Mit zwei spektakulären Aktionen einer Wiener Künstlergruppe will der Hamburger Architektur Sommer im Mai für Furore sorgen.
Die Passanten werden stehen bleiben und ihren Augen kaum trauen. Ist das wirklich ein Tier, das auf Bismarcks Kopf steht? Wer sich dem Alten Elbpark nähert, wird schließlich einen veritablen Steinbock erkennen, der auf dem Granitschädel des Reichskanzlers balanciert und nur einen Moment innezuhalten scheint. Ganz so, als sei er auf dem Sprung. Drei Meter misst der Steinbock, den das Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber als „parasitäre Intervention“ auf das 34 Meter hohe Hamburger Bismarck-Denkmal verpflanzen will. Die zahlreichen Genehmigungen für die spektakuläre Kunstaktion sind inzwischen erteilt, am 19. Mai kann es losgehen.
Etwa zwei Kilometer Luftlinie entfernt soll dann am selben Tag im Schiff der Hauptkirche St. Katharinen auch noch ein riesiger Felsbrocken scheinbar zum Schweben gebracht werden. Damit huldigen die Wiener Künstler einerseits dem surrealistischen Maler René Magritte, der in seinen Bildern mehrfach Steine schweben ließ, wollen aber zugleich „das Thema Glauben in seiner vielschichtigen Dimension visualisieren“. „Capricorn Two“, heißt das Steinbock-Projekt (in Anlehnung an den amerikanischen Film „Capricorn One“), mit dem Steinbrener/Dempf & Huber den Bismarck-Kult ironisieren. Der acht Meter hohe, fünf Meter breite und vier Meter tiefe schwebende Brocken in St. Katharinen hatte unter dem Titel „To be in Limbo“ bereits in der barocken Wiener Jesuitenkirche für Erstaunen, Faszination und Irritation gesorgt. Beide Kunstwerke holt das Büro SEHW Architekten in die Stadt, um mit diesen spektakulären Projekten die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Hamburger Architektur Sommer zu lenken.
Von Mai bis Juli wird es im gesamten Stadtgebiet mehr als 200 Veranstaltungen geben, die sich mit Stadtentwicklung und Baukultur, Planung und Denkmalpflege, Technologie und Stilfragen, Kunstgeschichte und Zukunftsvisionen beschäftigen werden. „Hamburg, Europas nicht nur heimliche Hauptstadt der Bautätigkeit, verfügt, anders als Frankfurt, München, Berlin über keinen unabhängigen institutionellen Ort, der sich schwerpunktmäßig der Präsentation von Architektur widmet. Hamburg hat aber den Architektur Sommer“, heißt es in einem Grußwort der Initiatoren des Architektur-Festivals, das seit 1994 nun zum achten Mal veranstaltet wird.
„Es hat inzwischen schon viele Nachahmer gegeben, etwa in Dresden, in Graz oder in Darmstadt, von wo aus die Organisatoren zu uns gekommen sind, um sich Anregungen für ihre jeweiligen Projekte zu holen“, sagt Stephan Feige von der Initiative Hamburger Architektensommer, der von einer „baukulturellen Bürgerinitiative“ spricht. In den 1990er-Jahren hatten sich erstmals interessierte Bürger, die allerdings meistens in Institutionen wie Architektenbüros, Museen, Hochschulen oder Galerien beschäftigt waren, zusammengefunden, um ein Format zu entwickeln, bei dem es in ganz vielfältiger Weise um das Bauen gehen sollte.
Entsprechend weit gefächert ist auch das Programm, an dem sich in diesem Jahr mehr als 150 Museen, Verbände, Vereine, Galerien, Architekturbüros, Initiativen, aber auch Fotografen, Künstler und sogar architekturbegeisterte Laien mit eigenen Veranstaltungen beteiligen. Anders als die Triennale der Photographie, die in diesem Jahr mit dem Polen Krzysztof Candrowicz erstmals einen künstlerischen Leiter haben wird, kommt der Architektur Sommer bewusst ohne Kurator aus. „Aber gerade die Tatsache, dass hier keine übergreifenden Themen vorgegeben werden, ermöglicht die große Vielfalt an Betrachtungen zum Thema Baukultur, die dann eben auch für einen besonders großen Kreis von Besuchern interessant und reizvoll sein kann“, meint Stephan Feige.
So gibt es Veranstaltungen mit wissenschaftlichem Anspruch, etwa eine Konferenz zum Thema „Konzept in der Architektur“, aber auch populäre Angebote, sogar speziell für Kinder und Jugendliche. Das Hamburg Museum bietet zum Beispiel unter dem Titel „Gedacht – gezeichnet – gebaut“ Familienführungen durch das eigene Haus an, bei denen gezeigt werden soll, was sich Hamburgs Oberbaudirektor Fritz Schumacher gedacht hat, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Museumsgebäude am Holstenwall entwarf.
Grundsätzlich richtet sich der Architektur Sommer an all jene, die kulturinteressiert sind und sich im weitesten Sinne mit Architektur beschäftigen.
Beabsichtigt ist ein künstlerisches Statement, das wahrgenommen wird
Wer das etwa 150 Seiten starke Programmheft durchblättert, wird freilich feststellen, dass die Baugeschichte und die Beschäftigung mit dem Bestand breiten Raum einnehmen. „Dies steht nicht im Widerspruch zum Selbstverständnis einer prosperierenden Stadt mit städtebaulich weitgreifenden Ambitionen. Wer gleichzeitig zu vielen neuen Ufern – an Süder- und Norderelbe, an Kanälen und an der Bille – aufbricht, der tut gut daran, sich mit den Verhältnissen, aus denen er kommt, auseinanderzusetzen“, heißt es im Geleitwort des Festivals, das zwar auf einen Kurator, nicht aber auf ein übergreifendes Motto verzichtet.
„Über die Verhältnisse“, heißt das diesjährige Thema, dessen Ambivalenz bewusst gewählt ist. „Wir sehen das nicht als eine starre Vorgabe, sondern vielmehr als einen weit gefassten inhaltlichen Rahmen, der Raum für sehr unterschiedliche Ansätze lässt“, sagt Christoph Winkler vom Vorstand der Initiative Hamburger Architektur Sommer. Denn natürlich habe sich Architektur stets mit den gegebenen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Andererseits stelle sich auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der gewählten Mittel. Und auch das Problem der Nachhaltigkeit werde mit dem Begriff der Verhältnisse, denen man Rechnung tragen, aber über die man eben auch leben könne, berührt – mithin eine Formulierung, die vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zulasse.
Und was hat das Ganze nun mit dem Steinbock auf Bismarcks Kopf und dem schwebenden Felsbrocken in St. Katharinen zu tun? „Wir wollten ein künstlerisches Statement, das im Stadtraum auch wirklich wahrgenommen wird, denn natürlich geht es darum, das Projekt Architektur Sommer in die Öffentlichkeit zu tragen“, sagt Christoph Winkler, der sich intensiv mit den Intentionen der Wiener Künstlergruppe auseinandergesetzt hat. „Uns drei interessierten vor allem die öffentlichen, gut wahrgenommenen und auch mit Image belegten Gebäude. Hamburg hat kein Königsschloss, ist nie Residenzstadt gewesen und hat deshalb die sogenannten Repräsentationsbauten viel weniger als andere Städte. Was Hamburg repräsentiert, ist das breite und reiche Bürgertum. Dessen Zeichen wollten wir finden, markieren und kommentieren“, sagt der Wiener Künstler Christoph Steinbrener.
Wie werden Kirchenbesucher auf den „schwebenden Fels“wohl reagieren?
Und sein Kollege Martin Huber verrät schließlich, wie die Steinbock-Idee zustande kam: „Mit der ja schon bergähnlichen Überdimensionierung des Bismarck-Denkmals wurde durch den Steinbock die Glatze von Bismarck zur Bergspitze – ein Paradoxon in diesem Flachland, das wir sehr mögen.“
Mit Blick auf den hängenden Stein in St. Katharinen, der in acht Teile zerlegt werden muss, damit er überhaupt durch die nur 2,80 Meter hohe Kirchentür passt, spricht Steinbrener von einem surrealistischen Moment. Es wird spannend zu beobachten sein, wie die Kirchenbesucher den „schwebenden Felsbrocken“, bei dem die physikalische Unmöglichkeit auf verblüffende Weise durchbrochen zu sein scheint, vom 20. Mai an im Mittelschiff von St. Katharinen erleben werden. „Das Projekt verschränkt das Unglaubliche mit dem Spirituellen“, heißt es im Programmheft des großen Hamburger Architektur Festivals, zu dem von Mai bis Juli etwa 300.000 Besucher erwartet werden.