Hamburg. Es sind vor allem Osteuropäer, die vermehrt auch abseits der City in Stadtteilen wie Ottensen und Eimsbüttel um Geld bitten.

Erste Frühlingssonne auf dem Rathausmarkt: Schulklassen und Touristen schlendern über den Platz am Rathaus. An den Stehtischen der Kioske werden Bratwurst oder asiatische Nudeln gegessen. Dazwischen humpelt, leicht gebückt ein älterer Mann. Er trägt einen grob gewebten, grauen Mantel, der am Saum abgewetzt ist. In der einen Hand hält er eine Krücke, in der anderen klimpern in einem Pappbecher ein paar 50- und 20-CentMünzen. „Biitte“, sagt er mit einem osteuropäisch klingenden Akzent und reicht mit einer schwieligen Hand den Pappbecher. Man blickt in ein Gesicht aus weißen Bartstoppeln, Falten und einigen braunen Zähnen.

Ein Bettler, wie er derzeit in der Innenstadt oft zu sehen ist. Und mittlerweile auch in den Einkaufsstraßen vieler anderer Stadtteile, wie Abendblatt-Reporter beobachtet haben: in Ottensen, auf der Uhlenhorst oder Eimsbüttel, wo vor Budnikowski in der Bellealliancestraße unterschiedliche Bettler sitzen, die dort morgens von einem Kleintransporter abgesetzt werden.

Manche der Bettler in der Stadt hocken auf Decken, andere sprechen Passanten gezielt an, meist sind es Männer. Oft kommen sie aus Rumänien, erzählen sie, wenn man mit ihnen spricht. Aber auch ein Punkerpärchen sitzt etwa auf der Spitalerstraße auf einer Decke, lächelt die Passanten an. „Ich danke dir“, sagt das vielleicht 19-jährige Mädchen fröhlich, wenn jemand Geld in die bereitgestellte Tasse wirft.

Ein deutscher Bettler hat sich nicht weit von ihnen entfernt mit seinem Hund hingesetzt. Hinter ihm wirbt ein Kaufhaus mit einem Plakat. „Shoppen. Immer. Überall“, liest man. Seit zehn Jahren komme er jeden Tag für einige Stunden, erzählt der 45-Jährige. 20, 30 Euro bekomme man zusammen, sagt er. Und, dass immer mehr Osteuropäer kommen und die guten Plätze belegen.

So wie die beiden alten Männer mit weißem Bart, die still und versunken in der Mönckebergstraße sitzen. Wie zwei gutmütige Großväter sehen sie aus. Sie lächeln, verstehen aber nur wenig. 67 Jahre alt sei er, sagt der Mann mit der hellen Pudelmütze, die er sich tief ins Gesicht geschoben hat. So als wolle er von dem Geschehen um sich herum nicht viel wahrnehmen wollen. Aus Rumänien, sei er, sagt er und blickt den Fragesteller kurz an. Der Bart wirkt gepflegt, die Augen wach und traurig. Alles kaputt dort, keine Arbeit, kein Geld, sagt er. „Nothing, nothing.“ Wo er schläft? „Winternotprogramm“, versteht man und „Schule“. Und das Wort „April“, dazu macht er eine Handbewegung, die wohl andeutet, dass er dann verschwinden muss. Bis zum 1. April läuft tatsächlich noch das Hamburger Winternotprogramm, etwa 800 Plätze gibt es nachts in Gemeinschaftsunterkünften.

Viele Menschen aus Osteuropa nutzen sie derzeit, heißt es bei der Diakonie, die gerade eine eigene Beratungsstelle für Zuwanderer aus Osteuropa eingerichtet hat. Jetzt im Frühjahr kommen tatsächlich mehr Menschen nach Hamburg – auch um zu betteln, beobachtet man dort. Der Winter ist zu Ende und die Unterkünfte noch offen. „Dann ist das Überleben auf der Straße leichter, weil es keine Minusgrade mehr gibt“, sagt Diakonie-Fachbereichsleiter Peter Ogon.

Mit der EU-Freizügigkeit kamen die Bettler aus Osteuropa

Sogar einen kostenlosen Bus-Shuttle hat die Behörde zwischen den großen Unterkünften und der City eingerichtet. Morgens um 9 Uhr geht’s zum Besenbinderhof am Hauptbahnhof, um 17.30 und 18.30 Uhr zurück. Man trifft sie dann alle wieder: den verkrüppelten Bettler aus der Spitalerstraße, die alte Frau vom Michel, den weißbärtigen Rumänen. Dicke, Jacken, Strickmützen tragen sie, und oft Krücken. Einige halten sie nun salopp unterm Arm, andere brauchen sie wirklich. Vor allem Menschen aus Rumänien und Osteuropa fahren mit, sagt ein Wachmann, der hier postiert ist.

Im Vergleich der vergangenen Jahre sei die Zuwanderung aus Osteuropa immer wieder „wellenförmig“, ein langfristiger Zunahme-Trend lasse sich nicht feststellen, heißt es bei der Diakonie. Und nicht jeder Bettler ist ein Obdachloser. Genaue Zahlen gibt es aber nicht. Die Polizei führt keine Statistik, weil Betteln keine Straftat ist. 600 obdachlose Osteuropäer leben in der Stadt laut Schätzungen, wie viele davon betteln, weiß man nicht. Die Sozialbehörde verweist an die Bezirke. Im Bezirksamt Mitte hat man aber auch keine exakten Zahlen. Wie auch: Denn auch unter Brücken oder in versteckten Parkecken schlafen die Menschen, die tagsüber betteln müssen in der Stadt, sagt Ogon.

So wie Luca zum Beispiel. Auch er ist tagsüber zwischen Rathausmarkt und Neuer Wall unterwegs. Er hält den vorbeieilenden Menschen einen Pappbecher hin, schaut bittend. Wenn man den jungen Mann anspricht, sagt er: „Kein Geld. Essen, Essen.“ Er spricht kein Deutsch, nur ein paar Brocken, die klingen wie auswendig gelernt. „Kein Geld. Essen, Essen.“ Mit den Fingern zeigt er, wie alt er ist: 19. Er sagt, dass er und seine Familie im Park schlafen. Als Beweis streift er seine Handschuhe ab und zeigt seine rot angeschwollenen Hände. Frostbeulen? Man weiß es nicht.

Viel hat die Zuwanderung mit der EU-Freizügigkeit zu tun, die seit Anfang 2014 auch für Bulgaren und Rumänen gilt. Aber: Anspruch auf staatliche Leistungen hat nur jemand, der in Deutschland zuvor regulär beschäftigt war. „Die anderen leben daher völlig ohne Geld in Hamburg“, sagt Diakonie-Mitarbeiter Ogon. Zwei Gruppen gebe es dabei vor allem, die in Hamburg dann betteln. Zum einem Menschen, die zum Arbeiten herkommen, vermittelt oder unorganisiert – und dann keine Arbeit finden. Und es gebe natürlich das organisierte Betteln mit Hintermännern, die daran verdienen. „Doch auch diese organisierten Bettler leben in Not“, sagt der Diakonie-Mann.

An der U-Bahn-Station Osterstraße ist jede Kreuzungsecke besetzt

Und diese Not schwappt in viele Stadtteile: so zum Beispiel auf der Uhlenhorst, wo Bettler mittlerweile vor jedem noch so kleinen Ladenzentrum stehen. Am Hofweg/Ecke Uhlenhorster Weg ist seit ein paar Wochen nahezu täglich ein älterer Mann zu sehen, der sich vor dem Edeka-Markt niedergelassen hat.

Meist sitzt er an einer Steinkante, einen umgedrehten Hut vor sich, und grüßt die Vorbeigehenden freundlich. Man kennt sich mittlerweile. Der Mann trägt einen dunklen Dreitagebart, meist hat er Krücken dabei. Wirft ein Passant ein Geldstück in seinen Hut, bedankt er sich mit stark osteuropäischem Akzent.

Kaum 200 Meter weiter den Hofweg hinunter an der Ecke zur Kanalstraße ist der nächste Bettler anzutreffen, der auf die Kunden wartet, die die Drogerie oder einen Lotto-Laden ansteuern. In der Waitzstraße in Groß Flottbek ist Betteln möglicherweise organisiert: Vier oder fünf Bettler sind dort regelmäßig zu beobachten, die sich dann in 200 Metern Abstand voneinander postieren. Regelmäßiges Betteln auch vor Tchibo an der Gerhofstraße. Manchmal wird sehr aufdringlich um Almosen gebeten, immer wieder schreiten Kellner eines italienischen Restaurants ein, wenn Gäste angesprochen werden.

Auch in Eimsbüttel an der U-Bahn-Station Osterstraße wird im Prinzip rund um die Uhr gebettelt. Jede Kreuzungsecke ist besetzt, jeder hat fast schon seinen Stammplatz, so scheint es.

Doch was folgt daraus, soll man dem Mann etwas geben, der da bei der Mittagspause auf dem Rathausmarkt seinen Pappbecher hinhält? Lässt sich das schlechte Gewissen über diese brutale Armut wegwischen mit den Gedanken an organisierte Bettlerbanden? Ist man für das Elend im Rest-Europa mitverantwortlich?

Für Diakonie-Mann Ogon ist die Beantwortung dieser Fragen ziemlich klar: Von der Zuwanderung aus Osteuropa profitiere Deutschland in viel größerem Maße, als dass das Land mit zunehmender Armut zu kämpfen habe, sagt er. Der weitaus größte Teil der Zuwanderer ist gut ausgebildet und findet eine Arbeit als Fachkraft, die das Land braucht. „Wer aber betteln muss, lebt in Not.“, sagt Ogon. Deshalb müsse man ihm auch helfen.

Mitarbeit: nib, inga, jmo, bg, hw, mik, cls