Hamburg. Graffiti, Aufkleber, Poster oder Kacheln – die Straßenkunst-Szene in Hamburg ist vielfältig und derzeit sehr aktiv. Auch Führungen werden angeboten.
Als 1986 eine Putzfrau in der Düsseldorfer Kunstakademie die „Fettecke“ von Joseph Beuys aus Unkenntnis einfach wegwischte, begann die unaufhaltsame Karriere des Spruchs: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Street-Art-Schaffende begegnen dieser Frage andauernd, beantworten sie aber anders als etablierte Künstler: „Ja, das ist Kunst und ja, das kann weg.“ Sie lassen sich ihre Werke nicht schlechtreden, beharren aber nicht auf Unvergänglichkeit. Ihre Arbeit findet unter freiem Himmel statt, im urbanen Raum, den sie mitgestalten möchten. Manche sagen: verschönern. Andere schimpfen: verschandeln.
An Straßenkunst scheiden sich die Geister. Das Rebellische liegt nicht jedem, das bewusst kommerzielle genauso wenig, und was sollen diese Figuren, diese Buchstaben, diese Aufkleber überhaupt bedeuten? Um mehr über die lichtscheue Abteilung der Kunst zu erfahren, gibt es in Hamburg jetzt Street-Art-Führungen durch das Schanzen- und das Karoviertel, der größten Freiluftgalerie der Stadt.
An diesem Frühlingssonntag sind fast 40 Leute gekommen, obwohl es in Strömen regnet. Zwei Stunden lang werden sie die Straßen durchkämmen, Wände mit anderen Augen sehen, in Ecken schauen, die sie bislang keines Blickes würdigten, und während der ganzen Zeit frieren. Wie schön wäre da ein überdachtes geheiztes Museum, aber das Wetter gehört schon zur ersten Lektion der Führung: Street-Art ist nicht gemütlich. Sie entsteht meist in der Dunkelheit, anstatt an hübsch platzierten Staffeleien in weißen Ateliers. Sie pikst den Betrachter, anstatt ihm eine schöne Aussicht zu verschaffen. Sie kostet Nerven, anstatt auf Auktionen versteigert zu werden. Wäre Street-Art eine Sängerin, dann die frühe Madonna, der nur wenige applaudierten, obwohl man bereits ahnte, dass sich so viel Kreativität und Schaffensdrang nie stoppen lassen werde.
Man begnügt sich nicht mehr damit, wie ein Hund das Revier zu markieren
„Street-Art fragt nicht nach Erlaubnis“, sagt Marco Hosemann, der die Führung leitet. Er kennt die Szene, war selbst „ein bisschen aktiv“, sein Talent liegt aber vor allem in der Erklärung einer hochkomplexen Kunstbewegung, die keinerlei Interesse an gesellschaftlicher Anerkennung hat. Aber ob sie will oder nicht: Auf einmal gibt es immer mehr Akzeptierende. Fans wäre zu viel gesagt, aber die Phase des reinen „Vandalismus“-Images scheint vorüber zu sein. Man muss ja offen sein.
Ulla Wolfram aus Groß Borstel schaut sich mit Interesse verschiedene Tags und Pieces an, auf die Hosemann deutet, und sagt: „Ich komme vom Dorf, da würde man das meiste als Geschmiere bezeichnen, doch hier in der Stadt befindet sich alles im Wandel. Vielleicht wissen wir zu wenig, um die Botschaften zu verstehen.“ Botschaften gibt es durchaus. Viele Künstler begnügen sich nicht mehr damit, nur ihren Namen möglichst oft zu sprayen und so wie ein Hund das Revier zu markieren, sondern sie verbreiten subtile, ironische, provokante Aussagen. Der Künstler Marshal Arts etwa hat eine Frau gestaltet, die gerade das Peace-Zeichen macht und grinsend ein Selfie von sich anfertigen zu scheint – sie blickt dabei jedoch in eine Waffe. Marshal Arts ist wegen seiner gewitzten Arbeiten nicht nur in Hamburg bekannt, seine Werke waren neulich sogar Teil einer Ausstellung in New York.
Der Künstler sagt, dass er durch OZ, den berühmten verstorbenen Hamburger Sprayer, zur Street-Art gekommen sei, und er schätzt es, wenn man komplexe Themen in einem Motiv verständlich darstellen kann. „Durch die Bilder eigne ich mir einen Teil der Stadt an und hinterlasse Spuren in der Anonymität der Großstadt“, sagt Marshal Arts, der vor allem Paste-ups fertigt (siehe Lexikon).
Unter Street-Art verstehen viele Leute fälschlicherweise nur Graffiti, dabei fallen unter den Begriff alle Formen von Kunst im öffentlichen Raum. Aufkleber, Poster, Schablonen, umhäkelte Poller oder Kacheln – in jüngster Zeit kommen immer mehr Varianten hinzu. Graffiti ist nur ein Vorläufer der Street Art, und ist viel älter als man denkt. Höhlenmalereien und auch die Inschriften auf den Mauern von Pompeji zählen zu den ersten Graffiti.
Einer der bekanntesten Graffiti-Slogans im Zweiten Weltkrieg lautete: „Kilroy was here“. Zunächst wurde er auf Schiffen in den USA gesichtet, dann verbreitete er sich überall dort, wo die US-Armee vorbeimarschierte. Es entstand eine Art Wettbewerb unter den Soldaten, den Satz an die entlegensten Stellen – möglichst hinter die feindlichen Linien – zu schreiben. Sogar Stalin soll den Spruch beim Gang auf die Toilette entdeckt haben. Das kollektive Graffiti als Running-Gag, der die Macht der US-Armee ausdrückte. Aus dieser Zeit stammt das Prinzip, das auch heute noch gilt: Je riskanter die Stellen und je höher die Zahl der Tags, desto größer der Ruhm für den Writer.
Die Kilroy-Geschichte macht klar, dass der Ursprung der Graffiti-Bewegung im Politischen liegt. Vielen Künstler geht es heute noch um den Protest; wenn unter einem Gehirn in Kopfform etwa die Aufforderung des Künstlers steht: „Reclaim your Identity! Reclaim your Brain!“
Das OLF nennt sich der Hamburger, der die Leute auffordert, ihr Gehirn wieder zu benutzen, und dazu sagt: „Ab und an möchte ich meine Unzufriedenheit mit den bestehenden Umständen zum Ausdruck bringen.“ Es geht ihm auch darum, Farbe in das Großstadtleben zu bringen. So fertigt er etwa Kacheln mit der Aufschrift „Kacheln erlaubt?“, die er mit Kleister unter „Plakate ankleben verboten“-Schilder anbringt: „Ich mag es, Teil der Community zu sein, die Menschen zum Schmunzeln zu bringen.“
Ähnlich sieht es Jaim, der den größten Teil seines Lebens in Altona und St. Pauli verbracht hat, und daher schon früh mit bemalten Wänden in Berührung kam. Mit 15 habe er dann begonnen, die Stadt nach seinen Vorstellungen zu gestalten: „Street-Art kann politisch sein, kann aber auch seine Bestimmung darin finden, die Stadt, diesen großen, grauen Gebäudekomplex, zu verschönern. Wenn nur ein Mensch deinen Sticker entdeckt und schön findet, hat sich die Arbeit gelohnt.“ Jaim ist überzeugt, dass auch dieser unpolitische Teil der Street-Art dem Grundgedanken folgt: „Reclaim the Streets!“ Also die Rückeroberung der Straßen durch Einmischung der Bürger. Ein Aufstand der Zeichen sozusagen.
Siro KRKN, der stets eine Krake in unterschiedlichen Varianten malt, erklärt seine Motivation folgendermaßen: „Etwas zu machen, was keinen Regeln unterliegt, wo jeder das machen kann, was er möchte und niemand einem sagt, was man zu tun hat.“ Ein selten gewordener Umstand. „Dass das nicht jedem passt, ist klar“, sagt Jaim. „Aber Straßenkunst ist auch nichts Demokratisches.“
Anders als das Klischee wird sie nicht nur von bösen Kapuzenpulli-Trägern ausgeübt. Klar gibt es Künstler, die große Risiken eingehen und als Teil einer Crew sogenannte Graffiti-Bombing-Attacken verüben, am liebsten auf Bahn-Waggons oder Neubauten, die sie mit Gentrifizierung in Verbindung bringen. Es gibt aber auch zurückhaltende, freundliche Kreative wie Lieb sein, der mit seiner auf Aufklebern verbreiteten Aufforderung zum Lieb sein derzeit häufig zu sehen ist.
Sehr präsent im Stadtbild sind zudem Zippa die Rakete, die 3-D-Arbeiten der Push-Crew, ein Mädchen namens Little Lucy, das Katzen hasst, sowie Vögel von den Zonenkindern. Das Künstlerkollektiv arbeitet gern mit der Natur und verpasst auch mal einem Baum ein hübsches Gesicht. Noch niedlicher, geradezu kuschelig sind die Exponate des Strickklubs Wilhelmsburg. Nachdem sie bereits Poller umhäkelt sowie einen Traktor im Kiekebergmuseum eingestrickt haben, fertigen sie nun Zitronen aus Wolle an, die sie in der Stadt verteilen, um an die Zitronenjette zu erinnern. Als nächstes planen die „Clubmitgliederinnen“, Bäume mit Bommeln zu versehen.
Für den Nachwuchs eröffnet eine Street Art School in der Rindermarkthalle
Nicht alle Künstler arbeiten also im Geheimen oder im Illegalen, manche verdienen inzwischen Geld mit ihren Werken wie Rebelzer, der einen eigenen Laden in der Hein-Hoyer-Straße hat. 1990 fing er mit Graffiti an, weil ihm seine Mama schon als kleiner Junge gesagt hatte: „Was du nicht hast, kannst du dir malen.“ Rebelzer wurde durch seine „Freaks“ bekannt, fröhliche oder verärgerte Gesichter in Schwarz-Weiß. Sie geben die Stimmung des Künstlers wider, der meistens recht gut aufgelegt ist: „Ich möchte mit meinen Arbeiten Freude bereiten und verbreiten.“
Damit die Hamburger Straßenkunst-Szene keine Nachwuchssorgen bekommt, eröffnet voraussichtlich im Mai, spätestens im Juni, in der Rindermarkthalle St. Pauli eine Street-Art School. Die Schule ist ein gemeinnütziger Verein und wird sich mit Spenden und durch Fördermitglieder finanzieren. Kinder können dort von Künstlern lernen, die sich wiederum gegenseitig inspirieren sollen.
Cool, eine Schule für Illegales, freuten sich nach der Bekanntmachung einige Anwohner. „Das soll sie eigentlich nicht sein“, sagt Gründer Olaf Terhorst. Er wolle eben nicht, dass die Jugendlichen nachts mit Sprühdosen an Bahnübergängen lauern oder von Leitern fallen, sondern sich kreativ ausleben können, ohne Sachbeschädigung zu begehen oder sich zu verletzen. Terhorst arbeitet hauptberuflich als Unternehmensberater, aber die Szene hat es ihm angetan. Er unterstützt viele junge Künstler, in dem er ihnen ganz legale Aufträge vermittelt wie Garagentore besprühen oder Hotelhallen gestalten. „Durch den Hafen und die Industrieflächen hat Hamburg ein hohes Potenzial für Street Art. Zu einer weltoffenen Stadt gehört diese Form von Kunst einfach dazu“, findet Terhorst.
Die Aufforderung der Straßenkünstler heißt: „Auf in den Sprühling!“ Toiz, ein sehr junges Talent, sagt: „Es kann eigentlich nie genug Kunst auf der Straße geben, denn in Städten findet jeder immer noch eine graue Wand zum Verschönern. Auch du!“
Führungen: Die nächsten Street-Art-Rundgänge finden am 3.5., 21.5., 2.7. und 13.8. statt.
Kosten: zehn Euro. Anmeldungen im Internet unter www.stattreisen-hamburg.de