Politikwissenschaftler Elmar Wiesendahl kritisiert den Wahlkampf aller Parteien in Hamburg. Er fordert eine Direktwahl des Hamburger Bürgermeisters und eine radikale Reform der Bürgerschaft.

Er ist lieber klar als übertrieben diplomatisch – und er teilt in alle politischen Richtungen aus, wenn er es für richtig hält: Parteienforscher Elmar Wiesendahl, in jungen Jahren selbst CDU-Mitglied, gilt als treffsicherer Kritiker der Hamburger Politik und ihrer Akteure. Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt zieht er eine Bilanz des Bürgerschaftswahlkampfs.

Hamburger Abendblatt: Professor Wiesendahl, was war das Besondere an diesem Wahlkampf?

Elmar Wiesendahl: Er war ernüchternd langweilig. Es gab keinen heftigen Schlagabtausch, keine Aufholjagd. Ein themenarmer Wahlkampf, der sich wenig eignet, Wähler zu mobilisieren.

Woran lag’s?

Wiesendahl: Es fehlte an einem Aufregerthema. Die CDU hat es ja mit Nadelstichen zum Beispiel bei der Verkehrspolitik versucht. Aber richtig verfangen hat das nicht. Auch ihre Festlegung auf die Stadtbahn nicht, weil die Mehrheit der Hamburger keine Stadtbahn will.

Hat die Opposition Fehler gemacht?

Wiesendahl: Zunächst mal hat Olaf Scholz viel richtig gemacht. Er hat sehr schnell über den Senat reagiert, wenn irgendwo die Heide zu brennen begann. Außerdem hat man es natürlich als Regierungspartei leichter, wenn die Opposition so zersplittert ist. Im Grunde wurde hier ein Theaterstück aufgeführt: Goliath gegen die vier Zwerge. Wie sehr die ihm zu Leibe rücken konnten, werden wir am Sonntagabend wissen. Die CDU hat zudem ein paar strategische Fehler gemacht.

Was hat die CDU falsch gemacht?

Wiesendahl: Angesichts der Ausgangslage war es falsch, Dietrich Wersich zum persönlichen Herausforderer zu machen. Es wusste doch jeder, dass er keine Chance hat, Bürgermeister zu werden. Die CDU hätte stärker mit einem Team antreten sollen. Auch stärker die Flügel betonen müssen. Sie muss ja nicht den liberalen Großstadtkurs verlassen. Aber was hätte dagegen gesprochen, einen profilierten Konservativen klare Worte zum Thema Innere Sicherheit sagen zu lassen? Stattdessen war alles auf Wersich fokussiert, der auf seinen Plakaten besinnlich ins Nirgendwo guckt. Womit ich nicht sagen will, dass er schlecht aufgetreten ist. Er hat das sehr solide gemacht. Wenn er aber unter dem Ahlhaus-Ergebnis landet, wird in der CDU der Richtungskampf zwischen Liberalen und Konservativen wieder aufbrechen.

Wie erklärt sich der Einbruch der CDU von 27 Prozent im November auf 18 Prozent in jüngeren Umfragen?

Wiesendahl: Sie wird jetzt verstärkt von zwei Seiten in die Mangel genommen. Auf der einen Seite die AfD, auf der anderen die FDP ...

... die ja doch eine Art Aufholjagd hingelegt und ihre Werte verdoppelt hat.

Wiesendahl: Ja, was aber kaum daran liegt, dass sie mit Frau Suding ihre Covergirl-Masche von 2011 wiederholt, diese auf „Gala“-Niveau herabgesunkene Kampagne der Spitzenkandidatin.

Woran dann?

Wiesendahl: Das hängt damit zusammen, dass viele klassische CDU-Wähler aus taktischen Gründen der FDP ins Parlament helfen wollen. Das sind diejenigen, denen vor Rot-Grün graust. Sie wählen nicht FDP wegen der Inhalte oder wegen schriller Plakate – sondern nur mit dem Ziel, Rot-Grün zu verhindern.

Die Grünen scheinen großes Abschreckungspotenzial zu haben. Scholz spielt auch damit und droht den Bürgerlichen mit den Grünen, um seine Mehrheit zu verteidigen.

Wiesendahl: Ja, dass das funktioniert, ist erstaunlich. Das sind zum Teil noch Erinnerungsstücke, die gar nicht mehr aktuell sind. Da geht es um grüne Energie- und Verkehrspolitik und auch um die Elbvertiefung. Da werden die Grünen als Störenfriede der Wirtschaft wahrgenommen, was gegenwärtig nicht mehr der Fall ist. Eher muss man sich ja wundern, dass es den Grünen nicht peinlich ist, so inhaltsleer in den Wahlkampf zu ziehen.

Sie tragen weiße Eisbärenkostüme und plakatieren Hunde mit Schleifen.

Wiesendahl: Und ihre Spitzenkandidaten mit dem Slogan „Mit Hamburg, für Hamburg“. Das ist schon ein Niedergang dieser Partei. Ein bemerkenswerter Substanzverlust der früher mal kessen Grünen.

Bei den anderen heißt es „Hamburg kann mehr“, „Hamburg weiter vorn“ oder „Hamburg gibt die Richtung vor“. Da könnte man auch gleich „Hamburg, Stadt im Norden“ als Wahlslogan nehmen – wie früher die Ironiker von DIE PARTEI.

Wiesendahl: Die Plakate sind fast alle minimalistisch, die Kampagnen angelegt als Unterforderung der Intelligenz von Wählern. In dem Umfeld muss man den Machern der SPD-Plakate noch ein Kompliment machen. Sie haben in der winterlichen Tristesse mit der Mischung aus Minimalismus, auffälligen Farben und guten Fotos noch die beste Arbeit abgeliefert.

Welche Rolle spielt das Wahlrecht? Es sind ja erstaunlich wenige Kandidaten mit individuellen Kampagnen aufgefallen – obwohl das jetzt ja möglich und sinnvoll wäre.

Wiesendahl: Ich war auch überrascht, dass es so wenig originelle individuelle Werbung der Kandidaten gab. Das Wahlrecht lässt das ja nicht nur zu, sondern verlangt es im Grunde, denn wir können ja nun jeden einzelnen Kandidaten individuell wählen. Aber da gibt es leider Absprachen in den Parteien, das zu unterlaufen. Deswegen wird den Wählern gar nicht das ganze Kandidatenangebot vorgestellt.

Muss man einen neuen Minusrekord bei der Wahlbeteiligung befürchten?

Wiesendahl: Das kann angesichts dieser Ausgangslage durchaus passieren.

Was kann man überhaupt noch tun, um die Menschen wieder stärker für Wahlen zu begeistern?

Wiesendahl: Wir brauchen andere Wahlen und einen anderen Wahlkampf. Ich plädiere dafür, dass wir in Hamburg den Bürgermeister direkt wählen. Zeitlich getrennt von der Bürgerschaftswahl, so wie es in Bayern gemacht wird. Außerdem sollten wir die Bürgerschaft verkleinern und zu einem Profi-Parlament machen. Und wir sollten unsere Abgeordneten auf Politiker-Akademien schicken, um bestimme Zertifikate zu erwerben. Es kann jeder Politiker werden, auch ohne spezielle Qualifikationen und Eignungen, die man aber für die Arbeit braucht. Eine Professionalisierung der Parlamente ist nötig, weil die Sachverhalte immer komplexer werden, über die unsere Abgeordneten zu entscheiden haben.

So holen Sie bildungsferne Schichten aber auch nicht zurück an die Urnen.

Wiesendahl: Das stimmt, deswegen müssen Politiker sich noch stärker als bisher auch im Wahlkampf um die Viertel kümmern, in denen kaum noch gewählt wird. Man muss diese Menschen wieder hereinholen in die politische Diskussion. Das bedarf einer besonderen Anstrengung.

Was sind die wichtigsten Themen der kommenden Jahre?

Wiesendahl: Die Stadt muss das Wachstum verkraften, das noch zunehmen wird. Da geht es nicht nur um Flüchtlinge, sondern auch um die Zuwanderung von jungen Leute und Fachkräften. Hamburg braucht weiter neuen Wohnraum. Außerdem muss neben dem Hafen die Kreativbranche gestärkt und die Medienbranche erhalten werden.

Hat Olaf Scholz Chancen, 2017 Kanzlerkandidat zu werden, wenn seine SPD erneut gut abschneidet?

Wiesendahl: Nicht unbedingt er selbst. Ich glaube aber, dass die Methode Scholz eine größere Rolle spielen wird, also: eine berechenbare Middle-of-the-Road-Politik, eher mit Blick auf die Wirtschaft als auf die Hartz-IV-Empfänger. Scholz selbst ist zwar ein Political Animal durch und durch. Aber er hat eine so hohe Selbstkontrolle, dass der Mensch Olaf Scholz so gut wie nicht sichtbar wird. Damit fehlt ihm emotionale Kompetenz. Die erwartet man in der Bundespolitik aber mehr als in einer Stadt wie Hamburg.