Immerhin jeder zweite Deutsche findet es richtig, dass die Lokführer streiken. Nur geringe Unterschiede innerhalb einzelner Zielgruppen.

Vor einigen Tagen habe ich einen Freund in Hannover besucht und mir im Vorfeld überlegt, ob es besser wäre, die Strecke mit der Deutschen Bahn oder meinem Auto zurückzulegen. Zeitlich macht es kaum einen Unterschied, um allerdings umweltschonender und entspannter zu reisen, war ich kurz davor, mir ein Zugticket zu kaufen. Doch dann las ich im Abendblatt über eine Arbeitsniederlegung der Zugführer und dachte „nicht schon wieder ein Streik!“.

Denn ganz egal ob nun die Lufthansa- Piloten, das Sicherheitspersonal am Flughafen oder die Mitarbeiter von Amazon – irgendwie habe ich das Gefühl, dass in Deutschland ständig gestreikt wird. Doch das ist ein Irrtum. Im internationalen Vergleich streiken wir sogar relativ selten. So fielen in den letzten zehn Jahren im Jahresdurchschnitt pro 1000 Beschäftigte lediglich 16 Arbeitstage aus – Tendenz gleichbleibend. Die Dänen kommen dagegen im Schnitt auf 106 Tage Arbeitskampf im Jahr, die Kanadier auf 117 und die Franzosen sogar auf 150. Aber die Anzahl von Streikenden sagt natürlich recht wenig über Reichweite und Auswirkungen aus. Die ca. 20.000 Lokführer in Deutschland befördern immerhin rund 2,3 Milliarden Fahrgäste pro Jahr. Allein im letzten Jahr beliefen sich die entstandenen Kosten aufgrund der Arbeitsniederlegungen laut DB-Konzern auf 150 Millionen Euro (was jedoch bei 40 Milliarden Umsatz noch zu verschmerzen sein dürfte). Deutlich schwerer wiegt zweifellos der Vertrauens- und Imageverlust bei den Kunden.

Doch wie denken die Bürger eigentlich über die Arbeitskämpfe bei der Deutschen Bahn? Sie sind sich bei der Frage, ob die Beschäftigten für ihre Anliegen auch zukünftig streiken sollten, gespalten. Die eine Hälfte befürwortet den Ausstand, die andere hat dafür kein Verständnis. Dabei sind nur relativ geringe Unterschiede innerhalb der einzelnen Zielgruppen nachzuweisen. Etwas mehr Zustimmung äußern die Höhergebildeten und Besserverdienenden, während die unter 34-Jährigen und über 55-Jährigen etwas kritischer auf die Situation blicken.

Welche Entwicklung ich für die Zukunft erwarte? Ich glaube, wir werden mehr Streiks in Deutschland erleben. Den Hauptgrund dafür sehe ich in der steigenden Unsicherheit und Spaltung innerhalb unserer Gesellschaft. „Einen Arbeitsplatz von der Lehre bis zur Bahre“ wird es immer seltener geben, obwohl sich genau dies viele Arbeitnehmer gerade in unsicheren Zeiten wünschen. Man möchte Beständigkeit und sich und die eigene Familie dauerhaft gut versorgt wissen. In puncto Arbeitsplatzgarantie jedoch allein an die Arbeitgeber zu appellieren, ist mir zu einseitig. Gefordert ist ebenso jeder Arbeitnehmer, indem er zum Beispiel durch (eigen-)verantwortliches Handeln im Sinne des Unternehmens oder durch (lebenslange) Weiterbildung sicherstellt, dass die eigene Firma erfolgreich ist und somit auch der eigene Arbeitsplatz bestehen bleibt.

Bei der Bezahlung ist mit der Einführung des Mindestlohns ein erster Schritt in die richtige Richtung getan worden. Ein Blick auf die Lohnsteigerungen der letzten Jahrzehnte zeigt jedoch, dass das Lohnniveau insgesamt niedriger ist als in der Vergangenheit. So erhöhte sich das Gehalt eines Durchschnittsarbeitnehmers zwischen 1950 und 1980 – inflationsbereinigt – um 7 Prozent jährlich. 1980 lag die Steigerung noch bei 2,5 Prozent, sank in den 90er-Jahren jedoch auf 0,5 Prozent. Seit der Jahrtausendwende stiegen die Reallöhne gar nicht mehr.

Zwei Zukunftsszenarien wären aus meiner Sicht interessant. Erstens: Die Gehälter in Unternehmen stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, sodass z. B. ein Azubi ein Drittel des Durchschnittseinkommens verdient, ein Mitarbeiter mit Führungsverantwortung das Dreifache und ein Geschäftsführer maximal das Zehnfache. Zweitens: Die Einkommen der Mitarbeiter sind flexibel und stehen in einem direkten Verhältnis zum Umsatz oder zum Gewinn des Unternehmens. Doch dass Arbeitgeber und auch Gewerkschaften zu diesen Modellen zustimmen, ist recht unwahrscheinlich. Daher bin ich sicher, dass wir auch in Zukunft hin und wieder Streiks erleben werden.

An dieser Stelle schreibt jeden Montag Prof. Ulrich Reinhardt von der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen