich wahr“, sagt Schreckenberg. Gleichzeitig nimmt die Ablenkung im Verkehr zu. Das US-Verkehrsministerium hat im Vorjahr Busse testen lassen, die per Lautsprecher auf jeden Abbiegevorgang hinwiesen – zum Schutz vor allem „handysüchtiger“ Fußgänger.
Für das Benutzen von Busspuren müssen etwa Autofahrer bis zu 35 Euro Bußgeld zahlen – die Hamburger Politik kann sich härtere Strafen vorstellen. „Es handelt sich hierbei um Bundesgesetzgebung. Sollte ein Vorstoß kommen, würden wir eine erneute Verschärfung unterstützen“, sagt die verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Martina Koeppen. ADAC-Sprecher Hieff hält höhere Bußgelder für ungeeignet: „Das Benutzen der Busspur ist nicht das Problem, sondern ein nötiger Sinneswandel bei allen Verkehrsteilnehmern.“
Eine Anschnallpflicht, wie sie in Fernbussen längst üblich ist, würde für die Hochbahn „zum Kollaps des ÖPNV in Hamburg“ führen. Wichtiger sei, dass die Behörden die bestehenden Regeln durchsetzen. Auch CDU-Sprecher Thering hält nichts davon. „Die Busfahrer haben mit der Kontrolle der Fahrkarten bereits genug zu tun.“
Verkehrsforscher Schreckenberg geht davon aus, dass Kollisionen zwischen Bussen und Autos in Zukunft abnehmen werden. So könnten etwa Autos und Busse gegenseitige Abstandssignale über die Bordelektronik senden. „Je stärker die Kommunikation zwischen Fahrzeugen“, so Schreckenberg, „desto seltener kracht es“.
Beim ADAC besteht die Hoffnung, dass die Häufigkeit der Unfälle durch die Busbeschleunigung verringert wird. „Eigene Busspuren haben den Vorteil, dass sie Mischverkehr und Spurwechsel reduzieren“, sagt Sprecher Christian Hieff: „Bis sich die Moral verbessert, schadet es nicht, wenn sich Busse und Autos etwas aus dem Weg gehen.“