Hamburg. Neben Marken wie Prada und Gucci haben auch etliche inhabergeführte Geschäfte mit erlesenen Produkten überlebt. Die Luxusmeile in Hamburg.
Die schwarzen Diamanten, die protzige Rolex-Uhr und die filigrane Goldkette haben einen beneidenswerten Platz an der Sonne. Sie werden begafft, bestaunt, begehrt – und manchmal spiegelt sich Hamburgs Postkartenpanorama in ihrem Glanze. Aus dem Schaufenster blickt man auf Bummler und Passanten, Flaneure und Fußgänger – und Hamburgs gute Stube: links das Hotel Vier Jahreszeiten, der Jungfernstieg mit der Binnenalster, rechts der wuchtige Hapag-Lloyd-Sitz. Wo der Neue Wall beginnt, ist Hamburg ganz bei sich.
In der Weihnachtszeit weist seit 1926 eine Lichterkette den Weg, die älteste Festbeleuchtung der Stadt. Zum Jungfernstieg hin erstrahlt der Schriftzug „Neuer Wall“, zwischen den Häusern überspannen 22 illuminierte Bögen die Straße. Das erinnert ein wenig an die Große Freiheit. Vielleicht soll es das auch. Denn der Neue Wall verspricht Einkaufen als Erlebnis, die große Markenwelt, Freiheit, so weit die Kreditkarte reicht. Unter den deutschen Luxusmeilen landet der Neue Wall meist auf dem zweiten Rang, in Europa ist die 580-Meter-Meile unter den Top Ten. Nur in der jüngsten Zählung 2014 von Jones Lang Lasalle schwächelte Hamburg etwas – plötzlich hängten nicht nur die Münchner Maximilianstraße, sondern auch die Stuttgarter Stiftstraße den Neuen Wall ab. Aber bitte, wer ist Stuttgart?
Zwischen Weltmarken und Individualisten
Das Entree zum Neuen Wall ist Geschmeide. Für Hellmut Wempe war der Sprung an die Ecke Jungfernstieg/Neuer Wall 1972 ein Wagnis, das ihm schlaflose Nächte bereitete. Heute ist Wempe ein internationales Unternehmen mit Niederlassungen an der Fifth Avenue in New York, in Peking, in Paris. „Es ist unglaublich, was aus diesem Unternehmen geworden ist“, sagt Geschäftsführerin Christa Kubsch. „Wir sind ein wenig wie Harrods.“ Das Geschäft am Neuen Wall ist deutschlandweit die Nummer 1 – bezogen auf den Umsatz ohne Touristen. Die Standorte München und Frankfurt locken wesentlich mehr reiche Araber und Chinesen an.
Zwischen den Weltmarken haben auch einheimische Individualisten überlebt
Seit 45 Jahren arbeitet Kubsch bei Wempe, vor 22 Jahren kam sie an den Neuen Wall. Sie will hier ein zugewandtes Haus, bei den Kunden Schwellenängste abbauen. Natürlich verkaufe sie die Platin-Rolex, aber eben auch Mitbringsel für den kleinen Geldbeutel. „Schon meine Großmutter kaufte ihren Wecker bei Wempe.“ Hamburg habe einen besonderen Stil, sagt Kubsch. „Klassik ist in Hamburg immer Trend – wir haben keine Glitzer-Gesellschaft“.
Jeden zweiten Kunden gewinnt der Juwelier über die Schaufenster. „Sie müssen aussehen wie ein üppiges Büfett.“ Ihr Geschäft sei an der besten Ecke, die man in Hamburg haben könne. „Der Neue Wall hat einen besseren Ruf bekommen, weil der Jungfernstieg so abgebaut hat“, sagt sie mit Blick auf die Flaggschiff-Geschäfte von Vodafone und Apple. Große, aber austauschbare Namen. Globalisierung an der Binnenalster.
Auf dem Neuen Wall hingegen stimmt die Mischung noch – hier sind zwar Prada (Nr. 32), Gucci (Nr. 34), Burberry (36), Massimo Dutti (38) und Hermès (40) direkte Nachbarn, doch unter den knapp 100 Anbietern haben einige Individualisten überlebt. Inhabergeführte Geschäfte, die hier – und eben nur hier zuhause sind. So wie Unger Hamburg, das 130 Spitzen-Designer unter einem Dach vereint. Oder eben das Modegeschäft Hoffmann ist so eines: Eine Internetadresse gibt es nicht, die alten Öffnungszeiten von 9 bis 18 Uhr gelten weiter, die Einrichtung des Geschäftes stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die Umkleidekabinen aus dem Jahr 1890 erinnern an ein Kreuzfahrtschiff, ein 500 Jahre alter Schrank wird wie selbstverständlich weiter benutzt, Kristallleuchter spenden ein weiches Licht. „Ein Kunde wollte mir mal die Lampen abkaufen“, erzählt Rita Feldmann, geschäftsführende Gesellschafterin. „Hier kauft der Hamburger Kaufmannsadel, wir haben unsere Stammkunden.“
Hoffmann verfügt über ein eigenes Atelier und lädt zu Modenschauen, bei denen sich das hanseatische Hamburg trifft. Es gibt Würstchen, Kartoffelsalat, Schampus – und neue Kreationen. An einer Wand hängen prominente Kunden: Grethe Weiser bedankt sich handschriftlich bei der „lieben Frau Hoffmann“, daneben hängen Shirley Bassey, Farah Diba – und die GAL-Politikerin Christa Goetsch. Sogar ein Prinz aus dem Nahen Osten begehrte einst mit vier voll verschleierten Frauen Einlass bei einer Modenschau. Die Security wies sie ab. Am nächsten Tage kam der Prinz empört zurück. Das sei ihm noch nie passiert, dass er nicht eingelassen werde, beschwerte sich der Araber. Normalerweise müssten die anderen Kunden das Geschäft verlassen. Dann kaufte er doch kräftig ein.
Internationaler als der Neue Wall ist keine Meile. Und doch leidet die Hansestadt darunter, dass gerade wohlhabende Touristen – vor allem Araber – eher in Düsseldorf, München oder Frankfurt powershoppen. Die Zahl der Besucher aus den Golfstaaten ist an der Isar viermal so hoch, der Hamburger Marktanteil liegt bei dieser Zielgruppe mit 3,8 Prozent unter Sonstigen. Zudem – so hört man hinter vorgehaltener Hand – fehlten die Russen doch sehr. „Wir sind in ein Loch gefallen, als sie plötzlich ausblieben – einige wären fast depressiv geworden“, heißt es. Das Luxussegment ist krisenanfällig, der Fremdenverkehr von großer Bedeutung. Die Touristen lassen jährlich sechs Milliarden Euro in Hamburg.
Bei Felix Jud spielt der Fremdenverkehr kaum eine Rolle. In dem vielleicht schönsten Gebäude an der Flaniermeile, der Mellinpassage, liegt seit 1923 ein Paradies für Literatur-Liebhaber. Hier werden Bücher nicht verkauft, hier wird Lesen zelebriert. Das Schaufenster bietet großes Kino, über drei Etagen türmen sich Bücher – wer gern liest, wird in Versuchung geführt. „Wir sind hier am Neuen Wall die geistige Oase in der auswechselbaren Luxuswüste.“ Geschäftsführer Wilfried Weber ist ein Erzähler, hier gibt es zur Literatur auch Geschichten. Sein Lieblingsbuch? „Leute von Hamburg“ – ein gebundenes Buch mit den Betrachtungen von Siegfried Lenz und Bildern von Klaus Fußmann. Weber war am Zustandekommen der Ausgabe beteiligt: „Wenn die Elbphilharmonie fertig ist, muss es Ihr Buch geben“, hatte Weber seinerzeit dem 2014 verstorbenen Ehrenbürger gesagt, auch Fußmann fand Gefallen an dem Werk, denn „Zeichnungen verschwinden, aber Bücher verderben nicht.“ Weber erzählt weiter: „Ich werde nie das Vergnügen bei Lenz vergessen, als wir ihm das Buch nach Fünen brachten.“ Und fügt hinzu: „Bücher machen unsterblich.“
Wilfried Weber in seiner Begeisterung für das gedruckte Wort, das Interieur, ja die Buch- und Kunsthandlung Felix Jud wirkt wie eine Art Anti-Amazon. Aber er sieht die Internet-Konkurrenz gelassen. „Natürlich arbeiten sie mit unfeinen Tricks, wenn sie Steuern sparen, die wir alle zahlen müssen. Aber auch die Kunden müssen sich fragen, welche Zeitersparnis sie beim Internet-Handel haben, wenn sie dann eine halbe Stunde bei der Post anstehen.“
Aus der Zeit gefallen wirkt auch der Nachbar Ladage & Oelke, ein Traditionsbetrieb, in dem die enge Verwandtschaft der Hanseaten zu England spürbar wird. Betritt man das Geschäft, fühlt man sich auf die Insel gebeamt. Schwere Holzschränke mit Anzügen, die jedermann in einen Gentleman verwandeln, dunkle Verkaufstresen, unter deren Glas Seidentücher, Schals und Manschettenknöpfe auf Kunden warten, Kronleuchter, die ihr warmes Licht auf Krawatten, Tweed-Jacketts und Dufflecoats werfen.
Seit 1953 sind die Hamburger Dufflecoat-Spezialist. „Die Mäntel sind wieder ganz stark im Kommen, gerade bei den jungen Leuten“, erklärt Heinrich Franck, der Geschäftsführer. „Aber wir hatten sie immer und werden sie immer haben.“ Das Kommen und Gehen der Mode – bei Ladage & Oelke lässt man sich nicht von Trends hetzen. „Wir wollen Passform verkaufen, nicht Marken“, sagte Frank. Und Individualität: Die Hälfte der Stoffe kaufen die Hamburger selbst ein, gefertigt wird in Europa. 7000 rahmengenähte Schuhe ergänzen den Auftritt; damit sich Qualität durchsetzt, veranstaltet das Haus sogar Schuhputzkurse.
Durch die Mellinpassage mit ihren sehenswerten Jugendstil-Malereien eröffnet sich der Blick auf den Rathausmarkt, es ist der direkte Weg zu den Alsterarkaden. Hier wütete Silvester 1989 ein Feuer, das beide Traditionsgeschäfte fast verbrannt hätte; in der darbenden Vegetarischen Gaststätte hatte der Inhaber ein Feuer gelegt, das sich rasch durch das Holzgebäude fraß; es war als Letztes vom Wiederaufbau nach dem Großen Brand von 1842 erhalten geblieben. Was das Inferno übrig ließ, zerstörte das Löschwasser. Nur die Unterstützung der Hamburger Kunden retteten die beiden großen Namen vom Neuen Wall.
Große Namen speisen regelmäßig in Nummer 19, zweiter Stock. In der Hanse Lounge residiert einer der edelsten Clubs der Stadt, die Aufnahmegebühr beträgt 1200 Euro, der Jahresbeitrag liegt bei 820 Euro, das Humidor-Fach schlägt mit 180 Euro zu Buche. Dafür bekommen die Mitglieder Zugang zum Restaurant mit spektakulärer Terrasse über den Alsterarkaden, zur Bibliothek im englischen Stil und zu hochmodernen Konferenzräumen.
Der Neue Wall – nicht nur eine Einkaufsstraße. Er ist Medizinermeile, Büroboulevard und Achse der Anwälte. Auch von dieser Laufkundschaft leben die Geschäfte. „Ich habe schon häufiger erlebt, dass sich ein Anwalt nach einem gelungen Abschluss eine Miró-Lithografie gönnte“, erzählt Wilfried Weber von Felix Jud. Auch Stadtführungen und Schulklassen erkunden den Neuen Wall. Abseits des Glanzes der Geschäfte gibt es einige architektonische Kleinodien.
Neben der Mellinpassage sticht vor allem die wunderschöne Jugendstil-Fassade des Hildebrand-Hauses heraus. Wer in das Innere des Gebäudes gelangt, staunt über ein Relieffries, Kacheln an den Deckenbögen, Mosaikböden und einen Brunnen an der Wand. Viele dieser Schönheiten entgehen dem Flaneur, wenn sein Tunnelblick gebannt ist von den üppigen Auslagen, den aufgebrezelten Bummlern, den parkenden Porsches.
Im Hildebrand-Haus ist seit 2011 der traditionsreiche Juwelier Brahmfeld & Gutruf ansässig. Hier zaubern 80.000 Leuchtdioden und zwei Kilometer Verkabelungen Lichtspiele in die Geschäftsräume – eine Illumination, die den deutschen Lichtdesignpreis gewonnen hat. Tradition trifft Moderne: Der Juwelier bezieht sich auf den Gründergeist von Hinrich Brahmfeld, der vor 271 Jahren in Hamburg die heute „älteste Schmuckmarke Deutschlands“ gründete. Im November 2010 kaufte die Familie Freisfeld die Namensrechte und eröffnete das Geschäft im Hildebrand-Haus. „Der Neue Wall ist für mich die interessanteste und faszinierendste Luxusmeile in Deutschland“, sagt Benjamin Freisfeld, Juwelier in vierter Generation. „Und Hamburg bekommt durch neue Hotelprojekte und den Zuwachs im Tourismus Rückenwind.“ Ein Überangebot an Juwelieren auf dem Neuen Wall sieht er nicht. „Jeder hat seinen Schwerpunkt. Wir stehen für Handwerk mit hanseatischer Ausrichtung: In unserer Werkstatt in Münster kombinieren wir strenge Formen mit der Schönheit der Natur“, sagt Freisfeld.
Was man schmerzlich vermisst, ist ein Ort zum Verweilen, ein Café etwa
Hier in der Hausnummer 18 waren früher zwei Institutionen heimisch, die heute wallauf, wallab schmerzlich vermisst werden: das Café Engelchen und das Ladengeschäft der Firma Feinkost Heimerdinger. Obwohl Heimerdinger schon vor 30 Jahren wegen Mieterhöhungen aufgab, ist der Name vielen Hamburgern ein Begriff geblieben. „Im Quartier fehlt ein Käfer oder Dallmayr“, sagen viele. Und ein Bistro. „Es gibt noch immer Touristen, die alte Reiseführer in der Hand halten und das Café Engelchen suchen“, erzählt Freisfeld. Nur im Internet ist es noch lebendig – hier mäkelt ein Kunde bis in alle Ewigkeit über das Engelchen: „Eine kleine Cola und ein Krabbenbrot mit Spiegelei 11,60 EUR. Nun, wer bei Gucci kauft, kann es sich wohl leisten.“
Heute wäre man über jedes Café froh, über das man meckern kann. Kaffeehäuser und ihre Kultur sind untergegangen, an ihre Stelle traten aufgeschäumte Geschmacksverirrungen im Pappbecher. Nicht jeder Fortschritt bringt weiter. Am Neuen Wall vermisst man schmerzlich einen Ort zum Verweilen, deshalb haben die Geschäftsinhaber gemeinsam in der Vorweihnachtszeit eine Skihütte auf dem Bürgermeister-Petersen-Platz eröffnet. Der Erfolg war groß, eine Wiederholung ist wahrscheinlich.
Seit Jahren engagieren sich Geschäftsleute und Grundeigentümer für die Prachtstraße. Als Deutschlands erster innerstädtischer Business Improvement District (BID) wurde der Neue Wall seit 2005 grundlegend neu gestaltet – die Fußwege wurden abgesenkt, das graue Potpourri aus Pollern abgeräumt, der Straßenraum aufgehübscht. Gemeinsame Werbung und Aktionen sollen die Meile im In- wie Ausland bekannt machen.
Einer, der sich für den Neuen Wall stark macht, ist Nico Hagenah, Geschäftsführer des Beleuchtungshauses Ewige Lampe und aktiv im Vorstand der Interessengemeinschaft Neuer Wall. Er sieht die Luxusmeile auf einem guten Weg, auch weil sich das Kaufmannshaus an den Großen Bleichen gut entwickelt, das per Brückenschlag den Neuen Wall anbindet. Mit dem Atelier F gibt es hier ein so vermisstes französisch-amerikanisches Bistro, die Eröffnung von Herrenausstatter Braun in der Kaisergalerie bringt zusätzlich Kunden ins Quartier. „Gerade dem hinteren Teil des Neuen Walls tut das gut“, sagt Hagenah. Tatsächlich gibt es ein deutliches Nord-Süd-Gefälle auf den 580 Metern. Mit jedem Schritt weg vom Jungfernstieg verliert der Neue Wall seinen glamourösen Charakter, die Kundenfrequenz nimmt ab.
Ewige Lampe ist schon seit mehr als 20 Jahren am Neuen Wall zuhause und bietet individuelle Leuchten italienischer, deutscher und spanischer Hersteller. Die Straße war immer auch exklusive Möbelmeile – das traditionsreiche Einrichtungshaus Bornhold residiert ein paar Häuser weiter.
Direkt um die Ecke, im vermutlich kleinsten Geschäft des Neuen Walls, hat gerade Graf von Faber-Castell einen „Store“ eröffnet. Hier kann man Bleistifte in der Preisgruppe von vier bis 10.000 Euro erwerben. Letzterer ist der teuerste Bleistift der Welt, der Perfekte Bleistift mit Weißgoldkappe und drei Diamanten, weltweit limitiert auf 99 Stück. Schön schreiben lässt sich indes auch mit der platinierten oder versilberten Version, in dessen Schutzkappe sich zugleich ein Bleistiftverlängerer, ein Anspitzer und ein Radierer verbergen. „Diese Bleistifte werden ausschließlich in Deutschland gefertigt“, sagt Store-Manager Markus Gillner. Auf den 25 Quadratmetern Ladenfläche erschließt sich eine Wunderwelt des Schreibens, die im Internetzeitalter antiquiert wirkt. „Da irren Sie sich“, sagt Gillner. „Der Trend geht zu hochwertigen Bleistiften und Füllfederhaltern.“
Die Meile kennt zwei Geschwindigkeiten: die des Passanten und die des Flaneurs
Es gibt überraschend viele kleine Läden am Neuen Wall. Der Große Brand von 1842 war seine Geburtsstunde – nach dem Inferno planten die Stadtväter in bester Kaufmannsmanier. Die Alteigentümer wurden enteignet und abgefunden, die Flurstücke verkleinert und zu höheren Preisen verkauft. Die meisten Grundstücke sind extrem schmal, die Breite schwankt zwischen zehn und 13 Metern. Wer wenig Platz für die Präsentation seiner Ware hat, muss auf das Besondere setzen; wo weniger Kunden kommen, müssen diese mehr Geld lassen. So entwickelte sich der Neue Wall rasch zur exklusiven Adresse. Mit circa 13 Metern Breite ist auch die Straße entsprechend eng – für eine Allee oder zumindest ein paar Bäume mangelt es an Platz. So lenkt nur wenig ab vom Blick in die üppigen Auslagen.
Bis heute kennt die Meile zwei Geschwindigkeiten: die des Passanten, der von der Stadthausbrücke zum Jungfernstieg eilt, und die des Flaneurs. Die einen ähneln Getriebenen, die anderen lassen sich treiben. Die Konsumenten bummeln in aufreizender Geschwindigkeit, lassen sich von den Auslagen der Geschäfte anziehen und sind leicht zu erkennen – an ihren Tüten. Sie sprechen verschiedene Sprachen, es eint sie der Geschmack. „Das ist schon eine besondere Straße“, sagt ein chinesischer Student, der mit Freunden Hamburg besucht. „Alle großen Marken sind hier.“ Sie hätten ein bisschen was eingekauft, sagt er – chinesisches Understatement angesichts gefüllter Taschen. „Die Marken sind hier billiger als in China oder Hongkong – auch weil sie für uns steuerfrei sind.“
Eine reine Luxusmeile ist die Straße aber nicht – dafür mischen sich viele Hamburger Namen zwischen die internationalen Edelmarken. Das Wäschehaus Möhring etwa blickt auf 212 Jahre Tradition zurück. Und Fahnen Fleck, sonst in der unprätentiösen Kieler Straße beheimatetet, leistet sich seit 2001 einen „Cityshop“ für Party, Kostüme und Events am Neuen Wall 57. Karneval ist hier im wahrsten Sinne des Wortes, es ist der Teufel los, und der Gorilla, der Eisbär, das Untier. Bizarre Kostüme, in die sich steife Hanseaten hineinzwängen, um die Sau rauszulassen. „Das Karnevalsgeschäft stagniert“, verrät Geschäftsführerin Birgit Bron-Neubert. „Halloween hingegen wächst von Jahr zu Jahr und hat den Fasching überrundet.“ Auch Fahnen bleiben ein gutes Geschäft, trotz der riesigen Konkurrenz durch Bau- und Supermärkte. „Die Leute kommen zu uns, wenn die Fahne draußen hängen soll. Die Billigflaggen hängen nur eine WM.“ Besonders gut verkauft sich übrigens die Hamburg-Flagge, danach folgen die Farben von Blankenese und Altona.
Der Geschichte begegnet man nicht unbedingt auf Schritt und Tritt – man muss etwas genauer hinschauen. Ein Stolperstein bremst den Flaneur vor Hausnummer 32 und erinnert an den Rechtsanwalt Walter Ludwig Samuel. „Jahrgang 1875, gedemütigt, entrechtet, Flucht in den Tod 25.3.1943.“ Ein deutsches Leben, ein deutsches Morden. Am Neuen Wall gab es früher viele jüdische Geschäftsleute, die die Straße groß gemacht hatten. In der Reichspogromnacht 1938 wurden 41 jüdische Geschäfte und Kontore zerstört und enteignet.
Zwei Gedenktafeln an der Schleusenbrücke verweisen auf die Besitzer der Modehäuser Hirschfeld sowie Robinsohn. Beide wurden über Nacht enteignet. Im Hamburger Abendblatt erinnerte Hans Hirschfeld sich: „Ich sehe noch, wie die aufgebrachte Menschenmenge die Schaufensterpuppen unseres Textilhauses und das der gegenüberliegenden Familie Robinsohn in den Fleet warf. Von heute auf morgen waren wir arm wie die Kirchenmäuse.“ Nazis rissen die Geschäfte an sich. „Ariseure erwarben die Geschäfte für einen Appel und ein Ei. Die ehemaligen Eigentümer haben von dem Geld nichts gesehen“, sagt Hirschfeld. Es ehrt die Geschäftsleute von heute, dass sie sich dieser Geschichte stellen und sie selbst in Erinnerung halten.
Der Neue Wall erzählt viele Geschichten. Einige davon kennt Christian Möller, Geschäftsführer beim bekanntesten Friseur der Stadt, Marlies Möller. Hier heißen die Kunden Gäste, und dementsprechend diskret geht es zu. Die Fassade am Neuen Wall 61 ist nach unten geschlossen worden, „damit die Privatsphäre der Gäste gewahrt bleibt“, so Möller. Touristen, die mit ihren Kameras in den Salon hineinfotografieren, wären ein Alptraum. „Unsere Stylisten besuchen die VIPs in den Hotels. Die Königin von Schweden haben wir damals im Gästehaus des Senats fürs Matthiae-Mahl gepflegt.“ Übers Hamburger Abendblatt haben Möllers damals den neuen Standort gefunden. „Das alte Haus lag am Mittelweg. Wir wollten aber in die City.“ Wichtiger als Laufkundschaft ist ihm, dass die Kunden vorfahren können. Ein Gast etwa kommt alle vier Wochen mit dem Taxi aus St.-Peter-Ording, um sich die Haare zu färben.
Das südliche Ende soll jetzt auch aufgehübscht und belebt werden
Der Neue Wall war nie eine Fußgängerzone und wird – so viel darf man prophezeien – auch nie eine werden. Denn die Häuserzeilen sind von beiden Seiten von Fleeten begrenzt, eine Anlieferung von Waren ist nur über die Straße möglich. Die Parkplätze sind begehrt, aber für eine Luxus-Meile geradezu ein Schnäppchen. 30 Minuten kosten einen Euro, die Höchstparkdauer liegt bei einer Stunde. Sogar eine Brötchentaste gibt es, obwohl weit und breit kein Bäcker zu sehen ist. Damit der Neue Wall nicht zum Dauerparkplatz wird, lassen die Geschäftsleute einen privaten Sicherheitsdienst abzetteln. Dies mit so großem Erfolg, dass sich auf Facebook eine Selbsthilfegruppe „Danke Neuer Wall, dass Ihr parkende Kunden aufschreibt“ gegründet hat.
Hilfe könnte auch der Bürgermeister-Petersen-Platz gebrauchen, der etwas verloren kurz vor der Einmündung des Neuen Walls zur Stadthausbrücke liegt. Der BID will sich des Platzes annehmen, der derzeit an Brobdingnag, das Land der Riesen aus Gullivers Reisen, erinnert. Überdimensionierte Blumentöpfe versuchen, den toten Platz zum Leben zu erwecken – hier fehlen nicht nur ein Café, sondern auch Geschäfte. Westlich liegt das beeindruckende Görtzpalais, östlich ein Solitärbau der architektonisch meist mauen Moderne.
Mehr Leben indes kündigt sich an: Die Stadthöfe kommen – das gesamte Quartier zwischen Neuer Wall und Große Bleichen verwandelt sich bis 2017 in eine Stadtlandschaft mit weiteren Geschäften, Büros, Gastronomie, Luxuswohnungen und einem so genannten Boutique-Hotel. 250 Millionen Euro sollen investiert werden. Der Neue Wall soll auch im Süden zu glänzen beginnen.