Die spannendsten Kriminalfälle des Hamburger Rechtsmediziners Professor Klaus Püschel – in einer neuen Abendblatt-Serie.
Pulverisiert“. In kleinste Teile zerlegt, zermahlen beinahe zu Staub. Mit diesem Ausdruck wurde der Zustand des Airbus beschrieben, der Ende März von dem Piloten Andreas L. mit beinah 800 Kilometern pro Stunde in das Bergmassiv der Alpen gelenkt und durch den Aufschlag vollkommen zerstört wurde. 150 Menschen starben, die Absturzstelle war ein Trümmerfeld. Das Motiv: Selbstmord des Piloten. Was zunächst unfassbar schien, ein Suizid im Flugzeug, bei dem etliche Unschuldige mit in den Tod gerissen wurden, war indes schon mehr als dreißig Jahre zuvor für einen Mann aus Norddeutschland das Mittel seiner Wahl, um aus dem Leben zu scheiden. Er verübte einen Mord, um Selbstmord zu begehen – und nahm seine Familie bewusst mit in den Tod.
„Es ist alles schon mal dagewesen“, ist die Erfahrung von Prof. Klaus Püschel, der als Rechtsmediziner den Flugzeugabsturz und die fünf Toten zusammen mit Kollegen für die Staatsanwaltschaft Lübeck untersucht hat. „Am Himmel ist die Freiheit unendlich, und die Depression scheint besonders problematisch“, sagt der 63-Jährige. „Und der Mann hat seinen Abgang ,todsicher‘ geplant.“ An Bord des Flugzeuges starben im März 1984 eine vierköpfige Familie, die das Flugzeug für einen Rundflug gemietet hatte, und der 52-jährige erfahrene Pilot.
Ob andere mit ihm sterben, ist dem Selbstmörder oft gleichgültig
Wenn ein Flugzeug abstürzt, vermuten Außenstehende eher einen Unfall als einen Suizid. Für Gerichtsmediziner zeigt aber die Erfahrung: „Wenn Menschen beteiligt sind, muss man auch daran denken, dass diese die Ursache sein können.“ Dabei gebe es diverse Ursachen-Szenarien, etwa Alkohol- oder Drogeneinfluss, Krankheit oder eben Suizid. „Dieses in die Unfallklärung einzubeziehen, ist jedenfalls rechtsmedizinische Erfahrung“, sagt Püschel. „Für die Bevölkerung ist es jedoch nicht das Naheliegende, weil so viele Menschen in den Tod mitgenommen werden. Dem Suizidenden ist das aber unter Umständen ziemlich gleichgültig – oder es ist geradezu seine Fiktion, andere ,mitzunehmen‘.“
So wie eben bei einem Flugzeugabsturz mit mehreren Opfern. „Man muss in Betracht ziehen“, so Püschel, „dass die Gedankenwelt eines Menschen unter Umständen so eingeengt ist, dass er das Leid anderer nicht wahrnimmt. Möglich ist sogar, dass für den Suizidenden auch Hass auf andere eine Rolle spielt und er deshalb Mitmenschen in den Tod nehmen will.“ Es gebe auch Menschen, die die Selbsttötung zu einer spektakulären Aktion machen wollen. „Die Gedankenwelt eines Menschen mit Todessehnsucht ist schwer zu verstehen“, sagt der Rechtsmediziner. „Warum begeht jemand Suizid? Und warum auf diese Weise? Die Antwort bleibt häufig offen.“
Insgesamt stellen Untersuchungen eines Flugzeugabsturzes besonders hohe Anforderungen an Rechtsmediziner, an technische Gutachter und die Kriminalpolizei. „Denn bei einem Absturz aus großer Höhe ist der Zerstörungsgrad der Opfer extrem ausgeprägt.“ Zudem bricht an der Absturzstelle in vielen Fällen ein Brand aus, der unter anderem die Identifizierung und Unfallrekonstruktion noch mehr erschwert. „Die Untersuchung der Leichen ist mit dem Zusammensetzen eines sehr kleinteiligen Puzzles zu vergleichen“, so Püschel. Akribisch werde sich durch das Gebiet des Absturzes gearbeitet. Nicht selten liegt dieser auch in unwegsamem Gelände.
Die Cessna 172 war beim Landeanflug aus etwa 150 Meter Höhe abgestürzt und in Brand geraten. Zeugen hatten zuvor eine unnatürliche Fluglage und das Verreißen der Maschine beobachtet. „Deshalb wurde der Schwerpunkt der Ermittlungen auch auf die Obduktion der Leiche des Piloten gelegt“, so Püschel. Der Verdacht: Der Flugzeugführer könnte plötzlich bewusstlos geworden oder in einen krampfartigen Zustand geraten sein. Alkohol, Drogen oder Kohlenmonoxid waren bei keinem der Toten nachweisbar. Aber Püschels Team konnte beim Piloten eine fortgeschrittene allgemeine Arteriosklerose nachweisen und an der linken Herzkranzschlagader eine erhebliche Einengung. Möglich wäre demnach ein Herzinfarkt. Doch der wahre Geschehensablauf glich vielmehr dem Stoff für einen Krimi:
Eben noch schwärmt die Familie von dem fantastischen Ausblick auf die unter ihnen liegende Landschaft, als plötzlich der Mann auf dem Platz neben dem Piloten ein Messer zückt, ausholt und die Waffe dem Flugzeugführer in die Brust rammt. Der schwer verletzte Pilot verliert die Kontrolle über die Cessna und verreißt das Steuer, das Flugzeug beginnt zu taumeln, stürzt in die Tiefe und zerschellt.
„Wir konnten diesen Tathergang rekonstruieren“, erzählt Püschel, „weil wir in der Brust des Piloten, nachdem wir sie von geschmolzenen und verkohlten Metallteilen und Kleidungsresten gesäubert hatten, eine typische Verletzung feststellten, wie sie durch einen Messerstich entsteht.“ Ein tödlicher Stich? Nicht unbedingt. Das Herz war jedenfalls nicht verletzt, ergab die weitere Obduktion. Aber doch war der Messerstich definitiv der Auslöser für den Absturz der Maschine, Tatwaffe also eigentlich das Flugzeug. Etwa zur selben Zeit wurde nämlich bekannt, dass der Familienvater einen erweiterten Suizid angekündigt hatte. „Wie er dies plante, hatte er detailliert auf einer Tonbandkassette geschildert“, erzählt Püschel. „Der 44-jährige Täter wollte während des Rundflugs in der Luft den Piloten außer Gefecht setzen, um so durch den Absturz sich selbst, seine Frau und seine beiden 15 und 17 Jahre alten Kinder mittelbar zu töten.“ Die Tatwaffe für die Tötung des Piloten, ein 26 Zentimeter langes Messer, wurde später im Brandschutt der Absturzstelle gefunden. Dem Piloten gegenüber empfand der 44-Jährige indes offenbar völlige Gleichgültigkeit. „Das Opfer ist nur das mehr oder weniger zufällige, indirekte Mittel zum Zweck, nämlich der eigenen Tötung.“
Dieser Fall zeige eindrucksvoll, „wie eine sehr gründliche Obduktion und eine Würdigung der Gesamtumstände das Ergebnis der Ermittlungen entscheidend beeinflussen kann“, sagt Püschel. Andernfalls hätte man unter Umständen zu dem Schluss kommen können, dass eine krankheitsbedingte Ausfallerscheinung des Piloten, etwa ein Herzinfarkt, oder ein technischer Defekt Ursache für den Absturz und den Tod von fünf Menschen war.
Der 44-jährige Täter hatte sich zum Suizid und der Tötung seiner Familie entschieden, weil er nach seiner Überzeugung unter erdrückenden finanziellen und familiären Problemen litt. Die Tat war wohlüberlegt und sorgfältig geplant. „Die Mitnahme seiner beiden Kinder im Teenager-Alter und seiner Ehefrau zeigt die Charakteristika eines erweiterten Suizids. Der Mann wählte mit dem Flugzeugabsturz eine möglichst sichere Todesart“, konstatiert Püschel. Überlegt hatte der Täter zunächst, sich und die Familie zu töten, indem er bei einem gemeinsamen Bootsausflug auf dem Wasser das Boot versenkt oder auch einen schweren Straßenverkehrsunfall verursacht. Püschel: „Doch dies schien ihm nicht sicher genug.“
Unangekündigte medizinische Untersuchungen bei den Piloten?
Wie gefährlich am Steuerruder auch der Missbrauch von Alkohol oder Drogen sein kann, zeigt der Absturz eines Rettungshubschraubers in Hamburg im März 2002, bei dem alle fünf Besatzungsmitglieder umkamen. Der Helikopter der Bundeswehr, der am Morgen auf dem Weg zu einem Rettungseinsatz war, stürzte wenige Meter von einem Bürogebäude entfernt auf das Gelände eines Kleingartenvereins. Ein technischer Fehlgriff des erheblich alkoholisierten Piloten hatte ein riskantes Flugmanöver ausgelöst, das dann in die Katastrophe mündete. „Ich habe Fluggesellschaften wiederholt angeboten, bei Piloten häufige und auch unangemeldete medizinische und labortechnische Untersuchungen vorzunehmen, etwa in Bezug auf Missbrauch von Alkohol, Drogen oder Medikamenten“, sagt Rechtsmediziner Püschel. „Aber die Fluggesellschaften, Betriebsräte und Pilotenvereinigungen setzen auf die Prinzipien Vertrauen, Selbstkontrolle und Verantwortungsbewusstsein.“ Wie enorm wichtig aber regelmäßige Untersuchungen von Piloten sind, zeige der dramatische Fall des bewusst herbeigeführten Absturzes in den Alpen. 149 unschuldige Menschen könnten unter Umständen noch leben.